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Kurzschlub in der Mittelschule

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Jede Zeit stellt der Erziehung ihre Aufgaben zur Erreichung der perennen Ziele. Die Gegenwart ist im Begriff, den bedeutsamsten Faktor der Erziehung, die Familie, zu verlieren; daher die Bemühungen, die Erziehungsfunktion der in ungewöhnlicher Breite brüchig gewordenen Familie auf andere Faktoren zu übertragen, vor allem auf die Schule, sie in eine „Erziehungsschule“ umzuformen. Es steht hier nicht in Rede, wieweit sie das mit ihren Mitteln, deren wesentlichstes doch der Unterricht, also eine Form der Lehre, ist, erreichen kann. Wohl aber verdient die andere einschlägige“ Aufgabe, die Erziehung zur Familie, dieser bisher kaum bemerkte Aspekt, alle Beachtung.

Sie stellt sich als neue zu den bisherigen Teilaufgaben der Heimat-, der vaterländischen, der volkstreuen, der weltbürgerlichen Erziehung. Man wird es den bisherigen Lehrplänen nicht verargen, wenn in ihnen das Wort und der Begriff „Familie“ nicht vorkommt, da wir erst seit wenigen Jahren über ihre Problematik sprechen. Sicher darf die Bedeutung der Familie als Kulturfunktion fürderhin in keiner allgemeinbildenden und den der Allgemeinbildung dienenden Fächern der Fachschulen übergangen werden. Die eigentliche Stätte der Erziehung zur Familie sind jedoch die weiblichen Anstalten. Die österreichische Schulstatistik 1954/55 zeigt, welchen Umfang das weibliche Studium angenommen hat. Es stehen — ohne Pflicht- und Berufsschulen — 66.000 männlichen 54.000 weibliche Studierende gegenüber (die Zahlen abgerundet). An den Mittelschulen ist das Verhältris 49.000 Schüler zu 29.000 Schülerinnen; von den letzten besuchen das Gymnasium 2000, die Realschule 1000, die Frauenoberschule 4000, das Mädchenrealgymnasium 22.000, das mit drei Vierteln aller Besucherinnen die anderen Schultypen weit hinter sich läßt.

Es wäre zu erwarten, daß an eigens für Mädchen bestimmten Schulen eine weibliche Erziehung vermittelt werde. Das ist in der Frauenoberschule zwar nicht durchgängig, aber doch weitgehend der Fall. Aber gerade an der frequentiertesten Schule, dem Mädchenrealgymnasium, ist nicht einmal das Minimum davon vorgesehen. Der Lehrplan ist — abgesehen vom Ausfall der darstellenden Geometrie in den zwei obersten Klassen, der Aufnahme von weiblichen Handarbeiten in den ersten zwei Klassen (!) und der eigenen Gestaltung der Leibesübungen — wortwörtlich vom Lehrplan des Knabenrealgymnasiums abgeschrieben. Man mag es immerhin den Verfassern des Lehrplanes von 1908, dem Jahr der Errichtung dieser Type, zugute halten, daß, wenn schon das natürliche Gespür mangelte, die Psychologie der Reifezeit noch keine wissenschaftliche Darstellung gefunden hatte; aber seltsam bleibt bei der sonstigen Reformfreudigkeit doch, daß dieser Zustand sich fast ein halbes Jahrhundert weiterschleppte.

Eine organische Erziehung wird an die natürlichen Gegebenheiten des zu Erziehenden anknüpfen. Voraussetzung für einen Erfolg in der Bildung ist immer nur, was dem jeweiligen Stand der leiblichen und seelischen Kräfte angemessen ist. Darin liegt die Kunst des Lehrplans, sowohl die Eigengesetzlichkeit der Bildungsgüter in Rechnung zu stellen wie auch die Entwicklungsstufen der Sechs-, Sieben-bis Achtzehnjährigen und die Differenzen der männlichen oder der weiblichen Eigenart zu beachten. Es bestätigt sich immer wieder, daß die Natur den Bereich der Frau viel mehr im Personenhaften als im rein Sachlichen, im greifbar Konkreten gegenüber dem begrifflich Abstrakten anweist, daß das Gemüt, nicht der kalte Verstand, die instinkthafte Intuition, weniger die planende Systematik ihr Handeln leiten. Sie ist zentral auf das Mütterliche, Pflegliche, Mitmenschliche ausgerichtet, nicht weil die Männerkultur ihr diese Bestimmung aufgedrückt hat, wie die Emanzipationsbewegung meinte, sondern aus Natur. Der Biologe A. Carrel (Nobelpreisträger 1912) sagte einmal: „Jede Zelle des Organismus der Frau ist gesättigt mit den spezifischen Stoffen der Hormone. Die physiologischen Gesetze der Natur sind ebenso unerbittlich wie diejenigen der Sternenwelt; man kann nicht einfach mensch-

liche Wünsche an Stelle der Gesetze stenen.“

Das spezifische Weibliche äußert sich vom kindlichen Puppenspiel an in den besonderen Interessen aller folgenden Phasen in der überdurchschnittlichen Breite, mag es auch bei einzelnen hie und da nicht in Erscheinung treten; auch die Schule hat es mit dem Durchschnitt zu tun.

Der Blick auf die geschlechtsbedingte Entwicklung macht eine weitere Groteske der Lehrpläne ersichtlich. Die weibliche Reifung geht der männlichen durchschnittlich ein bis zwei Jahre voraus (das proportionale Verhältnis ändert sich nicht, wenn in der Gegenwart die Reifungsvorgänge im allgemeinen um zwei Jahre früher erfolgen). Die Reifung beschränkt sich nicht auf die leiblichen Organe, sondern sie bringt, entsprechend der leiblichseelischen Einheit, jene gewaltige seelische Umwandlung hervor, deren charakteristische Merkmale die Vorpubertät oder negative Phase ist, weiter die eigentliche Pubertät mit der Wendung vom Realismus zum Inneren der eigenen Person, der Rückschläge der intelligenten und damit der schulischen Leistungen, aber auch die Zugänglichkeit für lebensentscheidende Werthaltungen. All das überkommt den Jungen auch,aber eben ein bis zwei Jahre später. Greifen wir aus dem Entwicklungsverlauf ein typisches Beispiel heraus: Der zwölfjährige Schüler steht auf dem Höhepunkt des Realismus, ist selbstsicher der Außenwelt zugewandt, lernwillig und leicht führbar; das gleichaltrige Mädchen befindet sich in der negativen Phase, die sich vorbereitende leiblich-seelische Wandlung macht sie unsicher, ihr Inneres beginnt sie zu beschäftigen, was sie aber andern gegenüber verschließt, sie ist schnippisch, wohl auch widerborstig, die Schulleistungen sind unregelmäßig; das meiste, was Buben interessiert, ist für sie belanglos, und was sie interessieren könnte, wird ihr beim Zuschnitt des Bildungsgutes auf den männlichen Typus nicht geboten. Für die Lehrpläne gibt es nur Zwölfjährige, nicht Knaben und Mädchen. Diese Nivellierung von männlicher und weiblicher Bildung mutet einen an, wie wenn eines Tages dekretiert würde: „Von morgen an haben alle der Altersklassen 10 bis 18 ohne Unterschied des Geschlechts den gleichen Anzug zu tragen; zudem werden für alle desselben Jahrgangs die gleichen Maße vorgeschrieben.“

' Die lehrplanmäßige Gleichschaltung ist dort, besonders unangemessen, wo die geschlechtsmäßigen Unterschiede stärker hervortreten, also unmittelbar vor dem Eintritt in die Reifezeit über die nächsten Jahre hindurch. Sie betrifft somit auch die letzten Jahre der Pflichtschule.

Die Forderung geschlechtsspezifischer Lehrpläne muß sich mit einem Einwand auseinandersetzen, der von der Berufsseite erhoben wird. In Oesterreich sind unter den dreieinhalb Millionen Berufstätigen 38 Prozent Frauen, davon nur ein geringer Teil auf ausgesprochen weiblichen Posten (die Quote dieser verbessert sich in den an eine Mittelschulreife gebundenen Berufen). Die Argumentation geht nun dahin: Wenn so viele Stellen von Frauen besetzt sind, die „eigentlich“ für den Mann vorgesehen sind, so müsse auch die Vorbildung analog sein. Insbesondere hätte die Hochschule auf der für alle gleichen Mittelschulbildung zu beharren. — Die Situation ist indessen mit der Feststellung der 38 Prozent berufstätigen Frauen nicht erschöpfend gekennzeichnet; es ist vielmehr dazu zu beachten, daß unter ihnen ein Drittel verheiratet ist und ein weiterer, sicher ansehnlicher Hundertsatz auf die Ehe wartet, also in Beruf und Familie steht oder stehen wird.

Die soziologische Struktur hat sich seit der Jahrhundertwende erheblich verändert. Die Gegenwart kommt tatsächlich um das Problem der Doppelbildung der Frau für Beruf und Familie nicht herum. Bringt das aber nicht eine unerträgliche Belastung der weiblichen Studierenden mit sich? Keineswegs! In Wirklichkeit liegt nur ein Scheinproblem vor. Es geht nur um die e i n e Aufgabe, die gleiche Bildung unter dem Aspekt der männlichen oder der weiblichen Eigenart zu gestalten. Wir haben bereits dafür das Beispiel in der Frauenoberschule, die mit ihrem Bildungsgang grundsätzlich den Zutritt zur Hochschule ermöglicht.

Es kann nicht der Zweck dieser Ausführungen sein, mit unerbetenen Vorschlägen der von Unterrichtsminister Dr. Drimmel angekündigten Reform der Lehrpläne, die in Auswirkung der umfassenden Schulgesetzgebung erfolgen soll, vorzugreifen. Es darf nur die Erwartung ausgesprochen werden, daß die Ansprüche der weiblichen Bildung in jeder weiblichen Schultype Erfüllung finden. Das bedeutet nicht bloß den Zusatz einiger Fächer, wie es jetzt beispielsweise durch Aufnahme von weiblicher Handarbeit und Hauswirtschaft als unverbindliche Hebungen möglich ist, nicht ein Aggregat von untereinander beziehungslosen oder nur äußerlich verbundenen Fächern, sondern den organischen Aufbau einer Schule, in der alle Gegenstände ihren möglichen Beitrag zum Bild der Frau, das heißt in diesem Zusammenhang der gebildeten Frau, leisten, einer Schule, die „S t i 1“ hat.

Mißt man diese Bildung am Kanon der traditionellen Unterrichtsgegenstände — wenn es schon zu kühn scheint, etwas völlig Neues zu schaffen —; so verlangt die gestellte Aufgabe eine Umstrukturierung nach Auswahl des Lehrgutes und die Beachtung der Entwicklungsstufen mit ihren Haltungen und Interessen. Jede Phase bietet den Anlagen ihre besondere Entwicklungsmöglichkeit. Auch die Bildung des hauswirtschaftlichen Sinnes wird verspätet, wenn die vornehmlich doch theoretische Einstellung der Obermittelschule die praktische überformt hat, wenn Interesse, Freude und Einstellung avJf das Wirken im Haushalt dahin sind und wenn dazu das Haus zur Schonung der studienbeladenen Mädchen es versäumt, sie früh sich hauswirtschaftlich betätigen zu lassen. Was nützen der künftigen Hausfrau Kenntnisse der Differential- und Integralrechnung, der alt-kretischen Kultur und der Lyrik Catulls, wenn sie nicht ökonomisch einzukaufen, zu' kochen, Wäsche auszubessern und die Wohnung heimelig zu gestalten versteht? Darf man sich wundern, daß Differenzen in den Ehen gerade hier so häufig ihre Wurzel haben und mit zur Krisis der Familie beitragen? Gewiß holt manche Frau unter dem Zwang der neuen Lage die verspätete Hausbildung nach, aber bildet sie nicht die Ausnahme? Und ist schon der Frau die natürliche Bestimmung in der Ehe nicht beschieden, erfreut sie sich nicht, ausgerüstet mit hauswirtschaftlichen Fähigkeiten, eines freien, unabhängigen Daseins, das jenes bis ins kleinste abhängige des Junggesellen weit hinter sich läßt?

Lehrpläne machen noch nicht Erziehung. Die in ihnen enthaltenen Anweisungen müssen vom Erzieher in die lebendige Tatwirklichkeit umgesetzt werden, er muß von ihrem Geist beseelt sein. Dazu müssen aber die Lehrpläne aus einem Geist geboren sein, der über den Weg einer echt weiblichen Bildung zur Erziehung für die Familie hinleitet.

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