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Von der Notwendigkeit der Ungleichheit

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Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“ Meist ein Schlagwort, das dann Unbehagen erzeugt. Zwei solcher Schlagworte, um die wechselweise gestritten wird, ohne daß man im einzelnen definieren könnte, was darunter zu verstehen wäre, sind „Chancengleichheit“ und „Chancengerechtigkeit“. Ihnen war eine Diskussion der Fraktion Christlicher Gewerkschafter im Kummer-Institut gewidmet. Man war sich einig darüber, daß zur Verbesse-

rung der Bildungschancen anders vorgegangen werden müßte, als es zur Zeit vorgesehen ist.

Wenn sich auch heute noch gelegentlich Anhänger einer reinen Vererbungslehre mit solchen einer ebenso reinen Umwelttheorie im Streit um den Begabungsbegriff in die Haare geraten, ist man allgemein doch zur Uberzeugung gekommen, daß nur das entwickelt werden kann, was in einem jungen Menschen genetisch vorhanden ist - daß aber dieses Potential auch entsprechend gepflegt werden muß, um es wirklich zur Wirkung kommen zu lassen.

Wenn aber dann ausländische Forschungen - unbestritten -feststellen, daß im Alter von vier bis fünf Jahren bereits 50 Prozent der möglichen Entwicklung besetzt sind, mit zehn Jahren etwa 80 Prozent - dann unterstreicht dies die Wichtigkeit einer sehr

frühen Pflege kindlicher Bildungsansätze. Ob dies - von oben herunter - durch obligaten Kindergarten, pflichtmäßige Vor-und Ganztagsschule erreicht wird oder ob besser die Sozialisations-fähigkeit der Familie gestärkt werden sollte - da scheiden sich die Geister. Diese Feststellungen widerlegen aber auch die These, daß das zehnte Lebensjahr zu früh sei, um die Entscheidung über den weiteren Bildungsweg zu fällen. Damit aber wird stets die Gesamtschule begründet.

Prof. Oskar Mayer, Deutschlehrer im Gollegium Kalksburg und Bildungsreferent des ÖAAB, konterte jene extrem-sozialistischen Tendenzen in Richtung auf eine Einheitsschule bis zum 18. Lebensjahr mit dem Hinweis auf die Erfahrung, daß die Bildungschancen viel weniger durch die Schulorganisation als durch das Bildungsklima in der Familie beeinflußt würden. Auch im Osten strömen nach wie vor trotz aller Bevorzugung der „proletarischen Großmutter“ als Zulassungskriterium mehr Mittelschichtkinder in Mittel- und Hochschulen als Arbeiterkinder.

Also nicht Zwangsbeglückung mit Schulsystemen, die gleichmachen sollen, aber niemandem das geben können, was er speziell braucht, sondern Aufspüren der Benachteiligungen, wo sie auftauchen - vor allem wohl die regionalen Schwierigkeiten, gegen

die in vielen Fällen schon eine Herabsetzung der Schülermindestzahlen pro Klasse helfen könnte. Es sollte aber auch bewußt gemacht werden, daß der Weg zur Universität nicht die einzige Bildungschance bedeutet, daß der Weg im Beruf - fast alle Berufsbilder haben sich in den vergangenen Jahrzehnten von Grund auf gewandelt - eine permanente Weiterbildung verlangt.

Hier hakte auch Kurt Pilz, Schulungsreferent der ÖMV, ein, der von der „Notwendigkeit der Ungleichheit unter den Menschen“ sprach (ohne damit die Gleichheit der Menschen vor Gott und dem Richter in Frage zu stellen) und die „Verfügbarkeit der Ungleichheit“ forderte, die Möglichkeit für jeden einzelnen, selbst zu entscheiden, welches Angebot er annehmen wolle.

Pilz bezeichnete die Pläne einer gemeinsamen Schule für alle Kinder und Jugendlichen zwischen zehn und vierzehn Jahren-und darüber hinaus - als außerordentliche Gefährdung einer effizienten Berufsausbildung, Für Kinder mit komplexer Begabung sind die Gymnasien richtig, für die Teilbegabten muß eine speziell ausgerichtete Hauptschule erhalten bleiben, sonst ergebe sich ein Mischmasch an Ausbildung, dessen Endergebnis viel zu wenig auf die Berufsbildung vor* bereitet.

Daß die Schulbahn-, Ausbil-dungs- und Berufsberatung viel früher einsetzen und intensiviert werden müßte, daß die berufs-kundliche Forschung bessere Unterlagen bereitstellen sollte - darüber dürften sich die Bildungspolitiker wieder einig sein. Damit wäre schon einiges zu erreichen.

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