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Deutsche Hochschuljugend nach der Katastrophe

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Langsam tun sich nun doch die Fenster auf; nach langer Abgeschlossenheit, auf spärliche Nachrichtenquellen angewiesen, können wir wieder freier in die Umwelt blicken. Karger als um andere Länder ist unser Wissen um die jetzigen inneren Verhältnisse Deutschlands. Hier fließen nur mangelhafte Nachrichtenquellen. Um so lieber nimmt man von gelegentlichen ausführlichen Zeitungsberichten Akt, die auf dem Umweg über England oder Amerika zu uns kommen. So veröffentlichte dieser Tage die Londoner Wochenschrift „T h e New Statesman and Nation“ (Nr. 772) einen aufschlußreichen Aufsatz über die materielle und seelische Lage der Hochschuljugend Deutschlands. Wir folgen im nachstehenden diesen vielsagenden # Darlegungen.

Das Kernproblem an den wiedereröffneten Universitäten in Deutschland ist: Verpflegung, Unterbringung der Studenten, Hörsäle und Lehrbücher. Das Vorhandene genügt nicht, um die Zahl derer, die studieren wollen, zu befriedigen. Als Höchstgrenze für die Zulassungen wurde zum Beispiel der Universität Göttin gen von der Kontrollkommission die Zahl von 3500 Studenten genehmigt, aber schon zwei Wcdien vor der Eröffnung des Semesters waren 7000 Inskrip-t:“onsansuchen eingebracht worden. In Bonn v ar es das Doppelte der gestatteten Anzahl. Das bedeutet natürlich, daß ein Großteil der jungen Leute abgewiesen werden muß. Während ehemalig n Mitgliedern der SS., SD. und Gestapo auf keinen Fall eine Studienerlaubnis erteilt wird, haben ehemalige Wehrmachtsangehörige, Kriegswitwen und Kriegswaisen den Vorzug. Natürlich werden auch solche, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, und diejenigen, die ihr Studium schon früher begonnen hatten und es daher bald zu Ende bringen können, aufgenommen. Weibliche Studenten dürfen vorläufig nicht inskribieren, außer sie gehören einer der erwähnten Kategorien an. Der Erfolg dieser strengen Maßnahmen ist, daß tausende junge Leute von Universität zu Universität wandern, um ein Unterkommen zu finden, und ein gewaltiges intellektuelles Proletariat darstellen, dessen Zukunft unbestimmt ist.

Auch die Aufgenommenen sind erst am Anfang der Lösung ihrer Probleme. Die nicht den Sommer am Land als Landarbeiter verbracht haben, sind unterernährt. Viele haben kein Geld nnd kein Einkommen. Daher ist der Werkstudent wieder ein ganz normaler Typ des Universitätslebens. Da aber nur wenig Fabriken und Geschäfte vorhanden sind, versuchen sie Arbeit auf die verschiedenste Art zu bekommen. Einige werden von den Alliierten als Mechaniker, Werkstattgehilfen, als Dolmetscher oder Bürohilfskräfte verwendet. Andere finden Schüler in der Stadt oder in den Dörfern der näheren Umgebung. Ein Geschäft, wo Studenten gelehrt wird, Spielzeuge zu machen, eine Wäscherei und andere kleine Versuche mit kooperativem Charakter helfen die Kluft zu überbrücken. Diese jungen Menschen, die nahezu ihre ganze Jugend in der Wehrmacht verbracht haben, sind begierig zu lernen und zu arbeiten. Und das ist vielleicht das bedeutendste Novum an dieser neuen Generation, daß diese jungen Menschen wissen, ■ daß sie nichts können und sie nicht imstande sind, ihr Leben zu meistern. Sie haben großen Respekt vor technischem und gelerntem Können und wollen es unbedingt auch für sich erwerben. Das ist aber hauptsächlich eine praktische Einstellung, weit entfernt noch von dem geistigen und intellektuellen Hunger früherer Generationen. In Bonn wollten z. B. von der ersten sich meldenden Serie 1200 Medizin studieren, 12 inskribierten an der juridischen Fakultät. Die nur lernen wollen, um zu lernen, sind in der Minderheit. Das ist aber überhaupt ein europäisches und kein rein deutsches Problem. Die tiefverwurzelte Abneigung dieser neuen Studentengeneration gegen geistige und intellektuelle Wissensgebiete findet im Zusammenbruch des deutschen Denkens ein lautes Echo. Ideen und absolute Werte sind in den Augen dieser Jungen zusammengebrochen. Erzieher wie Smend und Nole in Göttingen oder Spranger in Berlin sind sich dieser Leere vollkommen bewußt. „Nicht der Nationalsozialismus ist unser Problem. Von dieser Sorte sind nur mehr wenige übrig. Es ist der Nihilismus“, sagte einer der Führer der Bekenntniskirche in Berlin. Und es ist wirklich so. Diese Tausende glauben weder an Hitler noch an die nationalsozialistische Ideenlehre, weder an Hitlers Krieg, noch an seine Versprechungen und Ausblicke. Aber sie wollen und können im Augenblick auch an nichts anderes glauben. Die Wirklichkeit hat Hitler unweigerlich in ihrer eigenen Erfahrung als unfähig erklärt oder wie einer im Ruhrgebiet sagte: „Der Nazismus wurde praktisch aus uns herausgeprügelt.“ Aber zurücfi bleibt nur ein Gefühl der Leere.

Die Kirche hat versucht, diesen Abgrund zu füllen. Die theologischen Fakultäten haben genügend Studenten; die Kirchen sind voll, auch mit jungen Menschen. Katholische undevangelischejugend-bewegungen beginnen ihre Arbeit und es zeigen sich jetzt die Früchte der Arbeit jener Pastoren und Priester, die mutig, illegal ihre Bewegung im Dritten Reich fortführten. Im Vergleich ist aber die Bedeutung dieser christlichen Jugendverbände und christlichen Erziehung auf den Universitäten nicht sehr groß und findet ihren Anhang hauptsächlich in Schulen, bei Arbeitern, Landarbeitern und in den Schichten der unteren Mittelklasse. Eine christliche Renaissance ist bei den jungen Menschen zu bemerken, aber es ist hauptsächlich ein religiöses und kein politisches Kraftfeld, das sich auch auf eine gewisse Schichte der Bevölkerung begrenzt. Die politischen Parteien haben auf den Universitäten bis jetzt noch keine besonderen Funktionen. Es ist im Gegenteil so, daß die Universitätsprofessoren, die die nationalsozialistische Ära überlebt haben, hauptsächlich unpolitische Männer sind. Es sind jene Menschen, die ihr besonderes Geistesgebiet gegen den Einfluß des Nazismus verteidigt haben. Smends Bücher und Vorlesungen während der letzten zehn Jahre, Jaspers Philosophie, Sprangers Lehrtätigkeit, von Beckenraths Versuche in Bonn — das sind alles typische Beispiele. Nach Ansicht der Erzieher würde es auch gar nicht günstig sein, der deutschen Jugend im Anfangsstadium der demokratischen Evolution einfache oder künstliche politische Ideen aufzunötigen. Die Bedingungen für solch einen Versuch sind so ungünstig als möglich.

Die wirtschaftliche und soziale Not ist das Wichtigste. Die neue Demokratie ist vorläufig noch ein Wort. Worte oder Propaganda haben ihre Gewalt verloren, sie führen nur dazu, das Mißtrauen zu vergrößern. Demokratie bedeutet vorläufig in Deutschland nur etwas Negatives, nämlich, um es beim Namen zu nennen, das Verschwinden der Nazis. Die überzeugenden Beweise, wie eine wirkliche demokratische Kontrolle, Zugang zur freien Welt, Verantwortung und Selbstbestimmungsrecht, fehlen vorläufig noch ganz. Das erhält da politische Vakuum in der Jugend. Sie können noch nicht die Bildung eines neuen Staates oder einer neuen Gesellschaft in ihrer Formung erkennen. Der Wunsch nach einer Idee, nach irgend etwas Starkem außerhalb ihres Selbst, ist in vielen diesen Studenten sehr heftig. Vorläufig haben die meisten nichts gefunden als einen rohen und verzweifelten Realismus, der sie an berufsmäßige Qualifikationen und die offensichtliche Zweckmäßigkeit der persönlichen Erfahrung zu glauben lehrt — eine gefährliche Täuschung. Daher sind sich auch die neuen Leiter des Universitätslebens, unter ihnen so hervorragende Persönlichkeiten .wie Dr. Grimme — preußischer Minister für Erziehung bis 1933 —, der Notwendigkeit der Schaffung einer durch und durch demokratischen und freien Gesellschaft als vor-stechendster erzieherischer Faktor vollkommen bewußt. Kein Lehren der Demokratie wird von Erfolg begleitet sein, solange die demokratischen Grundrechte fehlen und solange alle Instrumente einer autoritären Regierung und die vollkommene Abschließung von der Außenwelt, die täglich zu erneuernde Erfahrung darstellen. Es ist klar, daß die Nachsaat des .Dritten Reiches eine schwere Belastung dieser neuen Erziehungsanstrengungen ist. Daher beginnen diese neuen Männer und ihre Studenten mit dem, was vorhanden ist, mit berufsmäßigen Studentenklubs und Vereinigungen, mit einem geistig einseitigen Verlangen nach rein erzieherischen und schulmäßigen Verbesserungen, mit Wiederauffrischungskursen, Gesellschaften, in denen die Debatte über Berufsfragen gepflogen wird, und Lehrkreisen. Da weder die Ideen noch die Form der neuen Demokratie vorläufig bekannt sind, bleibt nur die Wissenschaft und das Erlernen der demokratischen Methoden von Grund auf. In diesen überbelegten, kaum möblierten Räumen und Löchern in Berlin und Göttingen, in den Ruinen von Hamburg und Bonn und in den schmalen alten Straßen von Heidelberg und Marburg gewöhnen sich kleine Gruppen von- jungen Menschen allmählich an die freie Diskussion, an die Debatte, an die Anerkenntnis des Standpunktes eines anderen.

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