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Etwas sein oder etwas haben?

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Bildung ist ein wichtiges politisches Instrument. „Bildung für alle" ist zum Schlagwort von Demokratisierungsbestrebungen geworden; der Begriff selbst ist heute allerdings nicht mehr in sich schlüssig.

Die Unsicherheit darüber, was gegenwärtig als Bildungsbegriff und Bildungsideal wirksam ist, wird gerade dort deutlich, wo Ansprüche und Wertungen einer dem humanistischen Bildungsideal im Humboldtschen Sinn verpflichteten Auffassung mit den Anforderungen unserer ökonomisch ausgerichteten Leistungsgesellschaft zusammenstoßen.

Dieser Konflikt kristallisiert sich besonders in der Schule, sie isttein Gradmesser bildungspolitischer und bildungstheoretischer Tendenzen und Wandlungen. Die Unterrichtsgestaltung und die gesetzten Lehrziele spiegeln das jeweilige Konzept von Bildung wider. Deutlich läßt es sich am Konkurrenzstreit und wechselnden Anteil der geistes- und naturwissenschaftlichen Fächer ablesen.

Die Grundlage des Gymnasiums war seiner historischen Entwicklung nach die Dominanz der sprachlich-historischen Bildung. Ziel dieses humanistischen Erziehungsprogrammes war es, durch eine höhere Allgemeinbildung die Jugend zu einer humanen Gesinnung hinzuführen. Eine wichtige Erziehungsrolle spielten dabei die klassischen Sprachen und ihre Literatur.

Diesem Anspruch entsprach die Stundentafel. Im Jahr 1849 verteilten sich etwa im achtklassigen Gymnasium 143 Wochenstunden auf die Fächer Religion, alte Sprachen und Muttersprache, Geschichte, Geographie und Philosophische Propädeutik (die sogenannten Humaniora), 22 Wochenstunden auf Mathematik und 21 auf Naturgeschichte und Physik (die sogenannten Realia).

1909 machte der Anteil der Humaniora im Gymnasium 180 Wochenstunden aus, der Anteil der Realia 44 Wochenstunden.

Ab 1946 betrug das Verhältnis 196 Wochenstunden für die Humaniora und 60 Stunden für die Realia. Kunstpflege und Musik waren bis zur vierten Klasse obligatorisch, ab der fünften Klasse bestand Wahlmöglichkeit.

Heute ist das Verhältnis folgendes: In den allgemeinbildenden höheren Schulen (AHS) verteilen sich in der Unterstufe des Gymnasiums 69 Wochenstunden auf die Humaniora und 30 Stunden auf die Realia. In der Oberstufe entfallen beim humanistischen Gymnasium 82 Wochenstunden auf die Humaniora und 31 auf die Realia. Beim realistischen Gymnasium liegt dieses Verhältnis bei 68 Wochenstunden für die Humaniora und 45 für die Realia. Für die musischen Fächer im engeren Sinn - Bildnerische und Musikerziehung - stehen in der Unterstufe 15 Wochenstunden zur Verfügung. Dazu kommen 4 Wochenstunden für Werkerziehung.

In der Oberstufe des humanistischen, neusprachlichen und realistischen Gymnasiums sind'Musik- und Bildnerische Erziehung bis zur sechsten Klasse mit je zwei Wochenstunden im Pflichtfachkanon vertreten. Ab der siebenten Klasse muß der Schüler zwischen Musik und bildender Kunst wählen.

Durch die ungeheure Ausweitung der Naturwissenschaften hat der (stundenmäßige) Umfang der ehemaligen Realia zugenommen. Manche Kreise wollen den Lateinunterricht einschränken oder gar beseitigen. In der Bewertung des Fächerkanons wird deutlich, daß die humane Bildung an Boden verliert. Wäre es doch undenkbar, daß der Schüler zwischen Chemie und Physik wählen muß, wie er dies bei Musik und Bildnerischer Erziehung zu tun gezwungen ist.

Der Schulunterricht bemüht sich heute vor allem um Praxisbezogenheit. Ubersehen wird dabei vielfach, daß das, was heute aktuell ist, morgen schon veraltet sein kann. Der Schüler erhält also ein Paket an Informationen, das zum Teil zeitlich nur sehr begrenzt verwertbar ist. Mit dem rasanten „Fortschritt" der Naturwissenschaften kann der Lehrplan in den meisten Fällen nicht Schritt halten, geographische Fakten, die heute gültig sind, sind oft morgen bereits überholt.

Die musische Bildung rangiert dagegen eher unter „Freizeitbeschäftigung": Spielmusik, Bühnenspiel, Instrumentalmusik und Chor, oft als Zeugen des guten Willens berufen, die musische Bildung in größerem Ausmaß zu berücksichtigen, sind freilich nur Freigegenstände. Dazu kommt die schon genannte Pflichtwahl zwischen Musik und Bildnerischer Erziehung.

Sinkende Schülerzahlen, eine begrenzte Ausstattung und ein geringer zeitlicher Spielraum lassen die musische Seite zu kurz kommen. Im Zeitalter der Fitness-Eiferer dominiert auch in der Schule der Sport. Wandertage und Skikurse sind obligatorisch, Lehrausgänge dagegen, die zum Besuch von Museen, Ausstellungen, aber auch Betrieben und Verkehrsgärten genutzt werden können, bleiben dem Interesse der Lehrer überlassen.

Daß der Bildungsauftrag, den die Schule heute zu erfüllen hat, in einem Dilemma steckt, ist auch den Verantwortlichen der höchsten Schulbehörde bewußt. „Auch in den neuesten Lehrplänen halten wir daran fest, daß es ohne Kontinuität, das heißt Verständnis für die Grundlagen der europäischen Kultur, keine Bildung geben kann. Dem steht aber der Trend zur Instrumentalisierung im Unterricht entgegen, der durch die von den Fachwissenschaften herkommende Aufgliederung noch verstärkt wird", präzisiert Sektionschef Leo Leitner, für das allgemeinbildende Schulwesen im Unterrichtsministerium zuständig, diesen Konflikt um den Bildungsbegriff. „Die schulische Erziehung läuft Gefahr, zu einer bloßen Vermittlung von Fertigkeiten zu verflachen", sieht er die Konsequenz dieser Entwicklung.

Wie weit wird der „höhere" Auftrag zur Persönlichkeitsbildung in der Schule heute tatsächlich erfüllt? Vieles erweist sich letzten Endes als „Alibihandlung". Was wirklich zählt, ist das „Faktenwissen", das möglichst ohne Umwege praktisch verwertbar sein soll (es jedoch in der Berufspraxis meist nicht ist).

In diese Richtung zielt auch die von den meisten Eltern erwartete Rolle der Schule als Erziehungsinstitution: Sie soll vor allem die Weichen für eine spätere Karriere stellen.

Der Interessenkonflikt, wie er sich im Schulunterricht manifestiert, reicht allerdings noch tiefer. Er ist die krisenhafte Erscheinung dessen, was heute Bildung überhaupt sein soll und sein kann. Das humanistische Bildungsideal in der Humboldtschen Prägung hat seine Verbindlichkeit eingebüßt, da die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr die kulturtragende Schicht darstellt. Mit der notwendigen Entrümpelung des Lehrplans wurde allerdings Wesentliches eliminiert, um dafür „Tagesaktualitäten" in den Lehrplan zu stopfen. Damit ist aber Bildung auf technische Handhabung, Fertigkeit und Verfügbarkeit von Information zusammengeschrumpft; sie wird sich damit, gemessen an ihrem „Marktwert" im wörtlich-ökonomischen Sinn, selbst zur Norm.

Etwas anders liegt das Problem bei den berufsbildenden Schulen. Hier zielt der gesetzlich verankerte Bildungsauftrag von vornherein auf die volle Berufsausbildung und das Erreichen der Hochschulreife. In den musisch-kunsthandwerklichen Fachbereichen liegt der Hauptakzent dementsprechend auf der musischen Ausbildung. Bei den kaufmännischen Schulen dagegen verteilen sich nach dem Lehrplan 1978 für die fünfjährigen Handelsakademien 41 Wochenstunden auf die Humaniora (Religion, Deutsch, Geschichte und Sozialkunde, Geographie und Wirtschaftskunde, Staatsbürgerkunde) und 27 Wochenstunden auf die lebenden Fremdsprachen. An den höheren Lehranstalten für wirtschaftliche Frauenberufe kommen Musik- und Bildnerische Erziehung, Philosophie und Psychologie dazu. Bühnenspiel, Chorgesang und das Musizieren in Kapellen sind Freigegenstände.

Auf die Unterrepräsentation der musisch-geistes wissenschaftliehen Fächer angesprochen, betont Sektionschef Werner John, Leiter der Sektion berufsbildendes Schulwesen im Unterrichtsministerium, daß „die Denk-, Kommunikations- und Kritikfähigkeit in den Sach- und Fachbereichen erlernt werden soll, die der Schüler später braucht". Sein besonderes Anliegen ist es, in Ausbildung und Erziehung vor allem auf Flexibilität und Mobilität Gewicht zu legen, um künftigen Arbeitsmarktentwicklungen schon jetzt Rechnung zu tragen.

Im (Lippenbekenntnis zu einer Erziehung unter ^humanistischen" Vorzeichen einig wissen sich auch die Schulsprecher der drei Großparteien: Bildungsziel sei allemal die Selbstfindung der jungen Leute und die Sinnerfüllung ihres Lebens — was immer das sein mag.

Durchaus zufrieden mit der musischen Erziehung, wie sie derzeit an Österreichs Schulen geboten wird, zeigt sich der Schulsprecher der ÖVP, Landeshauptmann- Stellvertreter Hans Katschthaler. Und merkt positiv an, daß heute neben der Bildung des Herzens und des Geistes wieder die „Bildung der Hand", also das Handwerkliche, zu Ehren käme.

Der Schulsprecher der SPÖ, Hof rat Hermann Schnell, fordert hingegen noch mehr Praxisnähe im Unterricht. „Was wir dringend in den AHS brauchen, ist eine stärkere Einbeziehung unserer Arbeits- und Berufswelt und gesellschaftlicher Probleme, wie etwa das der Gastarbeiter oder der Dritten Welt."

Gegen die Behandlung der musischen Fächer als Stiefkinder der Bildungspolitik zieht Klubobmann Friedrich Peter, Schulsprecher der FPÖ, zu Feld: „Gegen die Herabwürdigung der kulturellen Bildung zu unbedeutenden Nebenfächern treten wir für einen allgemeinen Förderunterricht in den künstlerischen Fächern ein."

Und was sagen die Schulpraktiker aus ihrer Erfahrung zum Problem „Bildung"? Dr. Strausz, Direktor des Akademischen Gymnasiums in Wien, einer traditionsreichen Pflegestätte humanistischer Bildung, ortet keine Verschiebung des Bildungsideals in Richtung auf den Fetisch unserer Wohlstandsgesellschaft, die ökonomische Nützlichkeit. „Die geistes- und naturwissenschaftlichen Fächer sind im Gegenteil viel enger als früher verflochten, Physik etwa ist jetzt mehr in den philosophischen Unterricht einbezogen", berichtet er aus seiner Unterrichtspraxis. '

Weit mehr Gewicht auf die berufliche Vor- und Ausbildung legen hingegen die Eltern der Kinder, die das 1. Bundesgymnasium und Bundesrealgymnasium in Wien 21 besuchen. Wie Direktor Wall.betont, ist das spätere Fortkommen ihrer Sprößlinge für die Eltern das Wichtigste. So finden sich für künstlerische Freifächer kaum Interessenten.

Während Akademiker und Beamte ihren Nachwuchs großteils in die AHS schicken, ist der Prozentsatz bei den Arbeiterfamilien nur von zehn auf 25 Prozent gestiegen. Und als die Aufsteigerchance schlechthin gilt hier immer noch der Beruf des Ingenieurs - rund 50 Prozent dieser Schüler wechseln nach der vierten Klasse AHS in eine technische Schule.

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