Die Guten sind für die Gesamtschule, und wer dagegen ist, schaut aus wie Fritz Neugebauer: Ungefähr nach diesem Schema läuft in Österreich die Bildungsdebatte – ein Plädoyer für Differenzierung und Sachlichkeit.
„Sich einen Karl machen“ ist eine in Wien gebräuchliche Redewendung für „sich einen Spaß machen“. Die Wissenschaftsministerin Beatrix Karl machte sich kürzlich einen solchen, indem sie ein „Gymnasium für alle“ propagierte. Halten zu Gnaden, Frau Ministerin, ein „Gymnasium für alle“ ist ein Widerspruch in sich, denn so ein Bildungsgebilde ist eben kein Gymnasium, sondern eine Gesamtschule. Wenn man eine solche will, soll man das Kind schlicht und einfach beim Namen nennen. Der lächerliche Eiertanz der Begriffe, den die bildungspolitisch mit sich selbst zerfallene ÖVP in letzter Zeit aufführt, hat mit dem „Gymnasium für alle“ einen skurrilen Höhepunkt erreicht. Die interne Klärung der Parteilinie oder zumindest eine ehrliche Sprachregelung wäre dringend nötig.
Gesamtschule oder nicht Gesamtschule, das ist derzeit das Zentralthema der Schuldiskussion. Und die Mehrheit der österreichischen Medien, zu der die FURCHE erfreulicherweise nicht gehört, gibt die Linie vor: Wer für die Gesamtschule ist, gehört zu den Guten (Reformfreudigen, Aufgeschlossenen etc.), wer dagegen ist, schaut aus medialer Perspektive automatisch wie Herr Neugebauer aus und gehört folglich zu den Bösen. Eine differenzierte, sachliche Diskussion über die künftige Organisationsstruktur der österreichischen Schule scheint kaum mehr möglich zu sein.
Bildungskitsch
Ich bin zwar Direktor eines Gymnasiums und identifiziere mich mit dieser Schulform, aber ich bin kein grundsätzlicher Gegner der Gesamtschule. Was ich allerdings vermisse, ist ein konkretes Modell der künftigen Schule, das plausibel macht, aufgrund welcher Kriterien das neue Modell besser ist als das bestehende. Die Befürworter ergehen sich meist in pädagogischen Glücksverheißungen („Jedes Kind wird individuell optimal fördert …“), aber abgesehen von solchem Bildungskitsch bleiben sie uns viel schuldig, denn der real existierende Schulversuch „Neue Mittelschule“ wird ja wohl nicht wegweisend werden. Ich erwarte mir von den politischen Verantwortungsträgern endlich eine seriöse, intern geführte Diskussion über die Zukunft der österreichischen Schule. Um zu einer tragfähigen Entscheidung zu kommen, halte ich folgende Themen und Fragen für beachtenswert:
Heilige Kuh PISA
1. Die immer wieder zitierten PISA-Ergebnisse allein geben keine klare Auskunft über die Zuverlässigkeit von Systemen. Die SPÖ vergleicht gebetsmühlenartig die österreichischen PISA-Ergebnisse mit den finnischen und behauptet: Finnland ist viel besser als Österreich, weil es ein Gesamtschulsystem hat. Diesen einfachen kausalen Zusammenhang gibt es nicht. Denn wie will man erklären, dass u. a. Italien und die USA mit ihren Gesamtschulen hinter Österreich liegen und dass in Deutschland ausgerechnet die Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg gut abschneiden, die ein ausgeprägt „konservatives“ dreigliedriges System haben (Hauptschule – Realschule – Gymnasium)? Offensichtlich gibt es bessere und schlechtere Gesamtschulmodelle, und das System allein garantiert keinen PISA-Spitzenplatz – wobei auch kritisch zu fragen wäre, wie wichtig PISA überhaupt ist. Das ist ja auch so eine heilige Kuh, die man endlich säkularisieren sollte.
2. Zum Thema Durchlässigkeit: Es ist wahrscheinlich viel zu wenig bekannt, dass die österreichische Sekundarstufe I rein formal durchaus durchlässig ist. Zum Beispiel kann eine sprachbegabte Hauptschülerin an meinem Gymnasium problemlos in die 3. Klasse (mit Latein) einsteigen, und gute Hauptschulabsolventen sind auch in der 5. Klasse des Realgymnasiums durchaus willkommen. Obendrein sind durch die Lehre mit Matura, die Studienberechtigungsprüfung und die Berufsreifeprüfung Instrumentarien geschaffen worden, die Durchlässigkeit fördern. Wird dies in internationalen Studien, die Österreich zu wenig Durchlässigkeit nachsagen, angemessen berücksichtigt? Ist die relativ schwache soziale Mobilität im österreichischen Bildungswesen tatsächlich ein Systemproblem? Oder gibt es dafür vielleicht auch andere Ursachen?
3. Ist die bloße Zahl der akademischen Abschlüsse wirklich das entscheidende Kriterium für die Leistungsfähigkeit eines Bildungs- und Wirtschaftssystems? Viele Hauptschulabsolventen besuchen nach der 8. Schulstufe eine BHS und finden nach fünf Jahren Oberstufe einen Job, für den sie gebraucht werden und mit dem sie offensichtlich auch zufrieden sind. Die Jugendarbeitslosigkeit ist in Österreich, im EU-Vergleich, niedrig. Warum eigentlich, wenn das Bildungssystem angeblich so inferior ist? Und ist die Frage, ob Österreich nicht auch qualifizierte Facharbeiter mit Lehrabschluss braucht, wirklich so menschenfeindlich? Heben wir tatsächlich die Bildung der Bevölkerung, indem wir jeden besseren Tanzkurs mit einem akademischen Abschluss würdigen? Oder geht es nur darum, die OECD mit einer höheren Akademikerzahl zu beeindrucken?
4. Es mag richtig sein, dass die erste Selektionsstufe mit zehn Jahren zu früh angesetzt ist. Ich frage allerdings, ob die entscheidende Selektion ausgerechnet mit 14 Jahren besonders aussagekräftig ist. Erfahrungsgemäß gehen besonders die Buben in diesem Alter durch eine schwierige Entwicklungsphase, die sich auf ihre Schulleistungen negativ auswirkt (ist auch durch Studien nachgewiesen).
5. Um die Notwendigkeit eines Systemwechsels zu begründen, diffamieren Reformer wie Bernd Schilcher und ihnen nahe stehende Medien die derzeit existierende Schule permanent als einen pädagogischen Unort, an dem inkompetente Minderleister auf der Grundlage eines antiquierten Systems unsere Zukunft vergeigen. Diese Pauschaldiffamierung, mit der Lehrerinnen und Lehrer seit Jahren konfrontiert sind, ist für die Betroffenen unerträglich und demotivierend. Um die absolute Notwendigkeit eines neuen Systems zu begründen, ist die Diffamierung des bestehenden ein willkommenes Mittel. Diese Strategie nennt man „die Burg sturmreif schießen“!
6. Die Frage, ob der derzeitige Reformdiskurs nicht die Bedeutung der Schulorganisation überschätzt, muss zumindest erlaubt sein, ohne dass Zweifler wie ich sofort als pädagogische Betonschädel diffamiert werden. Ich bin nicht von der Überzeugung abzubringen, dass Themen wie Lehrerpersönlichkeit, Eltern- und Schülerengagement, finanzielle Ressourcen, Schularchitektur und Unterrichtsqualität für eine gute Schule mindestens so wichtig sind wie die äußere Organisationsform.
Lächerlicher Eiertanz
Mehr oder weniger liebe Politikerinnen und Politiker! Beendet, bitt’ schön, endlich dieses ideologische Gezerre und diesen lächerlichen Eiertanz um die Gesamtschule! Setzt euch ein Jahr oder von mir aus auch zwei oder drei Jahre an den Konferenztisch und klärt intern und mit Sachverstand die Grundsatzfragen, die pädagogischen, die gesellschaftspolitischen, die finanziellen und die verwaltungstechnischen! Entscheidet dann mit qualifizierter parlamentarischer Mehrheit, ob Österreich eine Gesamtschule bekommen soll oder nicht. Tut, was ihr nach bestem Wissen und Gewissen für notwendig haltet, denn ihr seid die gewählten Volksvertreter. Aber verschont uns, bitte, bis dahin mit diesem täglichen Irrwitz! Die Schule ist zu wichtig, um sich mit ihr einen Karl zu machen!
* Der Autor ist Direktor des Georg-von-Peuerbach-Gymnasiums in Linz und Kulturjournalist.
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