"Wollen Sie das Gymnasium zerstören?“

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Neben der Ganztagsschule ist die "Gesamtschule“ das am heftigsten umstrittene Bildungsthema dieses Wahlkampfs. Während SPÖ und Grüne flächendeckend eine gemeinsame Schule aller 10- bis 14-Jährigen mit innerer Differenzierung anstreben, plädiert die Bundes-ÖVP für die Beibehaltung des "differenzierten Schulsystems“ mit AHS-Unterstufe und Hauptschule bzw. "Neuer Mittelschule“. Die VP-Landeshauptleute von Vorarlberg, Tirol und Salzburg zeigen sich indes reformfreudiger (s.u.) - ebenso wie der langjährige (Hochschul-)Lehrer und Begabungsforscher Friedrich Oswald. Auf Einladung der FURCHE hat er mit Isabella Zins von der Bildungsplattform "Leistung & Vielfalt“ im Hof des Wiener Schottenstifts debattiert.

Die Furche: Das Schottengymnasium gleich nebenan erfreut sich wie die meisten Privatschulen regen Zuspruchs. Wird der Run exorbitant steigen, wenn es in Österreich flächendeckend eine gemeinsame Schule aller 10- bis 14-Jährigen geben sollte?

Isabella Zins: Auf jeden Fall. Das hat sich auch in den Gesamtschulländern Frankreich oder England gezeigt. Wenn das Niveau des öffentlichen Schulsystems absackt, dann flüchten die Eltern, die es sich leisten können, in Privatschulen, dann beginnt man, Bausparer für die Schulzeit anzulegen oder in andere Wohngebiete zu ziehen, um die besten Privatschulplätze zu bekommen: So etwas wünsche ich mir für Österreich nicht.

Die Furche: Sie gehen fix davon aus, dass das Niveau sinken würde?

Zins: Nach dem Modell, wie es SPÖ und Grüne andenken, sicher. In Deutschland hat sich bei PISA gezeigt, dass Gesamtschulen die leistungsstarken Kinder bremsen - und zugleich Kinder aus bildungsfernen Schichten auch nicht hinaufheben. Bayern und Baden-Württemberg haben mit ihrem differenzierten System am Besten abgeschnitten.

Friedrich Oswald: Ob eine gemeinsame Schule funktioniert, hängt von ihrer konkreten Organisation und ihrer inneren Struktur ab. Die "Schola Media“ in Südtirol hat etwa bessere Ergebnisse erzielt als die österreichischen Schulen. Auch die erfolgreichen, skandinavischen Länder sollten uns zu denken geben. Dazu müsste man aber ein System aus einem Guss überlegen. Wir in Österreich haben mit der "Neuen Mittelschule“ nur die Hauptschulen umbenannt und manche Verbesserungen erreicht. Aber die Zweigliedrigkeit, bei der man Kinder im Alter von zehn Jahren ohne pädagogische Notwendigkeit voneinander trennt, bleibt bestehen. Ohnehin benachteiligte Kinder werden dadurch von Gleichaltrigen isoliert und abgesperrt, man verpasst ihnen das Etikett: Ihr gehört nicht dazu! Dazu kommt, dass wir zwar in Österreich von einem "differenzierteren Schulsystem“ sprechen, aber weder nach Leistung oder Lernfähigkeit, noch nach Interessen differenzieren. Die Folge ist, dass in manchen Regionen 80 Prozent der Volksschüler ins Gymnasium kommen und in anderen ebenso viele in die Hauptschule - wobei im öffentlichen Bewusstsein diese beiden Schulformen nach wie einen unterschiedlichen Rang haben.

Zins: Ich glaube schon, dass nach Interesse differenziert wird. Schließlich schärfen Hauptschulen wie auch Gymnasien immer stärker ihr Profil. Aber mit der gesamten Entwicklung ist natürlich kein Gymnasialdirektor zufrieden. Man weiß, dass viele Volksschullehrerinnen im Zweifelsfall lauter "Sehr gut“ geben, weil sonst von den Eltern interveniert wird. Doch die Politik gibt uns keine Möglichkeit, eine Auswahl zu treffen.

Die Furche: Sie wollen Aufnahmsprüfungen?

Zins: Nein, aber das Ergebnis der Bildungsstandards, die vom Ministerium um teures Geld eingeführt worden sind, sollte den Eltern helfen, zu entscheiden, ob ihr Kind in einem Gymnasium wirklich gut aufgehoben ist. Wobei ein Gymnasiast nicht mehr wert ist als ein Hauptschüler, dieses Denken hebt sich vielleicht durch die Anhebung der Lehrerausbildung beider Schulformen auf Masterniveau ohnehin auf. Aber eines muss ich schon sagen, Herr Professor Oswald: Ich sehe diese große soziale Ungerechtigkeit nicht. Wie durchlässig das System ist, zeigt die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der Maturantinnen und Maturanten in Österreich eine Hauptschule besucht hat. Warum also wollen Sie das Gymnasium zerstören?

Oswald: Ich will es nicht zerstören, ich will seine Unterrichtsqualität retten! Derzeit verkommt es ja mancherorts zur undifferenzierten Gesamtschule. Ich habe nichts dagegen, wenn in Wien, Graz, Salzburg oder auch Mödling 75 Prozent der Volksschüler ins Gymnasium kommen. Aber wenn es keinen differenzierten Unterricht gibt, dann kann die Schule nicht mehr die Aufgabe erfüllen, von der sie meint, dass sie ihr zusteht. Eine Direktorin hat mir unlängst sogar gesagt: Wir führen im Gymnasium zweite Klassenzüge! Es ist also hoch an der Zeit, sich Methoden zur inneren Differenzierung zu überlegen - um die Bildungsungerechtigkeiten zu beseitigen, aber auch um zu verhindern, dass Begabungen verloren gehen.

Die Furche: Wie stellen Sie sich diese innere Differenzierung konkret vor?

Oswald: Man kann das in einem ersten Schritt klassenweise machen - für besonders Begabte, "normale“ Schüler oder solche mit besonderem Förderbedarf. Besser wären aber flexible Gruppen, möglicherweise sogar Individualisierung. Durch Team-Teaching erhalten manche oder Einzelne eine besondere inhaltliche Anreicherung, andere werden besonders gefördert. Um die Gemeinschaft an der gemeinsamen Schule zu intensivieren, müsste es aber auch gemeinsame Lehrveranstaltungen geben, etwa im musischen Bereich. Hier sind Lehrer sehr erfindungsreich. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass man ein solches Modell, wie wir es auch im Rahmen von ECHA (European Council for High Ability, Anm.) entwickelt haben, erproben kann.

Die Furche: In Tirol und Salzburg soll es gesamtschulähnliche Modelle geben.

Oswald: Das ist zumindest ein Beginn.

Zins: So ein utopisches Modell, wo alle Kinder in der Früh bei einer Tür hineingehen und sich dann in Klassen oder andere Strukturen aufteilen, könnte ich mir schon vorstellen. Nur gibt es auch an einer solchen Traumschule Zweige oder Klassen, wo sich jemand als etwas Besseres fühlen kann. Außerdem möchte ich Sie auf den Boden der Realität zurückholen: Erstens wäre das organisatorisch schwierig, weil man diese Differenzierung ja in allen Gegenständen durchführen müsste. Zweitens bräuchte man dazu sehr viel Personal und Ressourcen. Das System, in dem wir jetzt festgezurrt sind, ist ja leider darauf aufgebaut, dass ein Lehrer in einer Klasse eine Stunde hält - und nicht drei. Und drittens muss man sagen, dass die Schule nur etwa ein Drittel der Ressourcen zur Potenzialförderung eines Kindes beisteuern kann; zwei Drittel machen die Ressourcen aus dem Elternhaus aus. Der Staat sollte also eher die Familien in die Pflicht nehmen - etwa was den Besuch von Elternabenden betrifft.

Oswald: Was heißt hier "Traumschule“ und "Boden der Realität“? Ich rede von Schulformen, die in anderen Ländern, etwa Finnland, längst möglich sind. Wir kommen im Bildungswesen nie weiter, wenn wir uns mit dem Hinweis auf fehlende Mittel nicht einmal trauen, schrittweise unsere Visionen umzusetzen. Außerdem verursacht ja auch unsere Zweiteilung mit unterschiedlichen Organisationen Kosten. Aber man kann sich bei uns offenbar nicht einmal vorstellen, dass innerhalb einer Struktur auch unterschiedliche Schulwelten möglich sind.

Zins: Viele von den Lehrerinnen an den "Neuen Mittelschulen“, die allein oder zu zweit bis zu 25 Schüler auf ihrem je eigenen Level fördern sollen, sagen: Das ist total schwierig. Wenn ich selbst als Deutsch- und Lateinlehrerin eine bunt zusammengewürfelte Unterstufenklasse unterrichten soll - von Kindern mit fast sonderpädagogischem Förderbedarf bis zu Hochbegabten: Welches Buch wähle ich dann aus? Wie spreche ich überhaupt? Nur Zettel zu verteilen, die die Kinder bearbeiten sollen, und als Lehrerin herumzukreisen - so einen Unterricht wünsche ich mir nicht. Außerdem, so wichtig der soziale Zusammenhalt ist: Man kann doch nicht verlangen, dass die leistungsstarken Schüler immer die Hilfslehrer in der Klasse sind.

Oswald: Eine Einbeziehung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf wäre auch meiner Ansicht nach zu schwierig. Aber eine Vielfalt didaktischer Maßnahmen im Unterricht kann erprobt und erlernt werden. Meine Kontakte mit AHS-Lehrern und Direktoren geben mir Gewissheit, dass immer mehr erkannt haben, dass sich etwas verändern muss.

Die Furche: Die ÖVP-Bundespartei hat da eine andere Ansicht …

Oswald: Die Bildungspolitik der ÖVP ist leider nicht sehr klar. Schon Beatrix Karl (heutige Justiz- und früher Wissenschaftsministerin, Anm.), hat vom "Gymnasium für alle“ gesprochen. Aber kurz darauf war sie nicht mehr im Amt. Umso mehr würde ich mir in der nächsten Legislaturperiode eine seminarähnliche Tagung wünschen, bei der sich die VP-Bildungspolitiker einmal alle Befunde zur gemeinsamen Schule ansehen.

Zins: Ich würde mir eher wünschen, dass wir weg von der Systemfrage und hin zum Wesentlichen kommen, nämlich zu bestmöglichen Bedingungen an den einzelnen Standorten. Dazu bräuchte es etwa einen Pool an Stunden, die Direktoren flexibel einsetzen können - etwa um Zweitlehrer in bestimmten Klassen einzusetzen. Landeshauptleute sind für mich jedenfalls keine Bildungsexperten, ebensowenig wie jene, die ständig in den Medien zu Wort kommen, aber von der Materie nichts verstehen: Hannes Androsch etwa, um nur einen zu nennen.

Oswald: Zumindest Letzteres kann ich voll und ganz unterschreiben.

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