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Auslese ist die Bedingung

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Ein unbedingtes Erfordernis jeder Erneuerung des Schulwesens ist die Auslese der für die einzelnen Schulgattungen befähigten Schüler. Dieser Gedanke ist so alt wie die moderne Schule. Vor fast einem Jahrzehnt veröffentlichte darüber Direktor Dr. Ludwig Hansel eine ausgezeichnete Studie, die sich in den grundsätzlichen Zeilen liest, als wäre sie heute gesdirieben. Die planvolle Erneuerung des Schulwesens stößt gleichwohl auf die verschiedensten Schwierigkeiten, und selbst das wichtige Auslescprinzip, so unbestritten es grundsätzlich ist, wird neben gewissen formalen Bedenken besonders auch geistige Kämpfe hervorrufen, die durchgestanden werden müssen. Wie damals schon Hansel sagte, muß als Vorbedingung für die richtige An-, Wendung des Ausleseprinzips ein geistiger Umschwung in der Elternschaft einerseits, in der Lehrerschaft andererseits eintreten.

Solange ein Großteil der Eltern das Mittelschulstudium ihrer Kinder für allein standesgemäß, ja für eine Prestigefrage des Elternhauses hält, wird eine objektive Auslese hier auf schwersten Widerstand stoßen. Diesen Eltern ist ja nicht der geistige Gehalt der Mittelchulen das erstrebte Ziel, sondern — das Reifezeugnis, wenn es noch so mühsam, mit Nachsicht und Nachhilfe, selbst mit Klassenwiederholungen, errungen wird. Alle müssen umlernen und sich zu dem Grundsatz bekennen, daß jede Schulgattung ihre volks- und staatsfördernde Wichtigkeit hat und daß die Begabungen erst wertvoll werden, wenn sie* ihr Träger richtig anwendet. Der Gymnasialmaturant darf nicht mehr hochmütig auf die andern herabsehen und glauben, er sei als der Tr'riger der Wissensgüter über sie erhaben. Der Fachsdiultechniker darf nicht meinen, er sei d* Überlegene, weil er d: laterielle Kultur in Spezialgeb'eten besser beherrscht.

Und beide zusammen dürfen nicht herabsehen auf den qualifizierten Arbeiter und Handelsmann, die in ihrer Art ebenso notwendiges Wissen und wertvol'es Können erlernen und anwenden müssen, damit das Volksganze gedeiht. Fort mit jedem Standesdünkel und Bildungshochmut! Das ist die erste Voraussetzung für eine richtige Anwendung des Ausleseprinzips.

Die zweite Voraussetzung ist die sachliche Einstellung der Lehrerschaft. Sie bedarf der Unterstützung duTch Schulbehörden und Öffentlichkeit, namentlich aber durch die Ausschaltung jedes politischen Einflusses auf die Entscheidungen der Schule. Hansel sagt in seiner Darstellung: „Es geht nicht an, daß die Mittelschulen überfüllt bleiben, während es an qualifizierten Arbeitern mangelt.“ Die Lehrerschaft muß erkennen, daß die Auslese nicht darin besteht, die Unbegabten in die technischen Schulen oder zum Gewerbe abzuschieben. Überall brauchen wir begabte Köpfe, jeder soll nach Art seiner Begabung wirken können. Die Auslese an den allgemeinbildenden Mittelschulen hat daher auch alle Begabten zu prüfen, ob ihre Veranlagung wirklich zum wissenschaftlichen Studium hinneigt oder mehr praktischer, beziehungsweise konstruktiver Art ist. Wie traurig ist es, feststellen zu müssen, wie viele Maturanten auf einem Beamtenposten geistig verkümmern, weil ihre Berufstätigkeit nur Broterwerb ist und sie innerlich nicht befriedigt. Daheim aber basteln sie fleißig. Vermutlich würden sie m Handel und Gewerbe, in Technik und Industrie glänzend willen können. Wer nicht aus innerem Drang Vertiefung seines Wissens sucht, gehört nicht in die allgemeinbildende Mittelschule. Wer neben geistiger Strebsamkeit manuelle Geschicklichkeit zeigt, gehört in die Fachschule. Da kann er sich handwerklich betätigen, um im theoretischen Unterricht verstehen zu lernen, wie die manuelle Arbeit anzuwenden und zu lenken ist. Solche Begabungen brauchen die konstruktive Zeichnung, die ihre Ideen festhält, sie brauchen den künstlerischen Entwurf zur Befriedigung ihrer Phantasie, kurz, sie brauchen die lebensnahe Verbindung des erlernten Wissens mit der eigenen schöpferischen Leistung schon in der Jugend, während die rein wissenschaftliche Begabung jahrelang aufzunehmen vermag, um erst im reifen Alter selbst schöpferisch zu wirken. Richtige Auslese und damit richtige Lenkung des Berufswillcns unterscheidet daher nicht nach einem einseitigen wissenschaftlichen Schlüssel zwischen Begabten und Unbegabten, sondern weist die Begabten der ihnen gemäßen Schulgattung zu. Eine Begabung aber findet sich fast bei jedem Kind.

Die überwiegende Mehrheit unserer vierzehnjährigen Knaben und Mädchen wird ^praktisjhen Berufen, das heißt der Meisterlehre oder der Fachschule zuge-ührt werden müssen. Diese Forderung darf nicht nur mit der Not der Zeit begründet werden, die uns zwingt, die vielen wertvollen Kräfte, die in unserer Jugend stecken, richtig einzusetzen, sondern vor allem mit dem berechtigten Drang der Jugendlichen nach seelischer Befriedigung durch ihre spätere Lebensarbeit. Dieser Erkenntnis dürfen sich die Eltern nicht länger verschließen, die noch immer den veralteten, ■ozial und wirtschaftlich unberechtigten Standpunkt einnehmen, als ob der Schreibtisch zu höherem Menschentum führe als die Arbeitsbank. Seinen wahren Wert schafft sich der einzelne selbst, ganz gleichgültig, .iuf welchem Arbeitsplatz er steht. Unzählige getreue Österreicher, die der Terror von 1938 aus ihrer gehobenen Stellung entfernte, haben durch praktische Arbeit ihr Brot verdienen müssen und sind dadurch nur gereifter, ja seelisch beglückt geworden. Hansel sagt also mit Recht: „Das mittlere Schulwesen ahfr, das heißt im allgemeinen Sinn: die Schulen der Vierzehn- bis Achtzehnjährigen, werden viel mehr als bisher nach der Berufs- und Fachbildung hin ausgestaltet und gegliedert werden müssen.“ Unsere technisch-gewerblichen und kunsthandwerklichen Fachschulen sind bereit zur Erfüllung dieser Aufgabe. Seit dem Vorjahr läuft ein den Notwendigkeiten der Gegenwart entsprechender Umbau an, der unser Wirtschaftsleben mit qualifizierten -Arbeitern, Meistern und Technikern versorgen soll, wenn die Mittelschullehrerschaft hier restlos mitarbeitet, dann wird allmählich die Schülerzahl an den allgemeinbildenden Mittelschulen sinnvoll geringst und die Zahl ihrer Maturanten kleiner werden, das Reifezeugnis aber wird wieder volles wissenschaftliches Gewicht erlangen und unsere Hochschulen werden, statt mit Durchschnitts- oder Minderbegabungen überfüllt zu sein, die Blüte unserer wissenschaftlich Befähigten zur Llöchstausbildung führen können. Dann wird auch der Doktorgrad wieder zu Ehren kommen, der allmählich ebenso wenig mehr geachtet wurde wie wahllos ausgeteilte Auszeichnungen.

Damit scheint die wichtige Frage der Auslese logisch durchdacht, eindeutig geklärt und durchführungsreif zu sein. Trotz aller Vorsicht wird eine Gefahr immer wieder drohen. Wir haben in der Vergangenheit nur zu deutlich gespürt, zu welchen verhängnisvollen Extremen logische Grunderkenntnisse, eingebaut in Gesetze und Verordnungen, führen können. Uber dem grübelnden Verstand muß das Herz sich behaupten, damit der Mensch nicht zur Maschine herabsinkt. Daher'darf auch die Berufswahl nicht zur Zwangswirtschaft werden. Diese Gefahr besteht, wenn Gesetze oder Erlässe starre Auslesenormen festsetzen, wie sie jetzt schon drohen. Wenn Klassen trotz d?s Bedarfes abgebaut werden müssen, so d?ß Schüler wegen Überfüllung der gewünschten Anstalt in eine andere Fachrichtung abgedrängt werden und wenn alle möglichen Stellen ein Mitbestimmungsrecht in der Berufslenkung haben. Die warmfühlenden Herzen der Eltern und Lehrer sollen zunächst dem Herzenswunsch des Kindes entgegenkommen. Erst wenn die Probezeit erweist, daß die Wahl eine unrichtige war, daß das Kind eine andere Begabung zeigt, als der gewählten Anstalt entsprechen würde, dann werden einsichtige Eltern ohne Zwang der Bildungsgang des Kindes ändern. Bis dahin wird aber auch meistens der zunächst aus unklaren Vorstellungen geborene Flerzens-wunsch des Kindes der Wirklichkeit und ihren Notwendigkeiten zu entsprechen bereit sein.

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