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Rückkehr vor 1962?

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„Alles oder nichts” wäre falsche Politik, erklärte Unterrichtsminister Sinowatz in der letzten Nummer der FURCHE. Wenn man die Äußerungen anderer Spitzenfunktionäre der Regierungspartei aus letzter Zeit zum Thema Schulreform liest, hat man den Eindruck, daß dort sehr wohl eine Politik des „Alles oder nichts” vertreten wird. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Der Minister erinnert daran, daß die Zweidrittelmehrheit, die für Änderungen der Schulstruktur notwendig ist, nicht als „unübersteig- bare Barriere” aufgefaßt werden dürfe, sondern als „Aufforderung, zu einem gemeinsamen Weg zu finden”. Und gleichzeitig fährt Karl Blecha der großen Oppositionspartei, deren Zustimmung der Minister braucht, „mit dem Steilwagen ins Gesicht”, wenn er gegen den „rückständigsten Standpunkt aller konservativen Parteien” polemisiert, weil sie sich nicht bereitfinden kann, alles das als bare Münze zu nehmen, was von ideologisch, politisch und materiell motivierten Gesamtschul-Protagonisten hochgejubelt wird.

Der Minister betont, die Zweidrittelmehrheit erfordere auch die Anerkennung, daß es sich hier um einen sehr sensbilen Bereich in der Politik handelt und daß daher sehr weitgehend die Eltern und die Betroffenen zu einer Übereinstimmung finden , müssen. Aber die SPÖ Wien-Brigit- tenau begründet ihre Forderung auf Einführung der Ganztagsschule offen mit dem Hinweis, daß damit die Kinder besser dem (offenbar als gegen die Interessen jener Propagandisten der Ganztagsschule gerichteten) Einfluß der Eltern entzogen werden könnten.

Die Eltern sollen ja auch befragt werden, wie sie sich die Schule ihrer Kinder vorstellen - nach dem „Erfolg” der Abstimmung um die Fünftagewoche kann man dies offenbar riskieren. Dazu müssen sie vorher entsprechend „informiert” werden - und deswegen kündigt SPÖ-Zentral- sekretär Blecha eine umfassende Informationskampagne über die Vorteile der Gesamtschule - pardon: der „Neuen Mittelschule” - an.

Auch der Gewerkschaftsbund klemmt sich dahinter und dekretiert die Forderung nach Errichtung der Gesamtschule als „gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen” mit der Begründung, sie „verwirklicht die Gemeinschaftserziehung”. Und ÖGB-Präsident Anton Benya ist bitter beleidigt, wenn sich die kleinere Fraktion herausnimmt, hierbei nicht mitzuziehen.

Daß über die Ergebnisse der seit acht Jahren laufenden Schulversu- che auf breiter Basis informiert werden muß, sollte selbstverständlich sein. In Fachpublikationen ist auch bereits viel geschrieben worden, ohne daß die Fachleute auf einen Nenner kommen konnten. Der Normalverbraucher, der Vater, die Mutter schulpflichtiger Kinder - sie sind überfordert, wenn sie sich aus dem Durcheinander verschiedener einander ablösender oder überschneidender Begriffe und Bezeichnungen ein Bild machen sollen. Oder ist es Absicht, Verwirrung zu erzeugen, um besser steuern zu können?

Da die sozialistische Einheitsschule von einst für die „Schwarzen” das „rote Tuch” bedeutete, sprach man nicht mehr von ihr und fühlte zunächst schüchtern zur „Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen” vor, die dann euphemistisch als „Integrierte Gesamtschule” bezeichnet wurde und nun zur „Neuen Mittelschule” aufgewertet werden soll, nachdem aus der unmittelbaren Nachbarschaft das Unbehagen über die Gesamtschule auch zu uns dringt.

Inzwischen war ja das altbewährte „Gymnasium” zum Wortungeheuer der „Allgemeinbildenden höheren Schule” umfunktioniert worden, nun kann man den nachklingenden Ruhm der alten Mittelschule auf die „Neue” überleiten, auch wenn diese nur mehr einen Torso der einstigen darstellen würde. Frage unter Brüdern: Wer von den Spitzenfunktionären der SPÖ schickt seine Kinder wirklich in die Gesamtschule, wenn es daneben auch ein Gymnasium gibt?

Im Streit um den politischen Aspekt der Gesamtschule sind die pädagogischen Belange in den Hintergrund getreten. Ob die Gesamtschule mit ihrer Zerreißung der Stammklassen durch die Leistungs gruppen der Gemeinschaftserziehung förderlicher ist, als die festen Klassengemeinschaften in Hauptschule und Gymnasium, wird von skeptischen Pädagogen ebenso bezweifelt, wie die Feststellung, daß die Repetentenzahlen in der Gesamtschule so viel geringer seien. Wären sie es auch, wenn man echte Vergleichsmaßstäbe anlegte?

Trotzdem kann man über Leistungsgruppen, über die Gesamtschule im ganzen ebenso reden wie über alle anderen Elemente der Schulversuche, die inzwischen in die Regelschule übergegangen sind. Selbstverständlich ist es auch das gute Recht sozialistischer Bildungspolitiker, für die Gesamtschule einzutreten - nicht aber, sie allen anderen aufzwingen zu wollen.

Selbstverständlich müßte, wie schon gesagt, auf breiter Basis informiert werden, was aus den Schulver- suchen herausgekommen ist und was das Ministerium nun weiter vor hat - wohl gemerkt aber: informiert, nicht manipuliert! Und da die ersten Anzeichen dieser „Informationskampagne” zu Besorgnis Anlaß geben, wird es wohl um so mehr die Aufgabe der Opposition sein, ihrerseits die Kampagne aufzugreifen und auch die Kehrseite der Medaille bloßzulegen.

Die Formel ,Alles oder nichts” wäre auch auf der Gegenseite falsch- aber dort denkt niemand daran, sie aufzustellen. Gegen die Gesamtschule als ein Angebot unter vielen ist nichts einzuwenden, solange die Wahlmöglichkeit erhalten bleibt. Daß dem intellektuell begabten Pflichtschüler der Weg zur Matura offen bleiben muß, steht außer Debatte. Ob dem stärker manuell begabten Schüler mit der Gesamtschule oder auch mit der reformierten Hauptschule und ihrem quasigymnasialen Lehrplan wirklich gedient ist, davon wird heute kaum gesprochen.

Karl Blecha hat in seiner Polemik an den Schulstreit der Zwischenkriegszeit erinnert, der erst durch das Einigungswerk von 1962 beendet worden ist. Die Schuld an den verhärteten Fronten zu jener Zeit lag sicherlich nicht nur bei den „Schwarzen”, die die Einheitsschule ablehnten, sondern wohl ebenso bei den Sozialisten, die diese Einheitsschule ohne Rücksicht auf die Meinung der Menschen durchdrücken wollten. Wir sollten uns hüten, wieder in solche Zeiten zurückzuverfallen!

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