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Ist das humanistische Gymnasium eine Standesschule?

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Die Bedrohung des humanistischen Gymnasiums hat mit der Beseitigung des Nationalsozialismus nicht aufgehört. Während der Nationalsozialismus dem Gymnasium wegen seines klassisch-humanistischen, allgemein - menschlichen Geistesund Bildungsideals den Vorwurf der Erziehung zur Weltfremdheit und des Mangels an „völkischer Ausrichtung“ machte, erhebt sich jetzt von anderer Seite ein ganz anderer Einwand: Das Gymnasium sei eine „Standesschule“.

Der Vorwurf besagt, daß das Gymnasium, wenn es im alten Sinne humanistisches Gymnasium ist, also das Lateinische von der ersten, das Griechische von der dritten Klasse an unterrichtet, die Entscheidung über das künftige Spezialstudium und den Lebensberuf in eine zu frühe Zeit verlegt, in das zehnte Lebensjahr, wo diese Entscheidung noch nicht nach dem Prinzip der Auslese der Geeignetsten, der Bevorzugung der Fähigsten, der Feststellung der speziellen ' Begabung geschieht, sondern auf Grund der Familientradition, der wirtschaftlichen Lage und der sozialen Aspirationen, die mit der Berufswahl verbunden sind. Die Entscheidung über den künftigen Beruf wird eine Sache des Standes, und zwar eines dwrch soziale und wirtschaftliche Stellung bevorzugten Standes, und nicht eine Sache der Auslese und der erwiesenen Eignung.

Das Lehrplanideal, das den Vertretern dieser Auffassung vorschwebt, ist eine bis zwm vierzehnten Lebensjahr in vier Klassen einheitlich geführte Unt e.r-mittelschule, auf die dann, als Obermittelschule, sich die Spezialausbildung für den Beruf (Gewerbeschule, Wirtschaftsschule, Handelsschule) oder die spezielle Vorbildung für das Hochschulstudium (humanistisches Gymnasium, Realschule) aufbaut. So ist die gleichmäßige Erziehung und Ausbildung der Schüler aller Gesellschaftsschichten während der ganzen schulpflichtigen Zeit bis zu dem Augenblick gewährleistet, wo die Begabung, Eignung und Neigung zum Weiterstudium in dieser oder jener Richtung sich klar herausstellt; die Gefahr einer Beeinflussung der Berufswahl durch „Standesinteressen“ ist nahezu ausgeschlossen. Jedem, auch dem ärmsten und sozial ungünstig gestellten Schüler, ist der Weg zu allen Arten des Studiums erschlossen, wenn er auch bis zum vierzehnten Lebensjahr nur die Schulbildung erhalten hat, die er, auf Grund seiner Schulpflicht, ohnehin erhalten muß.

Der Haupteinwand, der gegen diese, an und *für sich sehr einnehmende Argumentation, erhoben werden muß, ist der, daß das Lehrziel des humanistischen Gymnasiums, die völlige, nicht nur praktische, sondern auch logisch-sprachdenkerisch geschulte Kenntnis der klassischen Sprachen und die Aneignung der großen Kulturwerte der klassischen Literatur, nicht erreicht werden kann, wenn man den Beginn der Erlernung der klassischen Sprachen in ein so spätes Lebensalter hinausschiebt. Wenn man nicht die für reines „Lernmaterial“, für rein gedächtnismäßiges Lernen aufnahmefähigeren früheren Jugendjahre zur Aneignung des rein Sprachlichen verwendet, damit man in den eindrucksfähigen, für die eigentliche Geistes- und Charakterformung entscheidenden späteren Jahren (15 bis 18) schon die Werte der, antiken Literatur und Kunst auf das empfängliche Gemüt der Jugend einwirken lss e n kann, wenn die Schüler noch mit den Lücken im Wortschatze und den Schwierigkeiten der Formenlehre zu kämpfen haben in einem Alter, wo sie schon, durch das rein Technische des Übersetzens ungestört, fließend größere Abschnitte lesen und die Schönheiten Homers und Virgils, die sittliche Hoheit und weise Menschlichkeit Piatos, die kritische Menschenkenntnis und die plastische Schilderungskunst eines Tacitus auf sich wirken lassen sollten — dann wird man nie das Lehrziel des Gymna.siums erreichen. Die Schüler werden vielleicht, schlecht und echt, etwas Latein und

Griechisch erlernt haben, aber sie werden keine humanistische und klassische Bildung empfangen haben. Sie werden mit 18 Jahren so weit sein, daß sie dort anfangen könnten, wo sie mit 15 Jahren hätten anfangen müssen, nämlich: nach der Bewältigung des Sprachlichen, nunmehr dem Inhaltlichen* * der klassischen Bildung sich zuzuwenden.

Man könnte einwenden: Es gibt auch andere sprachliche, literarische und geistesgeschichtliche Studiengebiete, auf denen die Erlernung der dazu nötigen Sprachen überhaupt erst auf der Hochschule geschieht. Der Orientalist, der Turkologe, der Afrika-nist bringt die Kenntnis des Syrischen, Arabischen, Persischen, Türkischen usw. nicht schon von der Mittelschule mit, und doch wird von ihm erwartet (und er entspricht auch dieser Erwartung), daß er in den Universitätsjahren nicht nur die betreffenden Sprachen, sondern auch die Kenntnis der betreffenden Literaturen sich aneignet. Warum sollte das für die klassischen Studien nicht möglich' sein, warum sollte man den Beginn der Beschäftigung mit den klassischen Sprachen — wenn schon nicht überhaupt erst auf die Hochschule, so doch wenigstens auf das 15. Lebensjahr verschieben können?

Die Antwort kann nur lauten: Selbst, wenn es möglich wäre, es wäre nicht wünschenswert. Denn die Beschäftigung mit den Werten der klassischen Kulturwelt ist nicht ein Spezialstudium wie irgend ein anderes, das den Zweck hat, Spezialisten, Forscher, eventuell Popularisatoren für ein besonderes Wissenschaftsgebiet zu erziehen. Sie soll diese Werte in ihrer den Geist und den Charakter bildenden, pädagogischen Wirkung nutzbar machen für die Formung unserer eigenen Kultur zu wahrer Hurnanität, zur Ehrfurcht vor dem allgemein Menschlichen, dem zeitlos Gültigen, dem Klassisch -Vorbildlichen.

Aber es ist auch nicht möglich; Denn daß der Orientalist, der Turkologe in wenigen Jahren sich Sprache und Literatur seines Wissensgebietes anzueignen vermag, das verdankt er eben dem Umstände, daß er das Erlernen einer fremden, wissenschaftlich zu durchdringenden Sprache, die Methode des Erfassens und Begreifens frem-. der Sprach- und Kulturformen selbst schon an der lateinischen Sprache erlernt und an der Erlernung des Griechischen weiter geübt hat, und daß ihn die Beschäftigung mit der klassischen Kultur in dem geistig entscheidenden Alter die Aufgeschlossenheit für die Aufnahme und Bewertung fremder, von der unsrigen verschiedener Kulturen verliehen hat.

Aus dieser Erwägung, mehr noch: aus dieser Erfahrung heraus ist man auch in Sowjetrußland seit dem Anfang der dreißiger Jahre wieder zum Schultypus des Gymnasiums, zur Neuerrichtung von Gymnasien als Vorschulen für das sprachlich - geistesgeschichtliche Studienfach zurückgekehrt, nachdem, man ursprünglich das Lateinische und das Griechische, als Spezialstudium, an die Hochschule verwiesen hatte. Man hat eben praktisch erfahren, daß die Erlernung von Sprachen auf wissenschaftlicher Grundlage und das Eindringen in die Literatur und Kultur eines anderen Volkes oder Zeitalters auf der Hochschule nur für den möglich ist, der in der Mittelschule durch die Propädeutik des lateinischen und griechischen Sprachunterrichtes und des Kulturerlebnisses der klassischen Antike hindurchgegangen ist.' Schon deshalb müßte die klassisch-humanistische Bildung in die Mittelschule verlegt werden, wenn man nur ihre Notwendigkeit als Vorbildung zu jedem Spezialstudium im sprachlich-geistesgeschichtlichem Bereiche im Auge hätte, auch abgesehen von ihrem allgemeinen Bildungswert.

Ein Eingeständnis dieser Tatsachen liegt auch darin, daß die Vertreter einer möglichst einheitlichen Gestaltung der Untermittelschule den Lateinunterricht doch nicht erst in der fünften Klasse, das heißt in der schon spezialisierten Obermittelschule, beginnen lassen wollen, sondern in der dritten Klasse. Das ist zuviel und zuwenig zugleich. Zuviel, weil auf diese Weise die Schüler entweder doch schon in der Untermittelschule sich entscheiden müssen, ob sie sich dem sprachlich-humanistischen Studium zuwenden wollen, oder aber auf jeden Fall — in vielen Fällen also unnötigerweise — mit zwei Jahren Lateinunterricht belastet werden, wovon der spätere Gewerbeschüler zum Beispiel wenig Vorteil hat, wenn sich darauf nicht eine Beschäftigung mit der lateinischen Literatur aufbaut — zuwenig, weil die Erreichung des Lehrziels auch so nicht sichergestellt ist, wenn die für die Spracherlernung wichtigsten Jahre (10 bis 12) für das Lateinische verlorengehen und das Griechische überhaupt erst zu einer Zeit begonnen wird, wo schon der pädagogisch geeignetste Zeitpunkt für das Lesen der Autoren gekommen ist. Es bleibt nichts anderes übrig, will man im Gymnasium das pädagogische Ziel erreichen, zu dessen Verwirklichung das Gymnasium eben bestimmt ist, so muß man auch, wenigstens in den wesentlichen Zügen, bei dem SchultypAs bleiben, zu dem sich das Gymnasium in jahrhundertelanger konsequenter Entwicklung gestaltet hat, muß das Gymnasium die Form bewahren, die allein seinen Sinn zu erfüllen vermag.

Muß es deshalb eine „Standesschule“ werden — oder bleiben? Es ist nie eine solche gewesen. Denn immer schon haben arme, talentvolle und strebsame Schüler der untersten sozialen Schichten den Aufstieg zu den höchsten Stellen der Wissenschaft und des geistigen Lebens auf dem Wege über das Gymnasium gefunden, auch schon in früheren Zeiten wo der Besuch des Gymnasiums noch eine materielle Belastung bedeutete. Denn immer fanden sich sozial denkende Menschen oder Einrichtungen, die mit Stipendien, Schulgeldbefreiungen und Freiplätzen dieses Studium auch dem Unbemittelten ermöglichten. Um so mehr ist es heute eine Selbstverständlichkeit, daß das Gymnasialstudium jedem fähigen Schüler offenstehen muß, ohne Rücksicht auf die materielle Lage seiner Eltern. Und das ist heute faktisch ja auch stets der Fall. Es wird aber auch nicht deshalb der Vorwurf der „Standesschule“ gegen das Gymnasium erhoben, sondern, weil angeblich die Entscheidung über Studienrichtung und Berufswahl durch diesen Schultypus in einen zu frühen Zeitpunkt verlegt wird. Richtig ist, daß damit die Notwendigkeit gegeben ist, die Entscheidung darüber, ob das Kind klassisch-humanistische Bildung empfangen soll, schon im zehntefi Lebensjahre zu fällen. Dadurch allein aber wird das Gymnasium noch nicht zur Standesschule. Der Denkfehler- der bei diesem Urteil begangen wird, ist der, daß~man die klassische, humanistische Bildung als die alleinige Vorschule zu einer bestimmten sozialen Stellung und zu den Intelligenzberufen im allgemeinen betrachtet und nicht als die Vorbildung zu den sprachlich-geisteswissenschaftlichen Studien im besonderen, und als eine Schule humanistischer Bildung, humanistischen Geistes im allgemeinen, diie in der Durchdringung unserer Kultur mit diesem Geiste ihren inneren Zweck und ihren eigentlichen Sinn hat. Schuld daran ist großenteils das B e-rechtigungswesen. Solange man nicht den Verschiedenen anderen Fachschulen, Realschulen usw weitestgehend dieselbe Möglichkeit zum Ubergang auf das ihrem Fache entsprechende Hochschulstudium einräumt, solange es sich vor allem nicht im Bewußtsein der Allgemeinheit durchgesetzt hat, daß der “Weg zur Technik zum Beispiel viel eher über diese Schultypen führt als über das humanistische Gymnasium, solange wird der Andrang zum Gymnasium andauern, zugleidi aber auch das Bestreben, das Gymnasium seines eigentlich humanistischen Charakters zu entkleiden und die eigentliche Erfüllung der Lehraufgabe des Gymnasiums auf die höheren Klassen zu verschieben, und dies eben darum, weil man (gerade in den sozial ungünstig gestellten Schichten) in der Gymnasialbildung ein Mittel zum sozialen Aufstieg im allgemeinen sieht, ohne aber dabei das spezielle Lehrziel des Gymnasiums anzustreben. Gerade das Festhalten am strikt humanistischen Charakter Hes Gymnasiums kann allein den Erfolg . bringen, daß nur diejenigen Schüler das Gymnasium besuchen, denen es wirklich um sprachlich-geisteswissenschaftliche Schulung, um klassische humanistische Bildung geht • und nicht nur um die zu den Intelligenzberufen berechtigende Reifeprüfung. Die Berechtigung für alle die Studienfächer, für welche die humanistische Bildung nicht besonders erfordert wird — sollte weitestgehend auch den anderen Schultypen verliehen werden. Daß die Wahl des Schultypus auf diese Weise in einen Zeitpunkt vorverlegt werden muß, 3er nicht mit der Beendigung des schulpflichtigen Alters zusammenfällt, daran ist nichts zu ändern, wenn wirklich das Lehrziel des Gymnasiums verwirklicht werden soll. Wenn aber das Berechtigurigs-wesen in einer den berechtigten Ansprüchen der anderen Schultypen Rechnung tragenden Weise gelöst wird und das Gymnasium, von den Elementen entlastet, die es nicht der humanistischen Bildung wegen, sondern nur um der Reifeprüfung willen besuchen, seinen reinen humanistischen Charakter wiedergewinnt, dann ist nichts an diesem Schultypus, was ihn zur „Standesschule“ machen würde.

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