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Die musische Bildung bleibt Stiefkind

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Rund 36 Prozent der Zehn- bis Vierzehnjährigen spielen ein Musikinstrument, 90 Prozent der Jugendlichen sammeln Tonbänder, Kassetten oder Schallplatten, in ganz Österreich existieren fast zweitausend Blasorchester mit über 60.000 Amateurmusikern. Für Österreich eine Selbstverständlichkeit, möchte man meinen. Tatsächlich aber ist diese große musikalische Aktivität in allen Schichten und Altersstufen der österreichischen Bevölkerung beinahe ein Wunder. Im Musikland Österreich nämlich, in dem kaum ein Tag ohne musikalische Veranstaltung vergeht und fast zu jeder Tages- und Nachtzeit Musik aller Sparten aus dem Radio er- ‘tönt, wird der Musikunterricht innerund außerhalb der Schule sehr stiefmütterlich behandelt.

Dabei fängt es bei den Kleinen so gut an. Die Kindergärtnerinnen in Österreich erhalten eine vorbildliche musikerzieherische Ausbildung: zwei Stunden pro Woche, vier Jahre lang, ist Musik Pflichtfach; daneben sind zwei Jahre Gitarreunterricht, später Blockflöte- oder Bambusflötenunterricht ebenfalls Pflicht. Als Freifächer stehen Instrumentenbau, musikalisch-rhythmische Erziehung, Chorsingen, Orchesterspiel und das „Orff- Instrumentarium“ - Xylophone, Trommeln, Pauken und Schellen, Instrumente, die Kinder leicht und spielerisch erlernen können - im Lehrplan. Wie Prof. Christine Gauster berichtet, besuchen die meisten Kindergartenanwärterinnen diese Freifacher. Die praktische Auswertung ist unterschiedlich. Das Ausmaß der Musikerziehung und die Ausstattung mit Instrumenten hängt in erster Linie von der Leitung eines Kindergartens ab. Elterninitiativen können jedoch einiges durchsetzen.

A ber nicht nur durch den Kindergarten wird ein musikalischer Grundstein im Kindesalter gelegt. Das ständige Musikangebot aus den Massenmedien und aus der übrigen Umwelt prägt die kindliche Musikalität, die viel breiter ist, als allgemein bekannt ist. Dementsprechend sollte die Musikerziehung auf der Umwelterfahrung des Kindes aufbauen, meint der Musiksoziologe Prof. Kurt Blaukopf.

Nach diesem vielversprechenden Anfang geschieht dann durch viele Jahre gar nichts - oder so gut wie nichts. Wie anders sollte man eine Musikstunde pro Woche bezeichnen? In der Lehrerausbildung ist Musik kein Pflichtfach und für Volksschullehrer gibt es auch keine Fachprüfung. So kommt es, daß viele Lehrer an den Volksschulen den Musikunterricht irgendwie über die Runden bringen, meist mit Singen. Die guten Voraussetzungen, die die Kinder mitbringen, verkümmern.

Die Musik-Ausbildung der Volksschullehrer wäre also besonders wichtig. Wissenschaftliche Forschungen aus der ČSSR, aus Ungarn und den USA haben die pädagogische Bedeutung des Musikunterrichts auch für die geistige und physische Entwicklung der Kinder belegt; er bringt positive Auswirkungen auf die Lern- und Konzentrationsfähigkeit, aber auch auf die Entspannungsfähigkeit und somit auf die gesamte körperliche Gesundheit.

In der Hauptschule sieht es nicht viel besser aus. Zwar gibt es für Hauptschullehrer eine Fachausbildung, aber das Interesse für die Fachprüfung in Musik ist sehr gering (niedrige Stundenanzahl, niedriger gesellschaftlicher Prestigewert). Die fehlenden Musiklehrer werden durch Lehrer aus anderen Fächern ersetzt, die sich dieser Bürde nebenbei entledigen. Für den Instrumentalunterricht fehlen die Räumlichkeiten.

Im A-Zug sind in der ersten Klasse zwei Musikstunden pro Woche vorgeschrieben, dann eine; im B-Zug haben die Schüler in der ersten und zweiten Klasse zwei Wochenstun- gen Musik und dann nur eine. Noch krasser ist ein Vergleich des „musischen Blocks“ (Musik und bildnerische Erziehung) aller vier Hauptschuljahre: 5 Musikstunden und 16 Stunden für bildnerische Erziehung im A-Zug stehen 6 Musikstunden und 20 Stunden für bildnerische Erziehung im B-Zug pro Woche gegenüber. Grob vereinfacht würde das bedeuten: je weniger ein Schüler geeignet ist, in der Leistungsgesellschaft zu bestehen, desto eher wird ihm eine Beschäftigung mit musischen Bereichen zugestanden.

Etwas besser ist die Situation an den Gymnasien und Realgymnasien. Bis auf die vierte Klasse gibt es hier durchgehend zwei Wochenstunden Musikunterricht, in der siebenten Klasse müssen sich die Schüler dann zwischen Musik oder Zeichnen entscheiden. Mangel an geprüften Musikprofessoren besteht auch hier. Mein begegnet ihm durch den Einsatz von Lehrern mit Sonderverträgen oder von teilgeprüften Lehrern, die nur Musik unterrichten. Musikprofessoren erhalten ihre musikalische Fachausbildung an der Hochschule für Musik. Dort gibt es einen (nicht deklarierten) Numerus clausus. Von den 60 Studenten, die sich im Vorjahr angemeldet haben, wurden nur 35 aufgenommen.

Prof. Eberhard Würzl meint, noch mindestens zehn weitere hätten die Voraussetzungen für eine Aufnahme an der Hochschule mitgebracht. Aber die Aufnahmsprüfung testet nicht nur die Begabung, sondern auch die Vorkenntnisse. Und diese sind, auf Grund der mangelnden Ausbildung an den Schulen, eine Frage der (immer weniger werdenden) Privatlehrer, also des Geldes. Immerhin haben 60 Prozent der Jugendlichen, die kein Instrument spielen, angegeben, daß sie sehr gerne eines erlernen würden. Niedriggehalten wird die Zahl der Musikstudenten - trotz des ständig steigenden Bedarfs an Lehrern - aus Ersparnisgründen: es fehlen die Räumlichkeiten und die Lehrkräfte für die Ausbildung.

An den Musikschulen dasselbe Dilemma: zuwenig Platz, zuwenig Lehrer und auch hier ein versteckter Numerus clausus. Wenn ein Schüler nicht genügend „leistet“, muß er gehen; es warten schon viele andere auf seinen Platz, der zwar billig oder sogar gratis, aber nicht gesetzlich geregelt ist. Alle Musikschulen in Österreich, auch das Konservatorium der Stadt Wien, sind privat geführt. Der Bedarf an Musikschulen ist in den Bundesländern besonders hoch. Während im städtischen Bereich Pop- und Beatgruppen vorherrschen, die ihre Instrumente bei Freunden erlernen können, sind die Instrumente für Volksmusik ohne Hilfe eines ausgebildeten Lehrers kaum erlernbar.

Es ist erstaunlich, wie sich das Image der Blasmusik geändert hat. Während sie früher nur von „älteren Herren“ praktiziert wurde, nimmt heute das Interesse der Jugend immer mehr zu. In Niederösterreich gibt es rund 15.000 Blasmusikkapellen, die zu rund 60 Prozent aus Jugendlichen bestehen. Prof. Blauköpf meint, man müßte sich endlich von der Unterscheidung in klassische (= wertvolle) und leichte (= weniger wertvolle) Musik lösen. Viel wesentlicher sei die Unterscheidung zwischen jenen, die Musik nur konsumieren, und solchen, die sie (gleich in welcher Sparte) ausüben.

Die zentrale Frage des Musikunterrichts ist die Einführung von zwei Musikstunden pro Woche an allen Schultypen. Darüber sind die Musiklehrer, Fachinspektoren, Soziologen und auch der österreichische Komponistenbund einig. Ebenso einig sind sie sich darüber, daß die Einführung der Fünftagewoche in der Schule die Musikerziehung weiter gefährden könnte. In einem Memorandum hat die Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst klar darauf hingewiesen: zu befürchten ist eine Einschränkung der musikalischen Aktivitäten der Schüler in ihrer Freizeit, da an den Schulen Räume und Lehrer fehlen und auch ein Besuch der Musikschulen nicht mehr möglich wäre, sowie eine weitere Reduzierung der Stundenanzahl.

Die Erhöhung der Anzahl der Musikstunden ist zweifellos eine finanzielle Frage, vor allem aber ist sie eine kulturpolitische. Eine Gesellschaft, die die Erziehung der Kinder in erster Linie ihrem Leistungsdenken anpaßt und dabei ihre schöpferische Entwicklung außer acht läßt, kann kaum glaubwürdig von sich behaupten, ein echtes Interesse an ihrer heranwach- senden Jugend zu haben.

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