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Der verheimlichte Leistungsabfall

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Mit dem klaren Bekenntnis zur integrierten Gesamtschule als Endziel sozialistischer Schulreform hat Unterrichtsminister Sinowatz den Startschuß für eine neue Schul-Inhalts-Debatte gegeben. Wir veröffentlichen auszugsweise einen Beitrag, der in Heft 511979 der Zeitschrift „Die Aussprache“ (herausgegeben von der Wiener und Nö. Volkswirtschaftlichen Gesellschaft) erschienen ist und die aktuelle Situation nach Ansicht vieler Lehrer treffend zum Ausdruck bringt.

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Mit dem klaren Bekenntnis zur integrierten Gesamtschule als Endziel sozialistischer Schulreform hat Unterrichtsminister Sinowatz den Startschuß für eine neue Schul-Inhalts-Debatte gegeben. Wir veröffentlichen auszugsweise einen Beitrag, der in Heft 511979 der Zeitschrift „Die Aussprache“ (herausgegeben von der Wiener und Nö. Volkswirtschaftlichen Gesellschaft) erschienen ist und die aktuelle Situation nach Ansicht vieler Lehrer treffend zum Ausdruck bringt.

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Es besteht kaum Zweifel darüber, daß die Sachgebiete der Ausbildung heute zahlreicher und umfangreicher sind als noch vor 30 oder 40 Jahren. Außerdem werden herkömmliche Bildungsgebiete auf eine neue wissenschaftliche Basis gestellt. Mehr Sachgebiete 'mit gleichbleibender Gründlichkeit zu unterrichten, erfordert natürlich mehr Zeit. Diese Zeit steht aber nicht zur Verfügung.

Wie also ist das Dilemma zu lösen? Die Antwort des seinerzeitigen Unterrichtsministers Drimmel lautete „Mut zur Lücke“, und dieses Prinzip hat sich auch die sozialistische Unterrichtsverwaltung zu eigen gemacht. Also: Weglassung „unwichtiger“ Stoffgebiete? Was ist „unwichtig“? Ist angesichts der Taschencomputer das Kopfrechnen unwichtig? Ist die oft pedantisch anmutende Rechtschreibung unwichtig?

Zu diesem echten Dilemma kommt noch die Determinante der gesellschaftspolitischen Situation in der westlichen Welt. Steigende Demokratisierung führt zu immer größerer Individualisierung.

Versucht der Lehrer, die Schüler zur Übernahme sozialer Verpflichtungen (Sauberkeit, Pünktlichkeit, Sparsamkeit, höfliches Benehmen, Rücksichtnahme, Bereitschaft zu persönlichem Verzicht) anzuhalten, so stößt er - wie paradox in einem sozialistisch regierten Staat! - sofort auf den Widerstand derjenigen, die glauben, der Gesellschaft einen guten Dienst zu erweisen, indem sie jede Autorität ablehnen, und die ständig nur auf Rechte pochen, ohne zu bedenken, daß diese doch nur aus erfüllten Pflichten erwachsen können.

Die sinkende allgemeine Arbeitsmoral trägt ganz eindeutig zu einer Leistungsminderung in den Schulen bei. Als konkretes Beispiel für einen solchen Leistungsabfall kann der Verfasser eine Anzahl von Standard-Diktaten heranziehen, die er im Fach Deutsch seit 32 Jahren an berufsbildenden höheren Schulen zu Testzwecken verwendet. Wurden bestimmte Texte im 2. Jahrgang einer höheren Abteüung in den 50er Jahren mit einem Optimum von 3 bis 5 Fehlern geschrieben, so hegt derzeit bei der gleichen Altersstufe das Optimum bei 10 bis 15 Fehlern, die Mindestleistung hingegen bei über 60, verglichen mit etwa 30 vor 25 Jahren.

Was ist die Folge? Selbstverständlich muß nunmehr die Notengebung entsprechend müder werden. Die Durchschnittsnote „Befriedigend“ hegt hinsichtlich des genannten Diktates derzeit bei etwa 20 Fehlern; 1954 waren es 10 bis 15. Würde die damalige Notengebung heute angewendet, so wäre die Zahl der „Durchfaller“ so groß, daß die Schulbehörde einschritte. Wollte man dennoch das Leistungsniveau auf die damalige Höhe anheben, müßte man auf andere (jedoch lehrplanmäßig vorgeschriebene) Stoffgebiete verzichten.

Wie die Dinge also derzeit stehen, kommt ein Leistungsabfall notenmäßig nicht zum Ausdruck. Insofern haben die Vertreter der Unterrichtsbehörde recht, wenn sie behaupten, bei den Prüfungen würden heute die gleichen Erfolge erzielt wie in früheren Jahrzehnten. Tatsächlich aber ist die Leistung stark gesunken.

Die Ursachen des tatsächlichen Leistungsabfalles sind: 1. Vermehrung und Ausweitung der zu lehrenden Sachgebiete.

2. Die verminderte Arbeitsmoral, bedingt durch die weitgehende öffentliche Untergrabung der sittlichen Werte.

3. Die geringe Konzentrationsfähigkeit, bedingt durch die technisierte und kommerzialisierte Umwelt.

4. Die neuen schulgesetzlichen Bestimmungen, die viele Wege öffnen, einen schulischen Mißerfolg zu kompensieren (Ausbau des Notenbeschwerderechts, Wiederholungsprüfung aus zwei Unterrichtsgegenständen, Aufsteigen mit einem Nichtgenügend, Zulassung zur Reifeprüfung mit einem Nichtgenügend).

5. Die in weiten Kreisen der Öffentlichkeit, aber auch von manchen Personen der Schulaufsicht vertretene Auffassung, ein Lehrer, der mit negativen Noten nicht sparsam ist, sei ein schlechter Lehrer und einer, der einen guten Klassen-Notendurchschnitt (etwa 1,5) erzielt, ein guter.

Der durchschnittliche Absolvent von heute hat ohne Zweifel Kenntnisse hinsichtlich einer größeren Anzahl von Sachgebieten als sein Kollege von 1950. Er hat - hoffentlich! -gelernt, kritischer zu denken und nicht alles mechanisch zu akzeptieren. Er hat aber (meist bei gleichem oder ähnlichem Notendurchschnitt) in der Regel ein geringeres Leistungsniveau in den einzelnen Fachgebieten aufzuweisen. Diesen Umstand kann er bei entsprechenden Charakteranlagen unter Umständen als Erwachsener wettmachen. Umgekehrt gibt ihm die Vielfalt seiner -wenn auch nur peripher erfaßten -Wissensgebiete eine größere Mobilität; er wird sich an neue berufliche Aufgaben leichter anpassen können.

Die Breite der Büdung hat zugenommen, ihre Tiefe aber ist geringer geworden. Die Charakterbüdung tritt infolge der sozialpolitischen Einflüsse (Elternhaus, Wohlfahrtsgesellschaft, individualistisches, ja asoziales Denken) gegenüber dem Wissenserwerb immer mehr in den Hintergrund. Ein charakterlich gefestigter Mensch wird einzelne Büdungslük-ken leicht selbst ausfüllen können; ein charakterschwacher wird immer eine problematische Stellung in der Gesellschaft einnehmen.

Es ist gar nicht so wesentlich, ob der junge Mensch nun in der Schule mehr von wenigem oder aber weniger von vielerlei lernt Lückenhaft bleibt das Wissen eines jeden Menschen, vom universell Halbgebildeten bis zum leistungsfähigen „Fachidioten“. Die wichtigste Aufgabe der Schule (und des Elternhauses) wäre die Erziehung zum charakterfesten, anständigen Menschen, der ein durch die „altmodischen“ Tugenden Treue, Ehrlichkeit und Fleiß bestimmtes Sozialverhalten auch unter angemessenen persönlichen Opfern in das tägliche Leben umzusetzen bereit ist.

(Der Autor ist Direktorstellvertreter der Höheren Graphischen Bundeslehranstalt in Wien XIV.)

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