6773366-1969_12_03.jpg
Digital In Arbeit

Nicht um ein Jahr feilschen!

19451960198020002020

Nach einem Wort des Unterrichtsministers Dr. Piffl-Percevic gilt es, das Wollen der verantwortlichen Menschen aufzurufen, den Bildungsstand anzuheben und zu festigen.Unsere Bildungsstätten haben bis vor kurzem das Gesicht des alten Jahrhunderts gezeigt. Wir sind inzwischen nicht bloß hundert Jahre weitergeschritten, sondern es ist etwas eingetreten, das in einem Jahrzehnt vollbringen läßt, wozu früher ein Centenium nicht ausreichte. Das heißt aber, grob ausgedrückt, daß wir gleichsam mit der Physiognomie von Steinzeitmensehen das Zeitalter der Raumfahrt zu bewältigen versuchen.In solch außerordentlicher Lage wäre man versucht, alle Parteibrillen weif von sich zu werfen und das auszusprechen, was uns allen not tut, wie man auch keine Parteimeinungen einholt, wenn ein Haus brennt, ein Schiff im Sinken ist, eine Hungersnot droht. Man könnte meinen, daß wir die überdringliche Schulfrage wie ein technisches Problem ansehen und den ganzen Bildungsapparat vom Kindergarten bis zur Hoch schule einer Zeit anpassen, die anders geworden ist.

19451960198020002020

Nach einem Wort des Unterrichtsministers Dr. Piffl-Percevic gilt es, das Wollen der verantwortlichen Menschen aufzurufen, den Bildungsstand anzuheben und zu festigen.Unsere Bildungsstätten haben bis vor kurzem das Gesicht des alten Jahrhunderts gezeigt. Wir sind inzwischen nicht bloß hundert Jahre weitergeschritten, sondern es ist etwas eingetreten, das in einem Jahrzehnt vollbringen läßt, wozu früher ein Centenium nicht ausreichte. Das heißt aber, grob ausgedrückt, daß wir gleichsam mit der Physiognomie von Steinzeitmensehen das Zeitalter der Raumfahrt zu bewältigen versuchen.In solch außerordentlicher Lage wäre man versucht, alle Parteibrillen weif von sich zu werfen und das auszusprechen, was uns allen not tut, wie man auch keine Parteimeinungen einholt, wenn ein Haus brennt, ein Schiff im Sinken ist, eine Hungersnot droht. Man könnte meinen, daß wir die überdringliche Schulfrage wie ein technisches Problem ansehen und den ganzen Bildungsapparat vom Kindergarten bis zur Hoch schule einer Zeit anpassen, die anders geworden ist.

Werbung
Werbung
Werbung

Demokratisch empfinden heißt, die Gleichheit aller zu wahren, die Menschenantlitz tragen. Das heißt aber nicht, daß alle die gleiche Schulung erfahren sollen, sondern jeder nach seiner ihm eingeborenen geistig-seelisch-charakterlichen Potenz.

Amerikaner haben festgestellt, daß nur ein Bruchteil der menschlichen Anlagen ausgebildet erscheint, so daß wir es heute meist mit Halbfabrikaten, nicht mit allseitig harmonisch gebildeten Menschen zu tun haben. Der OECD-Bericht des Unterrichtsministeriums weist darauf hin, daß wir in Kürze dreimal soviel Maturanten und die doppelte Anzahl von Akademikern brauchen werden.

Wie wollen wir das erreichen? Jetzt hat die politische Demokratie ihre Bewährungsprobe abzulegen. Wahre Demokratie ist nunmehr nicht nur ein humanitäres Ideal von Schwärmen, sondern das eiserne Muß der wirtschaftlichen Entwicklung. Es ist unsere Aufgabe, die Ökonomischen Kräfte zu erkennen und sie entsprechend zu nützen. Maschinen, Automation, Atomkraft — Werkhallen ohne Menschen, nur mit einigen Kontrollorganen, und immer neue Maschinen, Roboter, Schaltapparate, die gigantische Kräfte entfesseln, das erfordert wissende Menschen, die beweglich, geschickt und einsichtig ihr Dasein beherrschen, das sich von den alten beschaulichen Traditionen ebenso dramatisch losgelöst hat, wie eine Mammutrakete vom Erdboden.

Wie kleinlich ist es, um ein Jahr zu feilschen, die alten Schulmauern in ihrer Starrheit zu verteidigen oder aber auch umgekehrt im blinden Tempowahn auf die ewigen Werte des menschlichen Daseins zu vergessen.

Wir haben alle Ursache, von unserem Krämergeist abzulassen und unseren Blick auf das Große und Neue in der Welt zu richten. Dabei werden die Wissenden des Schullebens unter anderem drei Grundfragen beschäftigen müssen: die Reife, die Differenzierung, die Lehrpläne. Bisher hieß es: Sechs Jahre, marsch eins! Hinein in die Schule! Es ist genau hundert Jahre her. Sichtlich Unreife wurden zurückgestellt, und Wien hat sogar 1962 für Spätreife einjährige Vorschulen errichtet, für Freiwillige wohl. Bei Spiel, Sang und den ersten Elementen von Form, Zahl und Druckwerk können die Kinder noch in einem richtigen „Bewegungsunterricht“ ihrer Schulreife entgegeniwachsen. Professor Hans Spreitzer, ein ministerieller Beamte, hat statistisch nachgewiesen, daß rund 40 Prozent aller Schüler nicht alle acht Klassen durchlaufen. Meist bleiben sie bei den Übergängen hängen. Was heißt das? Zumeist nichts anderes, als daß sie zu früh erfaßt wurden, bevor sie noch die Schulreife erlangt haben. Grüne Früchte meiden die Menschen, sie wissen, daß sie ihnen nicht gut bekommen. Doch unreife Kinder schmieden sie an die Galeerenbänke der Schule. Ein sträfliches Vergehen der Erwachsenen, die den Spielkindern vorzeitig das Glücksparadies der freien Wildbahn rauben und sie der Hölle einer Arbeitswelt überantworten, der sie noch nicht gewachsen sind. Sie bleiben auf der Strecke, ohne ihr Verschulden. Spielkinder vermögen den Ernst der Schularbeit noch nicht zu erfassen. Zu früh eingeschult, sind sie überfordert und bleiben es oft die ganze Schulzeit. Sie bezahlen unsere Einsichtslosigkeit mit bitteren Enttäuschungen, und die Schule bleibt ihnen verhaßt bis ans Lebensende.

Diesem Übel muß ein Ende bereitet werden. Alle Kinder müssen während der ersten zwei, drei Wochen von Lehrer, Arzt und Psychologen getestet werden. Die Schulreifen würden in die erste Volksschulklasse geschickt, die große Mehrzahl verbliebe in der allgemeinen einjährigen Vorschule, halb Schule, halb Kindergarten. Wiederholt haben Kongresse von Pädagogen, Psychologen und Ärzten erklärt, daß unsere Sechsjährigen zumeist noch nicht schulreif sind. Außerdem hallt uns noch der Ruf vieler Lehrer nach der fünften Volksschulklasse in den Ohren, wie wir sie bis 1927 hatten. Nun hätten wir die Lösung. Die paar Reifen kämen mit sechs Jahren in die erste Volksschulklasse. Die Mehrzahl hätte ein Vorschuljahr und vier Volks-sohulklassen, zusammen fünf Schuljahre wie ehedem. Ich behaupte, daß die neue Form für die Kjnder viel ersprießlicher wäre als die alten fünf Volksschulklassen. Vor allem, weil wir mit der Vorschule endlich eine obligate Differenzierung nach der Reife durchführen könnten.

Wahrscheinlich fiele ums noch ein zweites Plus in den Schoß. Es wäre vorstellbar, daß so manche Absolventen der einjährigen Vorschule schon bei drei Volksschulklassen mit dem Grundstoff fertig würden, also wieder nur vier Jahre Grundschulung bedürften. Für die Spätentwickler aber wäre diese Vorschule ein heilsames zehntes Schuljahr. Wer ein Volksschuljahr überspringen würde, hätte dann wieder nur neun Pflichtschuljahre. Für die Vorschulbesucher mit nachfolgenden vier Volksschuljahren dürfte das eine Jahr „mehr“ nicht als belastendes Verlustjahr angesehen werden, sondern als die heilsame Grundlegung einer erfolgreichen, glücklichen Schulzeit. Wieviel Nöte und Neurosen blieben den Schülern erspart!

Was nun weiter? Hinein in den grandiosen Wirrwarr von Hauptschulen und zahlreichen Unterstufen von verschiedenen höheren Schulen? Sie haben alle angeglichene Lehrpläne. Wozu also die Vielfalt? Nach dem Schulgesetz 1962 dürfen begabte Hauptschüler in die nächsthöhere Klasse einer höheren Schule eintreten. Ich frage, wie gut muß so ein guter Hauptschüler sein, daß er bei völlig anderem Wind auch wirklich besteht? Wenn wir die Demokratie ernst nehmen, dann schaffen wir einen gleichen Start, Wir ersparen uns die groß angelegte vertikale Reform und fassen das Problem horizontal an. Wir sammeln alle Volksschüler im folgenden Schultyp, dessen Namen mir gleich ist. Heute spricht man gern von einer „Gesamtschule“, weil sie alle Zehn- bis Vierzehnjährige umfaßt, die bisher auf verschiedene höhere Schulen (Unterstufe) und Volks- und Hauptschulen verteilt sind. Ich würde sie sinngemäß nach unserer sozialistischen Tradition „Allgemeine Mittelschule“ nennen, da sie zwischen Grund- und der eigentlichen höheren Schule liegt.

Dieser Schultyp reuterte die Schüler von Jahr zu Jahr nach ihren Anlagen und Fähigkeiten. Immer klarer würden die Neigungen und Bildungswege erkannt. Eine sinnvolle Differenzierung würde die Schüler wie auf einer Drehscheibe mit Wegweisern sicher in die Richtung ihrer begabungsgemäßen Studien- und Arbeitsbahn weisen.

Sich nur darauf beschränken, was heute, wenn auch in vermehrter Zahl, zur höheren Schule drängt, ist unsachlich, stümperhaft, undemokratisch. Wer will sich darauf verlassen, daß gerade die Tüchtigsten emporstreben? Der „Ausschuß“ würde ausgesondert? Ein 50prozentiger Abfall im Laufe der Jahre bis zur Matura hinauf spräche ohnehin eine deutliche Sprache im Sinne einer radikalen Auslese?

Da haben wir den ganzen Jammer unserer höheren Bildung. Zunächst: Die höheren Schulen werden gar njeht so auffällig von höheren Geisteskindern besucht. Eine ganze Hälfte versagt und muß die Anstalt enttäuscht und seelisch gepeinigt verlassen. Ferner: Die Hälfte aller Plätze in höheren Schulen versitzen Blindgänger, Scharen von Arbeiterund Bauernsöhnen, aber Kinder von Handwerkern und Mittelstandskreisen, talentiert und lernfreudig, finden keinen Platz an der Sonne frohen geistigen Schaffens. Großartig, mit welchem Verschleiß von Menschenhoffnungen und Menschenglück unser höheres Studium betrieben wird! Wirkliche Begabungen verdämmern in Volks- und Hauptschulen, sie kommen nicht zu der ihnen entsprechenden Ausbildung. Der gemeinsame mittlere Schultyp brächte in der Begabung der Kinder von Klasse zu Klasse eine immer klarere Sicht: manuell — geistig, handwerklich — künstlerisch, technisch — kaufmännisch, sprachlich — naturwissenschaftlich, literarisch — mathematisch, medizinisch — chemisch-physikalisch usw. Von ihren Lehrern beobachtet und beraten, würden sie nur dem untrüglichen Kompaß ihrer anlagebedingten Arbeitslust zu folgen brauchen. Mühelos werden dann die jungen Menschen auf die richtige Entwicklungsbahn ins Handwerk oder zum Studium, ins Kunst- oder Handelsfach, zur Praxis oder Theorie kommen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung