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Digital In Arbeit

Geistige Arbeit und Studium

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Wie wird studiert an den Gymnasien, Realgymnasien, Realschulen? Boshafte Antwort: Der Professor trägt vor, die Schüler schreiben mit und lernen das Geschriebene zu Hause auswendig oder auch nicht, der Professor prüft und gibt Noten. — Allgemeines Schmunzeln und Glossen dazu. — Zugeständnis: Es werden auch Aufgaben gestellt. Einschränkung: Zwei, drei lösen sie, die anderen schreiben ab. — Und so ginge es weiter mit Zugeständnissen und Einschränkungen: bei den Versuchen, die vorgeführt, bei den Übungen, die gemeinsam gemacht werden, den Übersetzungen in der Klasse, den Konversationsversuchen für die modernen Sprachen, bei der Analyse dichterischer Qualitäten, den Vorträgen von Schülern, schon gar bei den schriftlichen Arbeiten. Überall kann man dem Bild von geistiger Mitarbeit, selbständiger geistiger Tätigkeit die Karikatur eines Leerlaufs von Pedanterie, sinnlosem Büffeln, übermütigem Schwindeln gegenüberstellen — und dem Bild des allmählichen, zwar planmäßig gesteuerten, aber im Grunde unwillkürlichen Wachsens dessen, was man seelische Kultur und „höhere allgemeine Bildung“ nennt, die Karikatur des verochsten oder viel öfter verbummelten Maturanten, eines rasch eingepaukten und wieder vergessenen Prüfungswissens, einer kaum entwickelten Fähigkeit zu selbständigem Denken oder einer blasierten, niederträchtigen Gesinnung allem gegenüber, was Leistung wäre, des richtigen angehenden Tachinierers.

In den Karikaturen steckt wie immer ein Stück Wahrheit. Sie weisen außer auf die allgemeine Erbärmlichkeit des Menschen auf den Mißstand der unzureichenden Auslese, aber auch auf eine vielfach tatsächlich zu primitive, zu geistlose, zu bequeme Art des Unterrichts.

Es bestehen aber auch gerade für die Mittelschule besondere Schwierigkeiten, die mit billigen Rezepten und einseitigen Methoden nicht zu beheben sind. Die Mittelschule ist in der Mitte zwischen Hochschule und Volksschule, die Geistigkeit ihrer Schüler reicht von kindlicher, alles ins Spielerische einbeziehender Funktionslust und Neugierde bis zu gegenstandsgerechtem, wissenschaftlichem oder künstlerischem Ar- beits-, Forschung-, Gestaltungswillen. In der Zeit vom 10. bis zum 18. Lebensjahr vollzieht sich die radikale Wandlung zur Pubertät. Der junge Mensch ändert sich vom Grund aus; und ebenso sein Verhalten zur Umwelt, zur Familie und zur Schule. Demgemäß müssen sich auch die Weisen des Wissenserwerbs und das Verhalten des Lehrers ändern, von Jahr zu Jahr oder auch plötzlich an einem Tag: ein Wort, ein Blick, ein Zug um den Mund kann das Zeichen dafür sein.

Noch zwei andere Momente schränken das allzu unbekümmerte Experimentieren mit zunächst ansprechenden, verlockenden Methoden oder auch das Beharren bei einer . einzigen, gerade gepriesenen Methode ein: einerseits die Tradition, die den Mittelschulunterricht, die Lehrer wie die Schüler, an verschiedenen Anstalten noch in besonderen Formen beherrscht; andererseits das Bildungsziel, das der Mittelschule gesteckt ist.

Gute Traditionen sind auch heute nicht zu verachten. Es weiß wenigstens gleich jeder, wie er sich zu verhalten hat. Und im Seelischen wie im Geistigen kann man auf sehr verschiedenen Wegen zu ähnlichen Zielen gelangen. Es hat jede Methode ihre Vor- und Nachteile. Einseitig sind alle Regelungen, die von Menschen ausgehen, in der Natur, in der Politik und in der Erziehung oder Bildung. Aber es schadet durchaus nicht, wenn in alte Räume wieder ein frischer Wind weht. Traditionen sind nicht für die Ewigkeit. Sie sollen sich der Zeit anpassen, in der gleich gewichtigen Dialektik von Beharren und Erneuern, konservativen und revolutionären Tendenzen — alles Leben braucht diese Spannung.

Auch das sogenannte „Bildungsziel“,-auch der „Lehrstoff“, der „bewältigt“ werden muß, sind nichts Endgültiges. Der Lehrstoff ist einer neuen Sichtung gerade jetzt bedürftig. Es muß auf manches, scheinbar unentbehrliche Erbstück der „Tradition“ auch hier verzichtet werden. Neues aber drängt sich heran. Die Grundzüge dessen, was zur Allgemeinbildung derzeit wirklich gehören soll, müßten neu gezeichnet werden.

In solche Bedingungen ist der vieldimensionale, bewußte und unbewußte Erziehungsund Bildungsvorgang also eingebettet, an dem Lehrer und Schüler, Klasse und Schule; aber auch Familie und Gesellschaft beteiligt sind. Die Methoden dieser Einführung der Jugend und ihres eigenen Eintretens in den Geist und das Wissen der Zeit ergeben sich aus den wesentlichen Bezügen, die an einer öffentlichen Schule, in so und so starken Klassen alles das muß beachtet werden zwischen Lehrer und Schüler, Schüler uhd Schüler, Klasse und Lehrer bestehen können.

Vom Lehrer aus sind es die Formen: des Schenkens aus der eigenen „Fülle“ — so sie vorhanden ist; oder des Forderns bestimmter Leistungen; oder des Führens als Ebner von Wegen, als Vorbild; und schließlich des Beurteilens und Richtens in Streitfällen, bei Vergehen, durch die Noten der Zeugnisse. — Diesen Formen entsprechen vom Schüler aus: ein Nehmen Übernehmen, Einverleiben schon gestalteten Gedankengutes; ein Leisten die Durchführung der Aufgaben; ein Nachfolgen oder Nachahmen; ein Sich-Gebaren vor urteilenden Augen.

Das sind alles natürliche Bezüge. Sie entsprechen den Altersverhältnissen und den Autoritätsverhältnissen zwischen Lehrern und Schülern. In ihrem Sinn gilt gerade jetzt wieder das Xenion Hölderlins — er nennt es „Falsche Popularität“:

O der Menschenkenner, er stellt sich kindisch mit Kindern.

Aber der Baum und das Kind suchet, was Ober ihm ist. —Aber es gibt außerdem noch die Bezüge, die durch den Tätigkeitsdrang der Schüler geschaffen werden: der Schüler sucht selbst, will wissen, fragt — und der Lehrer hat darauf zu antworten was er aber nun gibt, hat seine Form von der Frage her; der Schüler hat vielleicht selbst etwas gefunden oder erkannt und will nun seine Ideen vorbringen — und der Lehrer hat diese Ideen zu beachten, sich entfalten zu lassen, zu bedenken, gelten zu lassen; die Schüler einer Klasse, eines Kurses, einer Arbeitsgemeinschaft können untereinander in Diskussion kommen — der Lehrer wird im Rahmen seiner Aufgaben diese Diskussionen sich durchspielen lassen als bloßer Spielleiter und Berater, allenfalls dann kann er auch das wirkliche Interesse erkennen in einer freien Stunde, nach dem Unterricht; er kann auch selbst Themen für solche Diskussionen stellen, so wie er die Erarbeitung einer Übersetzung, die Beschreibung oder auch Klärung eines naturwissenschaftlichen Sachverhalts, den Meinungsstreit in einer philosophischen Frage durch die Klasse selbst durchführen lassen kann.

Das sind dann in der Regel Als-Ob- Situation en berechtigte und willkommene, ein Mittelding zwischen Spiel und Ernst, je nachdem der Charakter der Aufgabe weniger oder mehr hervortritt; es sind Situationen wie auf dem Sportplatz, nur daß dort Interesse und Leistungsbereitschaft viel einheitlicher sind ls bei den so ganz aus der Übung gekommenen Agonen des Geistes.

Hat man sich die pädagogische Situation und ihre Möglichkeiten in dieser oder einer ähnlichen Struktur klargcmacht, so findet man auch die richtige Stellung zu den Forderungen der Reformer, die sich noch immer unter der Devise sammeln lassen: „Arbeitsschule“ gegen „Lern- schul e". Auch unter den Kategorien „Gemeinschaftsschule“, „Erziehungsschule“, „Bildungsschule“ — schon schlagen sich die Schlagwörter mit unheimlicher Schnelligkeit — besteht diese Devise weiter; sie ist die Devise der Methode, die. anderen sind vornehmlich Devisen des „Ziels“.

Die Bezeichnungen selbst sind ja nicht sehr glücklich. Das wird auch allgemein empfunden. Und es war ein Versuch, das Kind mit dem Bad auszuschütten, als man gegen die „Lernschule" zu eifern begann.

„L e r n s c h u 1 e" ist ja eigentlich ein Pleonasmus. Zum Lernen geht man in die Schule. Das wird wohl sp bleiben; die Eltern werden sich das nicht aüsreden lassen. Da hätte ‘man schon gleich auch das Wort „Schule“ und die Institution dieses Namens abschaffen müssen. — Lernen, und zwar im engsten Sinn: auswendig lernen und nachmachen, bis man etwas so kann, wie es einem vorgemacht wurde, ist eine Urform geistigen Erwerbs: bei den Kindern und bei den Erwachsenen, ob man eine Sprache lernt oder das Hobeln und Anstreichen. Auswendig lernen war die klassische Methode auch der Ideenübernahme und des Sich-hinein-Lebens in den überlieferten Geist: so nahm man die Sprüche der Heiligen Schrift oder die Gesänge Homers oder die Gesetze der Republik in sich auf, Wort für Wort. Sollte man endgültige Formeln, edle Verse, letzte Prägungen ernster Einsichten oder Beschlüsse wieder sich auflösen lassen ins Ungefähr? — Wie viel wird auch jetzt noch mehr oder weniger wörtlich eingetrommelt: von den Ergebnissen der Atomphysik über die Formeln der Psychoanalyse bis zu den Parteidpktrinen. — Wird man in den Geist eines Gedichtes zu dem auch Klang und. Rhythmus gehören eindringen, ehe man es auswendig sich versagen kann? — Und wer eine fremde Sprache lernen will, muß die Laute genau nachbilden, muß Wörter und Wortformen und Redewendungen auswendig lernen, immer wieder. — Selbst gut verstandene, mathematische oder physikalische Beweise muß man sich noch gründlich einprägen, daß man ihren Gang nicht gleich wieder vergesse —, ganz abgesehen von der Terminologie der Wissenschaften, von den Namen der Länder, Flüsse, Berge, Ortschaften oder Gestirne,’ von wirtschaftlichen Daten, von historischen Personen und Ereignissen, von denen man doch bestimmte Kunde haben ‘oll.

Nicht ob gelernt werden soll, nur was gelernt werden und wie man lernen soll, steht in Frage.

Gemeint ist bei der Ablehnung der „Lernschule“ das sinnlose Pauken und Auswendiglernen sinnlosen Stoffes. Das aber ist doch wohl nicht so häufig an unseren Schulen? Es wird kaum einen Lehrer geben, der sich dafür erklärte. Daß trotzdem von Schülern, die nie ein Interesse für den Sinn der behandelten Dinge hatten, das sinnvoll Erarbeitete oder auch vom Lehrer Dargestellte, Entwickelte sinnlos „gestuckt" werden kann, vor Prüfungen, ist eine andere Sache. Gebilligt werden solche Leistungen wohl kaum von irgend jemand.

Das Wort „Arbeitsschule“ wieder ist entweder auch ein Pleonasmus, wenn man unter „Arbeit" auch den Vorgang des Lernens, der ernsten, zunächst aufnehmenden Beschäftigung mit einer Sache versteht — und das kann man; oder es enthält einen Widerspruch in sich, wenn man als Ziel der Arbeit das Werk, das verwertbare Ergebnis ansieht. Dann wäre in einer „Arbeitsschule“ nur der Lehrling der „Praktikant“ oder der Hochschüler, der im Seminar oder in einem wissenschaftlichen Institut „arbeitet", nicht nur zur eigenen Übung, sondern um zur Klärung einer Frage, zu der Konstruktion eines Apparats, der Aufstellung einer Tabelle etwas beizutragen.

An der Mittelschule und schon gar an der Volksschule gibt es diese Leistungsmöglichkeit nur in wenigen Fällen, kaum im wissenschaftlichen Bereich ob es gleich zuweilen unter den Schülern schon selbständige Sammler oder Konstrukteure gibt, einigermaßen bei sportlichen Wettkämpfen obwohl zwischen sportlicher Leistung und produktiver Arbeit noch immer zu unterscheiden wäre; am ehesten in der Kunst, bei der Aufführung eines Theaterstückes durch eine Schauspielergruppe von Schülern, die sich vielleicht auch die Kulissen und die Plakate selbst anfertigt; oder in Dichtungen, Kompositionen, Zeichnungen, die den Charakter des Übungsstückes und Versuchs hinter sich lassen und schon an sich selbst etwas bedeuten. Gemeint aber ist die spontane, vom Schüler ausgehende Tätigkeit innerhalb des Schulbetriebs, in der Klasse, die von Schülern selbst durchgeführte Erarbeitung einer Übersetzung, einer Zusammenstellung, einer Erkenntnis, des Materials für einen Versuch und ähnliches — teilweise in Ernstsituationen; zum Beispiel wenn bei dem jetzt normalen Geldmangel der Schulbehörden Schüler und Lehrer in gemeinsamer Arbeit sich selbst Apparate, Modelle, Tafeln herrichten, Sammlungen anlegen oder ausge stalten; teilweise in fiktiven Situationen, in einer Art von Spiel, wenn diskutiert wird, als ob…

Daß dabei der Lehrer zuweilen zurücktreten kann, „als ob“ er nicht da wäre, sagt noch nicht, daß er überhaupt wegbleiben könnte, daß nicht in Wahrheit alle Tätigkeit der Schüler, so selbständig sie scheint, doch einen Bezug auf ihn hätte, er ist zumindest der Beobachter und er hat gegebenenfalls einzugreifen; er bleibt immer der Beurteiler, der schließlich auch die Noten zu geben hat.

Es können aber auch diese Situationen selbsttätiger Gemeinschaftsarbeit an der Mittelschule die übrigen Situationen nicht ersetzen: es bleibt der Vort.r 1 g, es bleibt die Bereitschaft zuzuhören; es bleibt die Vorführung, selbst das Vorrechnen auf der Tafel; es bleibt die Erarbeitung durch Lehrerfrage und Schülerantwort. Die Schüler müssen auch aufnehmen, müssen auch das Wesentliche eines Vortrags erfassen, fremde Gedanken sich aneignen, fremden Gedankengängen sich anpassen lernen. Die Schüler haben übrigens auch nicht alle und nicht in jedem Entwicklungsstadium dieselbe Lust zur offenen Diskussion, die immer eine Art Schaustellung ist; und nicht alle haben die Schlagfertigkeit und Ungeniertheit des guten Diskussionsredners. Weder der Gegenstand noch die seelische Verfassung der Schüler noch die sehr knappe Zeit noch die Zusammenstellung und Größe der Klassen erlauben immer auch diese Arbeitsmethode. Zu bedenken ist schließlich auch der Charakter des Lehrers. Ist er selbst aktiv, hat er selbst einiges zu geben, ist er systematisch veranlagt, drängt es ihn nach Klarheit und endgültiger Formulierung, so wird er eben stärker in den Vordergrund treten — und die Schüler haben in der Regel mehr von seinem Wort als von dem Gerede ihrer Mitschüler. Das Geschwätz der Diskussionen kann umgekehrt ebenso fatal werden wie das sinnlose Mitschreiben halbverstandener Vorträge.

Es bleibt ja leider auch die fatale Situation alles Schulunterrichtes, daß nicht allen Schülern alles auch persönlich in gleichem Maß interessant ist und interessant gemacht werden kann, was ihnen aber doch als Wissens- und Bildungsstoff zugemutet werden muß. Im öffentlichen Unterricht ist eine irgendwie pauschale Behandlung des Gegenstands wie der Schüler unvermeidlich. Und bei allem Verlangen des Kindes und des jungen Menschen nach dem, „was über ihm ist“, bleibt es fatal genug, daß die Jugend in der Mittelschule und schon in der Hauptschule mit Dingen befaßt werden muß, für die sie seelisch noch nicht reif genug ist. Das gilt insbesondere für die Literatur und gar für die „Weltliteratur".

Andererseits aber bleibt die Forderung bestehen: Was vom Schüler durch eigene Tätigkeit, eigenes Nachdenken, eigene Gestaltung, was durch die gemeinsame Arbeit der Schüler Jn der Klasse erworben werden kann, söll nicht einfach fertig und eingewickelt vom Lehrer vorgesetzt, diktiert oder aus dem Lehrbuch zum „Lernen“ aufgegeben werden.

Ein Trost zum Schluß: in Wahrheit sind zur Zeit die Gegensätze zwischen den Reformern und den Konservativen gar nicht so stark, als sie scheinen. Es haben die Anhänger des Alten schon manches angesehen — einige Unbelehrbare ausgenommen —- und es haben die Neuerer — einige Phantasten ausgenommen — schon manche Zugeständnisse an die Realität der Schulverhältnisse wie der seelischen Möglichkeiten gemacht.

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