Wider die Reformwut im Bildungswesen

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Um die Schulen und die Bildungspolitik tobt der Streit der Experten für und wider die Reformen. In der FURCHE kommt nach Befürwortern nun ein kritischer Mahner vor zu viel Reform zu Wort.

Zur Einführung: Die Gefahren der blinden Orientierung an anderen Staaten und Bildungssystemen werden von den politischen Akteuren derzeit unterschätzt, wenn nicht sogar negiert. Nur weil in anderen Staaten gewisse Rahmenbedingungen herrschen, müssen diese noch nicht für Österreich erstrebenswert sein. Dies trifft auf die im internationalen Vergleich niedrige Akademikerquote Österreichs zu: Die Akteure, die dies immer wieder behaupten, übersehen die Systemunterschiede zwischen den Ländern. Es ist kein Wunder, dass in anderen Staaten die Akademikerquote aufgebläht ist, in denen Krankenschwestern, Bibliothekare usw. an einer Hochschule ausgebildet werden oder in denen die berufsbildenden höheren Schulen (BHS) fehlen. In solchen Staaten ist jeder Schulabgänger mit Hochschulreife genötigt, auf Bachelor-Niveau eine Berufsausbildung zu beginnen, die die BHS wie HAK und HTL dem Großteil der hiesigen Maturanten bereits vermittelt haben.

Betrachtet man also die Schulpolitik, geht es darin um folgende Problemkreise: mehr Output – weniger Drop-out, Qualität des Lehrpersonals, Lehrinhalte, Gesamtschule und Ganztagsschule.

Ausgehend von den Bestrebungen des New Public Management (NPM) möchte die Bildungspolitik die Effizienz und Effektivität im Bildungswesen steigern. NPM versucht, das betriebswirtschaftliche Denken der Privatwirtschaft auf den öffentlichen Sektor zu übertragen. Allerdings ist die Übertragung von Ansätzen aus dem NPM auf das Bildungswesen gefährlich. Eine Schule ist keine Fabrik, in der Waren erzeugt werden. Es geht also nicht darum, die Quote der Ausschussproduktion zu verringern, denn Menschen sind kein Ausschuss. Schüler sind Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Eigenschaften.

Spirale zur höheren Schule

Unterrichtsministerin Claudia Schmied hat am Beginn ihrer Amtszeit aufhorchen lassen, indem sie meinte, der Drop-out (das sogenannte „Aussieben“) in den ersten Klassen der berufsbildenden höheren Schulen (BHS) müsse verhindert werden. Nur übersieht man dabei, dass Menschen zwar vor dem Gesetz die gleichen Rechte haben sollen, aber in ihren Begabungen und (Erb-)Anlagen eben nicht gleich sind. Auch wenn es gewisse Kreise nicht gern hören, sind nicht alle Schüler für den Besuch einer höheren Schule geeignet. Trotzdem drängen immer mehr Eltern ihre Kinder zum Besuch einer höheren Schule – gerade deswegen, weil mehr Kinder höhere Schulen besuchen und andere Bildungswege vor allem im städtischen Bereich damit entwertet werden. Hier entsteht eine Spirale, deren Effekte sich selbst verstärken.

Ein Nebeneffekt dieser verfehlten Bildungssteuerung ist die große Bedeutung der Nachhilfe-Branche. Zudem: Wenn immer mehr junge Menschen eine (auf dem Papier) höhere Bildung aufweisen, wird die praktische Berufsausbildung (Lehre) immer mehr zurückgedrängt, obwohl wir gut ausgebildete Facharbeiter dringend bräuchten.

Es kann nicht funktionieren, dass die berufsbildenden höheren Schulen (HAK, HTL, HBLA) sich ihre Schüler nicht aussuchen dürfen, aber dann genötigt werden, möglichst alle Schüler zur Matura zu führen. Die Wirtschaft stellt hohe Ansprüche an die Absolventen, die so nicht einlösbar sind. Ein früher Drop-out und die Wiedereinführung der Aufnahmeprüfung an diesen Schulen sind sinnvoll, da dies Schülern und Eltern einen vermeidbaren Leidensweg durch eine ungeliebte bzw. nicht passende Ausbildung erspart.

Eine Lösung besteht darin, das Niveau so weit abzusenken, dass alle vorgeblich den Anforderungen genügen. Was erreicht man damit? Man erreicht nur eine Bildungsinflation, die die Zeugnisse öffentlicher Schulen wertlos macht. Auch auf dem Arbeitsmarkt gilt: Was jeder hat, ist auch nichts wert. Man betrügt die guten Schüler um ihren Erfolg, indem man einer Masse von Ungeeigneten die Noten schenkt.

Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen werden als Allheilmittel zur Qualitätssicherung propagiert. Dazu muss aber angemerkt werden, dass eine Verpflichtung der Lehrkräfte zu Fortbildung nicht viel bringen dürfte. Der Effekt wäre bloß das Absitzen der Seminare. Abgesehen davon sind nicht alle Fortbildungs-Seminare qualitativ hochwertig und für den Unterricht praktisch umsetzbar, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Ich plädiere für freiwillige Teilnahme an diesen Lehrveranstaltungen, auch um die Eigenverantwortung und Motivation der Lehrkräfte zu stärken.

Lehrpläne sind nicht das Problem

Die derzeitigen oberflächlichen Bemühungen um Qualitätssicherung im Schulbereich (ein europäischer Modetrend?) scheinen sich auf das Ausfüllen von Formularen und Evaluationsbögen zu erstrecken. Ich führe dies auf das meines Erachtens oberflächliche Qualitätsverständnis aus der ISO-Tradition zurück, wonach nicht die Qualität der Produkte selbst überprüft wird, sondern Handbücher bzw. Dokumentationen über die betrieblichen Prozesse. Ich bin nicht der Auffassung, dass pädagogische Qualität sich auf diese Weise messen lässt.

Die Diskussion um die Auswahl der Lehrinhalte und deren Qualität ist keineswegs neu. Immer wieder ist vom so genannten Entrümpeln der Lehrpläne die Rede. Ich möchte die Bemühungen um die Anpassung der Lehrinhalte an die aktuellen Anforderungen nicht per se in ein schlechtes Licht rücken. Allerdings weise ich darauf hin, dass in den öffentlichen Schulen Rahmenlehrpläne gelten, innerhalb derer die Lehrkraft ohnehin die konkreten Inhalte selbst auswählen und gewichten kann. Ich sehe also die Lehrpläne als solche nicht als das größte Problem.

Ein Problem sehe ich eher darin, dass schleichend das Niveau verfällt und seitens mancher Führungskräfte im Bildungswesen Druck ausgeübt wird, damit möglichst viele Schüler bestehen (siehe oben). Unterrichtsfächer mit hochtrabenden Bezeichnungen und hehren Lehrzielen werden eingeführt – andererseits kürzt das Ministerium Kernfächer auf ein Minimum oder streicht sie überhaupt.

Als sehr bedauerlich empfinde ich daher die Abschaffung des Gegenstandes Wirtschaftliches Rechnen in der HAS und HAK. Die Lehrinhalte wurden zwar in den Gegenstand Rechnungswesen integriert, wo sie allerdings aufgrund der geringen Wochenstundenzahl kaum vermittelt werden können. Gerade an der Rechenkompetenz, am Zahlengefühl, am Schätzen von plausiblen Ergebnissen mangelt es den meisten Schülern. In der HAS beherrscht nach meiner eigenen Erfahrung ein großer Teil der Schüler nicht einmal mehr die Maßeinheiten (z. B. g in dag oder hl in l umwandeln), vom Prozentrechnen ganz schweigen.

Die Gesamtschule ist in Österreich ein hoch politisches Thema. Die Befürworter vertreten die Ansicht, im städtischen Bereich gebe es ohnehin faktisch schon die Gesamtschule, da die Gymnasien in der Unterstufe einen Großteil der Schüler unterrichten. Abgesehen davon sei die Bildungsentscheidung mit zehn Jahren noch zu früh.

Die Gegner wenden ein, dass mit einer Gesamtschule die Vielfalt des Bildungssystems zerstört werde und das Niveau weiter sinke.

Das Argument, dass in den Ballungsräumen ohnehin der Großteil die AHS-Unterstufe (Sekundarstufe I) besucht, ist nur vordergründig schlüssig. Denn warum ist dies so?

Der Grund ist eine verfehlte Steuerung der Bildungsströme. Volksschulzeugnisse sind offenbar nicht mehr aussagekräftig genug, um eine Zuordnung der Schüler in die einzelnen Schultypen zu ermöglichen. Volksschul-Lehrkräfte werden von den Eltern unter Druck gesetzt, die Schüler möglichst gut zu beurteilen, damit diese in der AHS aufgenommen werden. Das Ergebnis liegt auf der Hand: Die Hauptschulen verkommen in den Städten zu Restschulen, in die gebildete Bürger ihre Kinder nicht mehr schicken wollen – aufgrund des hohen Ausländeranteils, des niedrigen Niveaus, des „schlechten Umgangs“. In den meisten Landgemeinden liegt der Fall anders: Hier besucht der Großteil der Kinder die Hauptschule. Befürworter der Gesamtschule sehen auch diesen Umstand als Beweis für das Funktionieren und die Notwendigkeit der Gesamtschule.

Es mag stimmen, dass die Bildungsentscheidung mit zehn Lebensjahren noch zu früh ist. Allerdings ist das österreichische Schulwesen so durchlässig, dass den Absolventen der Hauptschulen alle Wege offenstehen.

Gesamtschule zerstört die Vielfalt

Ich schließe mich dem Argument an, dass die Gesamtschule in Österreich nicht nötig ist und die Vielfalt eines organisch gewachsenen Schulsystems zerstört. Die Gefahr der Nivellierung nach unten sehe ich bei Gesamtschulen sehr wohl.

Die Ganztagsschule darf auf keinen Fall zu einer „Zwangstagsschule“ werden, die auch für Kinder mit familiärer Nachmittagsbetreuung verpflichtend ist. Ich halte den Freiraum, den Kinder am Nachmittag und in den Ferien haben, für besonders wichtig. Nur so ist es den Kindern möglich, sich einen selbst ausgewählten Freundeskreis aufzubauen, eigenen Interessen nach Gutdünken nachzugehen, Selbstorganisation und Selbstbestimmung zu erfahren oder sich schlicht und einfach einmal zurückzuziehen und ein Nickerchen zu halten.

Außerdem sind die politischen Forderungen nach der Ganztagsschule praktisch etwas unausgegoren, da die räumlichen Ressourcen der Schulen oft nicht ausreichen, um darin Schüler und Lehrer den ganzen Tag zu beherbergen.

Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass das Politikfeld Bildung ein äußerst vielschichtiges und vielfältiges ist.

Gerade die Bildungspolitik ist besonders geprägt von ideologischen Entscheidungen, je nach politischer Färbung des momentanen Ministers. Da die Gestaltung des Bildungswesens langfristige und schwer messbare Effekte zeigt, treten Fehlsteuerungen erst sehr spät, wenn nicht zu spät zutage. Die Politik handelt aber im Gegensatz dazu im Rahmen relativ kurzer Legislaturperioden und hat ihrer Klientel ihre Erfolge plakativ zu demonstrieren. Dieser Widerspruch führt, neben anderen Faktoren, zu Brüchen in der Kontinuität, zur Ressourcenvergeudung und zu Fehlsteuerungen.

Autoren-Porträt

Bernhard Friedrich Seyr wurde 1976 in Linz geboren. Er promovierte 2002 zum Doktor der Philosophie sowie zum Doktor der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Salzburg und Linz. 2004 wurde er zum allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen für Schul- und Berufspädagogik vereidigt. Derzeit lehrt und forscht er an verschiedenen in- und ausländischen Hochschulen in den Bereichen Bildungsökonomie und Personalwirtschaft. Er ist Träger wissenschaftlicher Auszeichnungen, unter anderem der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Gesellschaft zur Förderung von Wissenschaft und Forschung (GWF) in Wien und des Think tank for International Governance Research Austria TIGRA®.

Forderungen für die Zukunft

* Keine kritiklose und unreflektierte Orientierung mehr an internationalen Vergleichen und Systemen anderer Staaten

* Leistung soll wieder mehr in den Vordergrund gerückt werden – im Sinne der Beschäftigungschancen der Absolventen

* Kleinere Klassen steigern die Qualität des Unterrichts

* Wiedereinführung der Aufnahmsprüfungen für alle Neueintretenden in BHS

* Die Auswahl der Lehrkräfte sollte nicht durch die Schulen selbst erfolgen, um eine objektive und gerechte Einstellungspolitik zu gewährleisten (wie bisher).

* Qualitätssicherung bedeutet nicht, Formulare und Fragebogen auszufüllen …

* Wiedereinführung des Gegenstandes Wirtschaftliches Rechnen an HAK/HAS, da es dabei den Hauptschulabsolventen an primitiven Grundfertigkeiten mangelt

* Rückbesinnung auf Basiskenntnisse statt hochtrabender „Schaumschlägerei“

* Keine Gesamtschule

* Keine „Zwangstagsschule“/Ganztagsschule (wobei gegen freiwillige Betreuungsmöglichkeiten am Nachmittag nichts einzuwenden ist)

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