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Vorbild - oder Warnung?

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Auf Einladung des Wiener Pädagogischen Instituts sprach ein berufener Fachmann, Professor Geißler (Hamburg), im Vortragssaal der Bundesrealschule (Radetzkygasse) über die Entwicklung der Lehrerbildung in Deutschland. Der Vortrag wurde in Anbetracht der Wichtigkeit der Sache mit Spannung erwartet; er hat den Anwesenden viel gegeben; eine endgültige Lösung dieser vielumstrittenen Frage dürfte er für unsere Verhältnisse nicht bedeutet haben.

Der zur Erörterung stehende Sachverhalt ist bekannt: Die Anpassung der Lehrerbildung an die Forderungen der fortschreitenden Wissenschaft, der sich wandelnden Gesellschaft und Schulwelt. Der Streitpunkt ist vor allem der, ob und wieweit die Neugestaltung der Lehrerbildung eine „Akademisierung“ erfordert. In Deutschland hat zum ersten Male die Weimarer Verfassung bestimmt, daß die gesamte Lehrerbildung in Zukunft nach akademischen Grundsätzen zu erfolgen habe. Eine bundeseinheitliche Durchführung dieser Bestimmung kam nicht zustande. Nach 1945 wurde von neuem der Versuch aufgenommen, die Lehrerbildung zu aka-demisieren. Dabei wurden drei Wege beschritten: Die Wiedererweckung der Lehrerakademien, der Ausbau ausgesprochener pädagogischer Hochschulen, die Eingliederung des Lehrerbildungsinstituts in eine Universität. Gemeinsam ist allen diesen Formen die Trennung von Allgemeinbildung und Fachbildung Das Streben geht zur Hochschule hin. Weithin versucht man, die Akademien zu Rumpfhochschulen mit eigenem Senat, mit Lehr- und Lernfreiheit, mit eigenen Forschungseinrichtungen zu erweitern. In Hamburg insbesondere wurde der Versuch der vollen Verquickung der Lehrerbildungsstätte mit der Hochschule gemacht. Dort werden nahezu

1000 Anwärter des Volksschullehramtes mit den Bewerbern für das Lehramt an höheren Schulen zum großen Teil gemeinsam ausgebildet.

Prof. Geißler hat sich selber dahin geäußert, daß ihm sachliche Stellungnahmen vor allem kritischer Art sehr willkommen seien. Wir wollen ihm diesen Wunsch erfüllen. Wir wollen gleich vorwegnehmen, daß die Hansastadt Hamburg mit ihrer Weltaufgeschlossenheit, mit ihrem begrenzten einheitlichen und auch bildungsmäßig gleichheitlich gestalteten Wohn- und Einzugsgebiet ein so günstiges Versuchsfeld darstellt, wie es sonstwo kaum anzutreffen ist. Dort fällt vor allem das Bedenken weg, daß durch die akademische Ausbildung gewisse Kreise für den Lehrernachwuchs ausscheiden, die bisher beste Kandidaten gestellt haben: die ausgesprochen ländlichen Kreise.

Bei näherer Einschau in dieses neue Lehrerbildungswesen tauchen eine Reihe von Fragen auf. Widerspricht die geplante übertriebene Akademisierung der Lehrerbildung nicht den Grundsätzen der Zielgemäßheit, der Sachgerechtigkeit, der Ganzheitserfassung, der Gemeinschaftsbildung, der Forderung nach weltanschaulicher Verwurzelung, des Vorrangs der Erziehung vor dem bloßen Unterrichten?

Bestimmend für alles menschliche Schaffen und Wirken, vor allem für die Berufsausbildung, kann doch nur das anzustrebende Ziel sein. Ziel der Lehrerbildung kann nur die Befähigung zur möglichst zweckmäßigen Gesamterziehung des heranwachsenden Geschlechts sein. Der eigentliche Erziehungsgegenstand ist das Kind, das werdende Volk. Daher sollte auch die Richtungsfrage sein: Was ist dem Kinde wirklich gemäß, was dient wirklich dem Volk? Dies scheint nun in keiner Weise das wirklich Treibende beim Drängen nach Hinaufhebung des Vollcsschul-lchrers und seiner Bildung auf die akademische Ebene zu sein. Es sind doch vor allem Bestrebungen nach gesellschaftlicher Angleichung, nach wirtschaftlicher Besserstellung, die hier im Vordergrund stehen. Daß das Standespolitische auch beim hamburgischen Lehrerbildungsunternehmen eine große Rolle spielt, ersieht man daraus, daß es als ein großer Fortschritt gebucht wird, wie sich hier in Hamburg die Anwärter der verschiedensten Lehrämter gleichsam auf derselben Ebene bewegen. Droht hier aber nicht eine Art „Selbstverzweckung“ des Lehrers und des Lehrerstandes? Der Lehrer scheint nicht so sehr für das Kind und das Volk da zu sein als für sich selber. Im übrigen verstehen auch wir, daß der Lehrer nicht auf derselben Bildungs- und Gesellschaftsstufe stehenbleiben muß wie bisher. Aber wird die Einebnung aller gesellschaftlichen Unterschiede wirklich zum Wohle des Volksganzen sein und zur sozialen Befriedung führen? Wird die neue Bildung den Lehrer nicht dem Kind und dem Volk entfremden? Verliert der Lehrer nicht an Wesen, was er an Wissen gewinnt?

Als einen besonderen Vorzug des neuen Weges preist man die Abhebung der Allgemeinbildung von der beruflichen Schulung. Der Kandidat macht zuerst die acht oder neun Jahre irgendeiner höheren Schule durch und erhält dann die eigentliche zwei- oder dreijährige berufliche Ausbildung. Man will so die Lehrerbildung auf einer möglichst breiten Bildungsgrundlage aufbauen- Doch näher beschaut, offenbart sich hier ein Rückfall in die verpönte Intellektualisierung, deren schädliche vereinseitigende Wirkung man seit einem halben Jahrhundert nicht genug geißeln konnte. Schon die höheren Schulen ersticken fast unter der Ueber-fülle des mitzuteilenden Wissensstoffes. Die darauffolgende pädagogische Fachausbildung hat auch einen ausgesprochenen Zug ins Verstandesmäßige. Man will so eine höhere geistige Reife sichern, ein Bewußtmachen des pädagogischen Tuns, eine solche Selbständigkeit des Denkens, daß man persönlich zu allen Fragen Stellung nehmen kann. Ist das nicht ein utopistischer Traum? Bei wievielen Vollakademikern wurde bisher dieser ideale Zustand erreicht? Zur vollen geistigen Reife und Selbständigkeit gehört noch etwas mehr als bloß verstandesmäßige Ab-richtung. Es gehört dazu auch Willenszucht und Gemütsveredlung, es gehört dazu eine ganzheitliche Ausbildung des jungen Menschen, eine solche umfassende Selbsteroberung und Selbstbeherrschung, wie sie durch bloße Wissens-mehrung und philosophische Erörterung nicht erreichbar ist.

Dazu würden eher den Weg bahnen die sechsjährigen Lehrerakademien, wie sie traditionsbewußte und doch fortschrittlich gesinnte Lehrerbildner in Oesterreich geplant hab2n. Durch sechs Jahre hindurch würde der Kandidat nach einem sorgfältig abgewogenen Plan in einer pädagogisch ausgerichteten Umwelt allmählich und stetig in seinen Beruf hineinwachsen. Allgemeinbildung und Berufsbildung wären aufeinander abgestimmt, würden einander befruchten und verlebendigen. Durch reichliche Pflege der musischen Fächer und durch gemeinsame gesellschaftliche und religiöse Veranstaltungen würde der Gesamtmensch viel tiefer und allseitiger erfaßt und geformt und frühzeitig genug durchgebildet werden. Bietet eine solche sechsjährige Lehrerakademie nicht einen viel natürlicheren Wachstumsboden für das Heranreifen einer für ihr künftiges Wirken umfassend vorbereiteten und innerlich ausgeglichenen Lehrerpersönlichkeit als der Hochschulbetrieb mit seiner Un-persönlichkeit, seiner Lebensferne?

Eine der sichersten gesellschaftskundlichen Erkenntnisse des letzten Halbjahrhunderts ist die wiedergewonnene Einsicht in den Wert der Gemeinschaft für die volle Menschwerdung. Man hat auch erkannt, daß Kollektivismus, daß Masse mit echter Gemeinschaft nichts zu tun haben, daß sie vielmehr der Tod der Gemeinschaft sind, da sie im Grunde nur potenzierten Individualismus, eben nur Massenegoismus darstellen. Das Rettende, das Heilende, das Bildende liegt vor allem in der kleinen überschaubaren, erlebbaren Gemeinschaft. In solchen Kkingesdhmgen ist schon immifhems Menschentum “-herangewachsen, aus ihnen Sind schon immer verjüngende Kräfte für das Ganze aufgebröchen. Wenn wir nun aber hören, daß in Hamburg fast 1000 Anwärter des Lehrerberufs mit Tausenden anderer Söhne und Töchter der Alma Mater zusammeneeschart sind, daß ein Jahrgang mehr als 300 Kandidaten faßt, so kann man sich kaum vorstellen, daß hier wahre Gemeinschaft entstehen oder wie die für das künftige Wirken so wertvollen persönlichen Bindungen sich entfalten können.

Wir haben noch ein ernsteres Bedenken gegen die Akademisierung und Zentralisierung der Lehrerbildung. Bedrohlicher noch für die Art des künftigen Lehrernachwuchses als die Kind-und Volksentfremdung, als die intellektua-listische Einseitigkeit, als Einzelgängerei, ist die Gefährdung des Hauptabsehens, um das es bei der Lehrerausbildung geht, um die Gefährdung der Erziehung der Erzieher. Diese ist nämlich bei dieser neuen Lehrerformung ganz in Frage gestellt. Kaufmännisch ausgedrückt könnte man sagen: „Die eigentliche Erziehung wird überhaupt nicht gefragt.“ Es scheinen dafür keinerlei besondere Vorkehrungen getroffen zu werden. Dieses also, das Wichtigste und Schwierigste, die Charakterformung, die wesentliche Bildung, ohne die alle andere Bildung nur Scheintum ist, soll sich allem, Anschein nach wie von selber vollziehen, soll sich so wie ein Nebenprodukt einstellen.

Es kam uns im vorausgehenden in erster Linie auf die kritische Durchleuchtung des Geistes des neuen Bildungsplanes an. Fast noch fragwürdiger würde sich das Neue wohl erweisen, wenn wir es auf die schulpraktische Seite hin überprüfen würden, wenn wir im einzelnen untersuchen würden, wie die künftigen Lehrer plan-und zweckmäßig auf ihre Wirksamkeit in der Schulstube vorbereitet werden. Der Einblick, den uns Prof. Geißler in dieses Gebiet gegeben hat, ist nicht gerade darnach angetan, uns sonderlich von der Höherwertigkeit der neuen Einführung in den Schuldienst zu überzeugen. Es soll ohne das gehen, was wir bisher als ein Kernstück der praktischen Vorbereitung des Lehrers betrachtet haben: ohne Liebungsschule, ohne Uebungsschullehrer im eigentlichen Sinne. Das eine wissen wir: Unsere Uebung hat im allgemeinen sehr zufriedenstellende Ergebnisse gezeitigt. Eindeutiges Zeugnis legt dafür die Tatsache ab, daß unsere Junglehrer in Deutschland ein sehr begehrter Artikel sind und dort nicht nur nach der methodischen, sondern auch nach der kenntnismäßigen Seite vollauf entsprechen.

Die neue deutsche Lehrerbildung — Vorbild oder Warnung? Wir können nun antworten. Sie kann uns Vorbild sein als ernstes Bestreben, die Grundschullehrer mit all dem geistigen Rüstzeug auszustatten, das sie befähigen kann, den höheren Anforderungen der Zeit mit gesteigerter Leistungsfähigkeit zu begegnen. Eine Warnung erwächst allerdings aus der Frage, ob man dabei in der von der Sache gebotenen Grenze bleibt und nicht, wie es schon einmal dem deutschen Genius liegt, über das Maß und Ziel hinausstrebt, ob man nicht mit geringerem Aufwand dasselbe Ziel erreichen, vielleicht es noch besser erreichen könnte. Hat diese Ueberforderung nicht auch das unangenehme Nebenergebnis herbeigeführt, daß die Nachfrage nach dem Lehrerberuf abnimmt? Man streitet es ab. Aber das klingt nicht ganz glaubhaft, wenn man hört, daß in Hamburg von den jungen Menschen, die das Volksschullehreramt anstreben, nicht weniger als 84 Prozent Frauen sind, die bekanntlich den Lehrberuf oft nur aus Verlegenheit oder als etwas Vorläufiges ergreifen.

Noch ein letztes Wort. Selbst wenn die sich eben in Deutschland anbahnende Lehrerbildung für die dortige Welt die entsprechende wäre, so müßte das noch nicht heißen, daß sich Oesterreich von Deutschland ins Schlepptau nehmen lassen müßte. Auch bisher hat Oesterreich aus seinem angestammten Wesen und seinem geschichtlichen Werden bodenständige Kulturformen und Gesellschaftseinrichtungen geschaffen, die in manchem dem Fremden sogar überlegen sind. Dies trifft gerade für das österreichische Volksbildungswesen zu. Wir haben unsere eigene Volks- und Haupt- und Mittelschule, die sich durchaus mit den entsprechenden deutschen Schulformen messen können. Warum nicht auch hier etwas Arteigenes heranwachsen lassen? Sollen die; beiden Formen der Lehrerbildung, die deutsche und die österreichische, im edlen Wettstreit um die Palme ringen, welche von beiden den tüchtigsten und berufsfreudigsten Volksbildner zu erstellen vermag. Wir schließen mit der versöhnlichen Feststellung, in die der verehrte Hamburger Kollege seinen Vortrag hat ausklingen lassen: „Letztlich kommt es auch hier nicht auf die Organisationsformen an; die Hauptsache ist, daß so oder so unserem Volke berufsfreudige und fachtüchtige Lehrer und Erzieher erwachsen.“

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