6660093-1960_01_04.jpg
Digital In Arbeit

Auslese des ganzen Menschen

19451960198020002020

Am 5. Dezember 1959 erschien in Nr. 49 der „Furche“ ein von „fachmännischer Seite“ herausgebrachter Artikel „Technische Auslese — Reform an den Gewerbeschulen tut not“. Der Verfasser dieses Artikels kommt unter dem Hinweis darauf, daß die Vorschulen in vieler Hinsicht versagen, zu dem Schluß, daß der Lehrplan der Gewerbeschulen umgestaltet werden müßte und daß vor allem die allgemeinbildenden Fächer wegbleiben sollten. Aus einer langjährigen Erfahrung soll im nachstehenden der Versuch unternommen werden, den angeschnittenen Problemen auf den Grund zu gehen.

19451960198020002020

Am 5. Dezember 1959 erschien in Nr. 49 der „Furche“ ein von „fachmännischer Seite“ herausgebrachter Artikel „Technische Auslese — Reform an den Gewerbeschulen tut not“. Der Verfasser dieses Artikels kommt unter dem Hinweis darauf, daß die Vorschulen in vieler Hinsicht versagen, zu dem Schluß, daß der Lehrplan der Gewerbeschulen umgestaltet werden müßte und daß vor allem die allgemeinbildenden Fächer wegbleiben sollten. Aus einer langjährigen Erfahrung soll im nachstehenden der Versuch unternommen werden, den angeschnittenen Problemen auf den Grund zu gehen.

Werbung
Werbung
Werbung

Es muß zunächst einmal mit Bedauern bestätigt werden, daß die Aufnahmewerber nach abgeschlossener Hauptschule oder Absolvierung der Untermittelschule vielfach nicht jene Kenntnisse mitbringen, die für ein erfolgreiches Studium an einer Gewerbeschule notwendige Voraussetzung wären; die im Abschlußzeugnis der Hauptschulen aufscheinenden Noten stimmen in den meisten Fällen nicht mit den Leistungen in den einzelnen Gegenständen überein, und daher ist es nicht verwunderlich, daß von Jahr zu Jahr mehr Aufnahmewerber die Aufnahmeprüfung nicht bestehen. Den Ursachen für diese Tatsachen nachzugehen, ist hier nicht der Ort; es bleibt nur zu wünschen, daß die hiefür berufenen Stellen rechtzeitig erkennen, daß die heranwachsende Jugend in der Volksschule schon und weiter in der Haupt- und Untermittelschüle an zielstrebige und ernste Arbeit gewöhnt werden muß.

Nun stehen an den Gewerbeschulen derzeit viel zuwenig Plätze zur Verfügung, um alle Interessenten für ein technisches Studium, und wenn sie mit noch so guten Kenntnissen kommen würden, aufnehmen zu können. Im Durchschnitt kann nur die Hälfte der Aufnahmewerber aufgenommen werden — an einzelnen Schulen ist es oft nur ein Drittel. Durch diesen bedauerlichen Umstand ergibt sich von vornherein eine sehr strenge Auslese, und es zeigt sich auch, daß im Verlauf der ersten Klasse etwa nur zehn Prozent der Aufgenommenen wegen zu geringer 'Leistungen von der Schule verwiesen werden müssen. Allerdings muß betont werden, daß die in den ersten Klassen unterrichtenden Lehrer trotz der strengen Auslese bei der Aufnahmeprüfung mit unendlicher Mühe und Geduld zu Werk gehen müssen, um zunächst einmal die Elementarkenntnisse in der Muttersprache und in Mathematik zu vertiefen und endgültig zu fixieren, um logisches Denken zur Entfaltung zu bringen und um die Schüler mit der Kunst des Studierens vertraut zu machen.

Ein Wort noch zur Zusammensetzung der Aufnahmewerber: Sie kommen — auch im Durchschnitt gesehen — etwa zur Hälfte aus der Hauptschule, zur anderen Hälfte aus der Untermittelschule; daß sich aus dieser nur „hoffnungslose Fälle“ zur Aufnahmeprüfung an einer Bundesgewerbeschule melden, ist absolut unrichtig; es sind vorwiegend sehr gute und gute Schüler, die die Aufnahme anstreben, und wenn Bewerber darunter sind, die in „Latein“ versagen, so weisen sie in den meisten Fällen eine gute mathematische Begabung auf. Aufnahmewerber, die an der Obermittelschule nicht weiterkommen würden, bleiben meist schon bei der Aufnahmeprüfung ohne Erfolg und können sich, so ihnen die Aufnahme gelingen sollte, auf keinen Fall auf die Dauer halten, es sei denn, daß sie mit allem Ernst mitzuarbeiten beginnen. Denn die Anforderungen, die eine Gewerbeschule an die Schüler stellt, sind natürlich wesentlich höher als diejenigen, die das Studium an einer anderen mittleren Lehranstalt mit sich bringt.

Die österreichische Gewerbeschule hat es sich seit Anbeginn, also seit SO Jahren, zum Ziel gesetzt, den ganzen Menschen zu erfassen; sie hat daher niemals nur technische Kenntnisse vermittelt, sondern war immer bemüht, die ihr anvertrauten Schüler zu formen und zu bilden. Um diese glückliche Synthese von Allgemeinbildung, fachtheoretischer und praktischer Ausbildung, die im Lehrplan unserer Gewerbeschule verwirklicht ist, beneiden uns viele Länder. Natürlich müssen die Schüler mit allem Ernst und großem Fleiß dem Studium obliegen; es ist allerdings nicht so, daß sie täglich sieben Stunden lang mit Vorträgen überschüttet werden. Denn von den 44 bis 46 Wochenstunden, die der Lehrplan vorsieht, dienen ja in den unteren Klassen bis zu 18 Stunden uem praktischen Unterricht, und in den oberen Jahrgängen entfällt ein erheblicher Anteil des Stundenausmaßes auf die Konstruktions- und Laboratoriumsübungen.

Noch ein Wort zum sogenannten „Ischler Programm 1946“. In diesem wurde unter Be-dachtnahme auf die gegenwärtigen Erfordernisse und unter Zugrundelegung des überkommenen Erbes das Organisationsstatut der österreichischen Gewerbeschulen neu festgelegt: die Dauer des Studiums wurde um ein Jahr auf fünf Jahre erweitert, für die praktische Ausbildung ein entsprechendes Stundenausmaß festgesetzt und die obligate Erlernung einer Fremdsprache vorgeschrieben. Welchen Erfolg hat nun diese neue „alte“ Studienform? Zur Ehre des Schulwesens kann festgestellt werden, daß trotz der Schwierigkeiten, die in den ersten Klassen bestehen, die Schüler von den Lehrern zu sehr zufriedenstellenden Leistungen gebracht werden — ein Beweis dafür, daß auch die heutige Jugend für echte Werte zu gewinnen und für eine vernünftige Arbeit zu haben ist. Diese erfreuliche Feststellung möge durch die Bekanntgabe der an einer der größten Bundesgewerbeschulen in den Schuljahren 1957/58 und 1958/59 erzielten Maturaergebnisse erhärtet werden.

Am Ende des Schuljahres 1957/58 sind an dieser Lehranstalt 126 Schüler zur Reifeprüfung angetreten, 121 oder 96 Prozent haben sie bereits beim Haupttermin bestanden; 30 Kandidaten, also nahezu ein Viertel aller Abiturienten, erzielten die „Reife mit Auszeichnung“, 32 konnten einen „guten Erfolg“ erreichen. Bei der Reifeprüfung 1958/59, zu der 180 Kandidaten angetreten sind, versagten nur 2 Prozent der Prüflinge, 34 Kandidaten wurden mit einem die Auszeichnung ausweisenden Reifezeugnis und 67 mit einem „guten Erfolg“ verabschiedet. Diese Zahlen zeigen wohl besser, als es Worte vermöchten, daß die Arbeit nach dem „Ischler Programm“ nicht nur möglich, sondern äußerst erfolgreich ist.

Was ist nun zu einer Reform des Grundkonzepts, das der Ausbildung unserer mittleren Techniker zugrunde liegt, zu sagen? Gewiß kann es an einer technischen Lehranstalt keinen starren lehrplan geben, sondern dieser ist in den einzelnen Disziplinen dem jeweiligen Stand der Naturwissenschaften und der Technik anzupassen. Am Grundprinzip aber, die Allgemeinbildung mit der fachlichen zu vereinigen, sollte nicht gerührt werden. Die Annahme, daß Vorschulen etwa versagen, kann nie Grund dafür sein, etwas Gesundes abzuändern. Eine Reform könnte nur dann in Erwägung gezogen werden, wenn die Ausbildungsziele der Gewerbeschulen den Erfordernissen der Wirtschaft nicht gerecht würden; dies aber ist nicht der Fall — die Wirtschaft braucht nicht nur Leute, die gut rechnen und konstruieren können, sondern Menschen, die auch wirklich gebildet und charakterlich gefestigt sind, die sich benehmen können, für die Kunst der Menschenführung aufgeschlossen sind, sich in die Problematik des betrieblichen Lebens einzufinden vermögen und die nicht zuletzt auch ein offenes Ohr für das politische Geschehen haben. Gerade die bevorstehende Integration des europäischen Marktes bringt die Notwendigkeit mit sich, daß immer mehr aufgeschlossene Menschen mit Führungsaufgaben betraut werden — denn die österreichische Wirtschaft wird sich nur dann behaupten können, wenn sie besser und billiger arbeitet als die der mit ihm konkurrierenden Länder. Dies aber wird nur dann der Fall sein, wenn es bei der Durchsetzung modernster Fertigungsverfahren gelingt, den innerbetrieblichen Arbeitsfrieden dauernd zu sichern. Davon aber ganz abgesehen: wer könnte es heute verantworten, zu einer Zeit, da man selbst in Amerika vom übertriebenen Spezialistentum abzugehen sich anschickt und man allenthalben einem Studium generale das Wort redet, eine Organisationsform, die die allumfassende Ausbildung junger Menschen vorsieht, aufzugeben und derart umzuformen, daß nur mehr die rein fachliche Kenntnisvermittlung übrig bleibt? Es dürfte doch allen, die um das Problem der modernen Technik wissen, bewußt sein, daß es ein ernstes Anliegen der Gegenwart ist, die Techniker von morgen, die in entscheidender Weise Leben und Wirtschaft und Zivilisation der Zukunft gestalten werden, in ihrem Gewissen aufzurütteln; dazu müssen sie aber während ihrer Ausbildung nicht nur mit materiellen Gütern vertraut gemacht, sondern auch — und dies vor allem — vom Religiösen, Geistigen und Humanistischen her beeinflußt werden;

Abschließend noch ein Wort zur Hochschulberechtigung der Absolventen von Bundesgewerbeschulen. Diese Lehranstalten werden niemals Zubringerschulen für die Hohen Schulen sein, ihre Aufgabe wird immer in der Heranbildung tüchtiger Techniker des mittleren Dienstes gefunden werden; ansonsten wären die hohen Kosten, die für die Ausbildung eines Gewerbeschülers von der Allgemeinheit aufgebracht werden müssen, gar nicht zu rechtfertigen. Daß aber einzelnen, besonders begabten Absolventen der Zutritt zur Hochschule nicht verwehrt werden darf, ist selbstverständlich, denn jeder Absolvent einer Gewerbeschule hat in einer weit strengeren und umfassenderen Reifeprüfung, als sie an einer allgemeinbildenden Mittelschule überhaupt möglich wäre, seine Reife unter Beweis stellen müssen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung