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Wie soll der Stoff geboten werden?

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Das Prüfen und das entsprechende Klassifizieren stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Art, dem Volumen und der Intensität der jeweiligen Stoffdarbietung, die etwa in Turnen und in Mathematik durchaus verschieden sein wird. Jede Prüfung kann sich nur auf die Wiedergabe eines gleichsam vom Lehrer „offerierten“ Lehrstoffes beziehen. Die Prüfungsergebnisse spiegeln daher nicht allein den Fleiß und das Können des Schülers, sondern auch die fachlichen und pädagogischen Qualitäten des Lehrers.

Die Stoffdarbietung bedeutet bei den höheren Schulen eine Lehrstoffvorgabe, die dem durchschnittlichen Auffassungsvermögen einer Klasse (also einer spezifischen Kleingruppe) angemessen ist, eine schöpferische Eingrenzung wie Zurichtung einer in manchen Gegenständen bedenklich wachsenden Stoffülle und gleichzeitig eine Systematisierung des Stoffes, die nicht immer der wissenschaftlichen Übereinkunft entsprechen muß. In nicht wenigen Gegenständen kommt es nicht so sehr auf die Vorlage eines ätfchi‘fW®eh’(£bhrer nieht-irnmer'Voll- übersehbaren- Wissensmaterials an,, sondern 'äüf die Gewinnung von Verständnis für das Ganze des Faches, also auf die Errichtung eines Wissensgerüstes in dem Schüler. Ganz besonders gilt das für die sogenannten „praxisnahen“ Gegenstände. Was wir so oberflächlich „Praxis“ nennen, ist erzieherisch nie voll erfaßbar und wandelt sich darüber hinaus als eine Vielfalt technischer oder kommerzieller Verfahren derart rasch, daß die Schule ohnedies nur in einem gewissen Sinn „historisches“ Wissen vermitteln kann und der Schüler mehr hat, wenn ihm weniger als Wissen angeboten wird. Schulwissen und Praxiswirklichkeit decken sich nur leiten.

Erwachsene und zuweilen auch Lehrer können nicht immer ermessen, wie unterschiedlich und umfangreich der Lehrstoff ist, der dem Schüler oft in wenigen Stunden dargestellt wird, Welche Arbeitsaufgabe es also bedeutet, sich den Stoff in kürzester Frist Inzueignen und wiederzugeben. Die persönlichen Ansprüche des Lehrers sind zudem so verschieden, daß da and dort Gegenstände ein Übergewicht vor den anderen erhalten, das ihnen nicht zukommen dürfte. Die Folge ist entweder die Vernachlässigung einzelner Gegenstände, die als „Nebengegenstände“ abgetan werden, □der eine Überlastung des Schülers, die nicht immer in seinen unzureichenden geistigen Fähigkeiten begründet sein muß. Wir müssen jedenfalls eine individuelle und eine objektive Überlastung unterscheiden. Diese zu beseitigen ist eine Aufgabe der modernen Pädagogik.

Gewinnt ein Gegenstand ein Übergewicht, das ihm unter Bedachtnahme auf das allgemeine Lehrziel der in Frage kommenden Lehranstalt nicht zukommt, so ist das pädagogische Konzept, das je Schule ein Ganzes sein muß, erheblich gestört.

Neben der Art und Weise der Stoffdarbietung und der Leistungsforderungen sollen auch die Sekundärinstrumente des Unterrichtes nicht übersehen werden: Lehrbücher (einschließlich Hilfsbücher), Skripten und das in reicher Fülle verfügbare audiovisuelle Anschauungsmaterial. Die Sekundärinstrumente dürfen, nur spar sam eingesetzt werden, soweit sie nicht zum wesentlichen Bestandteil des Stoffes gehören, und sollten keineswegs den Lehrer ersetzen. Auch das beste Schulfernsehen kann den unmittelbaren Vortrag des Lehrers und den dadurch ausgelösten dialektischen Prozeß nicht ersetzen.

Das „Reinschreiben“ gehört dagegen in den höheren Klassen, wenn es um des „Rein“schreibens betrieben werden muß oder wegen des „schönen“ Schreibens, nicht mehr in die Mitte des Unterrichtes. Im Zeitalter der Schreibmaschine hat die „schöne“ Schrift nicht mehr die Bedeutung, die sie zur Zeit der „händischen“ Buchherstellung gehabt hat, wohl aber, und dies trotz der Schreibmaschine, die leserliche und reinlich ausgeführte Schrift.

Auch in Hinkunft wird es zu den grundlegenden Aufgaben der Schule gehören müssen, das Lernen zu lehren, jene so geheimnisvolle Kunst der Stoffaneignung und Stoffumsetzung in höchstpersönliches Wissen. Gestehen wir es ein: Von der Technik des materiellen Schaffens haben wir bereits, ,įų6erordentĮįchęęKenntnisse ej- Ipngj UII4 sie., an progrątnmge?teuere Maschinen weiterzugeben vermocht. Ist gleiches für den Lernprozeß zu sagen, der doch auch in einer abgewandelten Weise Produktionsprozeß ist? Gibt es praktikable Regeln für das richtige Lernen? Wo, in welchen Gegenständen werden sie dargestellt?

Ist das Lernenlernen überhaupt möglich?

SOS: Prüfung!

Die Schule ist nicht eine Anstalt, in der in erster Linie Wissen geprüft, sondern Wissen vermittelt wird. Das Prüfen, die „drohende“ Gewißheit für den Schüler, über das Gelernte auch Rechenschaft geben zu müssen, ist nur ein Mittel, um den Schüler zum Einprägen, Üben und Überlegen anzuhalten. Zum Unterschied von offenen Kursen wird der Lehrstoff in der Schule verbindlich gelehrt. Der Vortragsstoff ist in wesentlichen Teilen Prüfungsstoff und dadurch vom Schüler als ein wiederzugebendes Vorgabewissen zu verstehen. Dagegen hat das Prüfen nicht seinen Zweck in sich, sondern ist vor allem ein Mittel zur Kontrolle für den Lehrer, wie weit sein Vortrag von den Schülern aufgenommen wurde, aber auch zur Einsicht in den Erfolg seiner Lehrarbeit.

Das Prüfen hat auch einen didaktischen Sinn: Es soll den bereits vorgetragenen Lehrstoff vertiefen und neu interpretieren helfen. Das gilt für die Orientierungsprüfungen mehr als für die in einer etwas gespannteren Atmosphäre ablaufenden Klassifikationsprüfungen.

Die Prüfung hat weiter die Aufgabe, zu ermitteln, wie weit ein Schüler Eignung und Willen hat, sich einen Stoff anzueignen und wenn notwendig mit eigenen Worten wiederzugeben.

Ein gewisser pädagogischer Romantizismus will uns manchmal einreden, daß der Schüler auch ohne Zwang und ohne Kontrolle zu lernen gewillt sei. Jeder Lehrer aber weiß, daß ein heilsamer Zwang notwendig ist. Wenn man vom Durchschnittsschüler ausgeht, gibt es keine Wissensaneignung ohne Prüfungszwang. Zwang darf aber nicht zum Selbstzweck werden.

Untersuchungen haben erkennen lassen, daß auch der Arbeiter, um hohe Leistungen , bieftęn. ,zu Jįpmįjįi. einę ..atigejnessene Leistungsatmosphäre benötigt. Gälte nicht gleiches auch für die Prüfungen, die da und dort in einem Klima von Angst, ja Schrecken abgehalten werden?

Vor allem die schriftlichen Prüfungen legen ein Leistungsvolumen fest, das in 50 Minuten nur unter stärkster nervlicher Anstrengung zu bieten ist. Eine „reifliche Überlegung“ ist dann kaum mehr möglich. Auf diese Weise werden so manche Schularbeiten zu Schreckensstunden, welche die Gesichter der Schüler geradezu zeichnen. Dazu kommt zuweilen noch das Zusammendrängen der Schularbeiten auf wenige Tage.

Setzen, Nichtgeniigend!

Prüfen ohne Klassifizieren wäre eine Norm ohne Sanktionen. Nur die Verbindung von Prüfen mit dem Klassifizieren kann ein Schulwissen erreichen. Das gilt für die Mehrheit der Schüler.

Das Klassifizieren hat nur dann die Qualität von Leistungsvorgaben, wenn es jeweils als „gerecht“ empfunden wird. Jeder Lehrer, der es einigermaßen vermag — in einer Art von pädagogischer Demut —, auch auf Schülermeinungen zu hören und sie zu deuten, weiß, daß die jungen Menschen dem Lehrer viel „verzeihen“ — nur keine Ungerechtigkeit! Dabei wollen wir davon ausgehen, daß es auch bei der Notengebung nur in einzelnen Gegenständen eine geradezu meßbare Gerechtigkeit geben kann.

Gerechtes Klassifizieren verlangt aber, daß die ganze Notenskala angewendet werden muß. Die Note „Sehr gut“ gebührt nicht nur dem Lehrer!

Das gleiche ist auch für die Note „Nichtgenügend“ zu sagen. Nicht wenige Lehrer haben die menschlich sympathische, pädagogisch aber nicht vertretbare Gewohnheit, zum Jahresende grundsätzlich keine negative Note zu geben. Eine solche Verkürzung der Notenskala ist, auf lange Sicht gesehen, unhaltbar. Anderseits sollte die bisweilen etwas sorglos praktizierte Klassifikation mit „Nichtgenügend“ auch nicht in allen Fällen als Beweis besonderer pädagogischer Fähigkeiten des Lehrers angesehen werden. In Abschnitt III/5 der VO über Prüfen und Klassifizieren wird jedenfalls darauf hingewiesen, daß eine negative Note (ich nehme an im Klassifikationsabschnitt) dartun soll, daß ein Schüler nicht nur „ganz versagt“ hat, sondern ein „Fortschritt des Schülers im Fach nicht gewährleistet ist“. Eine überstrenge Klassifikation kann vor allem in höheren Klassen und zum Jahresende menschliche Tragödien von verheerender Wirkung auf den Schüler, ja auf die ganze Familie auslösen.

Nachdrücklich abzulehnen sind die dem berüchtigten „Strafexerzieren“ ähnlichen, jedem pädagogischen Verständnis hohnsprechenden „Strafprüfungen“. Wer in seinem Gegenstand „zur Strafe" prüft, hat — abgesehen davon, daß derlei verboten ist — seinen Beruf verfehlt.

Klassifizieren wird immer eine höchstpersönliche Entscheidung des Lehrers sein; es sei denn, wir hofften auf „Klassifikationsmaschinen“, deren Konstruktion uns bereits als möglich erklärt wurde. Jede Klassifikation hat, wenn korrekt vorgenommen, die Eigenschaft eines „höchstrichterlichen Urteils“. Sollte je versucht werden, den Lehrer in der Klassifikation von außen her zu beeinflussen, so würde das unsere pädagogische Ordnung bedenklich lockern.

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