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Explosionen der Wissenschaft

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Zwei Phänomene stehen am Beginn der siebziger Jahre im geistigen Bereich zur Bewältigung. Noch mit dem Schlagwort von der „Explosion“ verzerrt, haben sie schon in den vergangenen Jahren konkrete Gestalt angenommen — die „Bildungsexplosion“ und die „Informationsexplosion“. Ihre Bewältigung wird das Gesicht des neuen Jahrzehnts nicht unwesentlich beeinflussen. Hierbei wird eines vom andern nicht zu trennen sein.

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Zwei Phänomene stehen am Beginn der siebziger Jahre im geistigen Bereich zur Bewältigung. Noch mit dem Schlagwort von der „Explosion“ verzerrt, haben sie schon in den vergangenen Jahren konkrete Gestalt angenommen — die „Bildungsexplosion“ und die „Informationsexplosion“. Ihre Bewältigung wird das Gesicht des neuen Jahrzehnts nicht unwesentlich beeinflussen. Hierbei wird eines vom andern nicht zu trennen sein.

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Die Ausgangsbasis ist bekannt: Wissenschaft und Technik wirken so stark auf unser Leben ein, daß in allen seinen Bereichen besser ausgebildete Menschen gebraucht werden. Diese Erkenntnis hat sich so weitgehend durchgesetzt, daß immer mehr Eltern ihren Kindern diese bessere Bildung und Ausbildung zukommen lassen wollen. Gleichzeitig aber erkennen die Absolventen aller Schulen, daß das, was ihnen hier mitgegeben werden konnte, nie mehr für ein ganzes Leben ausreichen kann — daß das Lernen kontinuierlich weiterlaufen muß. Zur selben Zeit ertönt der Ruf, mehr Anteil zu nehmen am öffentlichen Leben — die Demokratie erst richtig Tatsache werden zu lassen. Teilnahme am öffentlichen Leben aber setzt die Kenntnis seiner Gesetzlichkeit voraus, setzt die ständige Information voraus über alles, was in der Gesellschaft vor sich geht — und hierfür ist wieder eine lebendige, immer weiter wachsende Bildung Voraussetzung.

So besuchen heute schon um rund ein Drittel mehr Schüler die höheren Schulen als zur Mitte der sechziger Jahre, und bis zur Mitte der Siebziger soll — wie die Statistiker errechnet haben — ihre Zahl um 70 bis 100 Prozent über dem Ausgangsjahr liegen. Um 1973 wird diese Welle die Hochschulen erreichen, die zur Zeit noch eine Schonfrist nützen können. Für 1980 muß mit 80.000 Studenten gerechnet werden — aber man wird sie auch brauchen, denn für diese Zeit droht ein Fehlbestand von rund 50.000 Hochschulabsolventen, wie Josef Steindl im OECD-Bericht „Bildungsplanung in Österreich“ vorgerechnet hat.

Bewältigung der Explosion

In zwei Sektoren ist in den vergangenen Jahren bereits begonnen worden, die Bildungsexplosion zu bewältigen und den wachsenden Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden. Nach Vorarbeiten in den fünfziger Jahren setzte Unterrichtsminister Piffl-Percevic mit dem Allgemeinen Hochschulstudiengesetz die erste Etappe der Hochschulreform. Die Neuordnung der Studienbedingungen sollte mithelfen, die Überfüllung der Hochschulen zu mildern und die überlangen Studienzeiten abzukürzen. Die Parlamentarische Hochschulreformkommission begann dann konkret mit der Diskussion um die personelle und organisatorische Struktur der Universität von morgen. Einen Stock tiefer konnten die Schulgesetze von 1962 zunächst nur die Kluft vierzigjähriger Parteienkämpfe überbrücken. Seit dem letzten Sommer ist auch hier die Debatte im Gange, wie die Schule der siebziger und achtziger Jahre aussehen müsse und mit welchen Maßnahmen dieses Bild verwirklicht werden könne.

Zweifellos werden die Universität und die Schule des ausgehenden Jahrhunderts ein anderes Gesicht zeigen müssen als jene der Mitte. Diese hatten sich holprig, aber doch organisch aus jenen des beginnenden 20. Jahrhunderts wie des vergangenen 19. herausentwickelt. Heute zu behaupten, Schule und Hochschule in Österreich hätten seit Humboldt, Thun und Glöckel nichts mehr verändert, zeugt von Naivität — wenn nicht von bewußter Irreführung. Die Schule wird ständig von den Menschen weiterentwickelt, die in ihr wirken — auch die Schule von morgen muß organisch aus der bestehen-

den herauswachsen. Sie darf nicht alles über Bord werfen wollen, was sich bisher bewährt hat.

Demokratisierung der Schule

Schule und Hochschule der siebziger Jahre werden zweifellos ein stärker bewußtes demokratisches Gepräge besitzen, als man heute gerne bereit ist, zuzugestehen. Aber auch das Gefühl für Demokratie, das Bewußtsein ihrer Regeln und Folgen — vor allem aber ihrer Grenzen — muß erst geweckt und integriert werden: das Bewußtsein, daß Demokratie nicht darin bestehen kann, jede Autorität grundsätzlich abzulehnen, und auch nicht darin, der Manipulation durch lautstarke Minderheiten widerstandslos zuzusehen. Die Demokratisierung der Schule muß in frühester Stufe dort anfangen, wo es gilt, durch entsprechende Hilfen auch dem von zu Hause benachteiligten Kind gleiche Startchancen zu bieten wie jenem, das das Glück eines bildungsbewußten

Elternhauses für sich buchen kann. Sie kann aber nicht bedeuten, dieses geistig und volkswirtschaftlich noch gar nicht richtig beachtete Kapitel der elterlichen Bildungshilfe zu negieren, um dem Götzen der Egalität zu opfern.

Die Demokratisierung der Schule muß weitergeführt werden, indem jedem begabten Kind die Information über die möglichen Bildungsgänge geboten, der Anreiz, den ihm adäquaten zu wählen, gegeben wird, auch in späterem Zeitpunkt. Das darf aber nicht auf Kosten jener Bildungsgänge geschehen, die dem früh erkannten begabten Kind den Weg zu vermehrtem Wissen, zu größeren Fähigkeiten, zu noch besserer Bildung öffnen. Gerade die Demokratie bedarf der Eliten des Geistes, um der Manipulation durch Halbgebildete widerstehen zu können — auch wenn diese Feststellung heute nicht gerne gehört wird.

Die Demokratisierung der Hochschule muß in weitestmöglichem Umfang dort zum Tragen kommen, wo die Gesprächspartner kraft Bildung

und Information in der Lage sind, gemeinsam die jeweiligen Probleme zu lösen. Sie darf aber nicht dazu beitragen, als Tummelplatz ideologischer Utopien den Bildungsprozeß selbst in Frage zu stellen. Schule und Hochschule der siebziger Jahre werden wesentlich stärker als ihre Vorläufer die Hilfe der Technik in Anspruch nehmen müssen, um das Wissensangebot zu bewältigen und den Lehrer zu entlasten, nicht aber, um ihn entbehrlich zu machen. Sie müssen aber auch dazu erziehen, die Technik zu beherrschen, statt sich von der Technik beherrschen zu lassen. Die Entlastung durch die Technik muß dem Lehrer die Zeit bringen, sich wieder mehr den bleibenden, den ewigen Werten in seinem Unterricht widmen zu können — jenen Elementen der Erziehung, die ihm die Technik nicht abnehmen kann und die erst aus der Summe allen Einzelwissens die Bildung ausmachen.

Schule und Hochschule der siebziger Jahre werden Struktur und Inhalt darauf einstellen müssen, daß sie nur den Start, die ersten Etappen eines lebenslangen Lernens bedeuten können. Sie werden mehr noch als bisher ihr Bemühen darauf abstellen müssen, das Lernen zu lehren, die Fähigkeit, zu analysieren, zu abstrahieren, sich neuen Problemen zu stellen. Und sie werden den jungen Menschen zur Bereitschaft erziehen

müssen, sich weiter zu bilden — nicht nur, weil er sonst materiell im harten Existenzkampf einer volltechnisierten Wirtschaft nicht mehr weiterkäme, sondern auch, um ideell in der Gesellschaft, in der Familie, für die Freizeit den höheren geistigen Anforderungen kommender Jahrzehnte gewachsen zu sein. Die Erwachsenenbildung wird zu einem integrierten Bestandteil des Bildungswesens werden müssen.

Schule und Hochschule der siebziger Jahre werden aber nicht nur das Lernen lehren müssen. Im Sinn des lebenslangen Lernens wird auch jeder bereit und fähig sein müssen, wo immer er steht, sein Wissen und seine Erfahrung den Jungen weiterzugeben. Auch diese Bereitschaft, diese Fähigkeit zum Lehren muß irgendwann in diesem Bildungsweg vermittelt werden.

Überschwemmung durch Information

Schule und Hochschule der siebziger Jahre werden schließlich den

Menschen befähigen müssen, das Informationsangebot zu bewältigen. Sprechen wir nicht von der explosionsartigen Vermehrung der Ergebnisse aller wissenschaftlichen Disziplinen, zu deren Verarbeitung die Kybernetik bereits den Computer bereitgestellt hat. Aber auch jeder

Photo: Christa Petrl

einzelne Bürger der Demokratie steht unter dem Trommelfeuer der Informationen, die von Regierung und Opposition, von Interessenvertretungen und Organisationen — eben von den divergierenden Kräften der Gesellschaft — auf ihn abgefeuert werden. Nur ein Bruchteil davon überschreitet seine Bewußtseinsschwelle — aber er braucht sie, um selbst an der Gestaltung der

Photo: Johann Gürer

Demokratie Anteil nehmen zu können.

Bildungsexplosion und Informationsexplosion sind untrennbar miteinander verbunden. Die Demokratie — die Herrschaft des Volks — kann nur dann funktionieren, wenn der Bürger weiß, worum es geht, wenn er informiert ist. In der pluralistischen Demokratie unserer Zeiten muß er um viel mehr wissen als einst im germanischen Thing oder in der griechischen Polis. Die Basis dieses Wissens liegt ebenso in einer soliden Allgemeinbildung wie in der umfassenden Information verankert. Während aber in der Schule und Hochschule neue Strukturen, die den veränderten Anforderungen genügen können, schon abzusehen sind, fehlt diese Perspektive im Informationssektor noch fast völlig. Die Rund-funkreform war ein erster Schritt. Weitere werden folgen müssen. Hierbei werden die Medien — speziell die Zeitungen — mehr als bisher auch ihre Bildungsfunktion anerkennen müssen.

Aber auch der Bürger selbst muß in der Lage sein, die angebotene Information einzuordnen, zu werten, zu benützen. Hierzu braucht er die Kenntnis von der Technik und den Methoden der Information, von der Struktur und der Arbeitsweise, von den Möglichkeiten und Grenzen der Massenmedien, die ihm als Vermittler der Information entgegentreten. Diese Kenntnisse müssen vom Verantwortungsträger in Staat, Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Kunst verlangt werden, der die Information zu geben hat, wie ebenso auch vom Empfänger der Information, dem Bürger, der mit ihrer Hilfe selbst die Demokratie mitgestalten soll. Auch dieses Wissen sollten Schule und Hochschule anbieten. Die große Aufgabe, die politische, wirtschaftliche und soziale Aufbauarbeit der vergangenen 20 Jahre fortzusetzen, die Position unseres Landes im Konzert der Völker zu festigen, die Fortschritte von Wissenschaft und Technik auch für uns auszunützen — Voraussetzung für sie wird sein, daß es gelingt, Bildung und Information im Leben unserer Gesellschaft zu integrieren.

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