Wohin mit dem Kind?

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Warten und bangen: So lässt sich die aktuelle Situation vieler Eltern beschreiben, deren Kinder die vierte Volksschulklasse besuchen. Mit dem Semesterzeugnis in der Hand sind sie in die Schule ihrer Wahl marschiert, um sich anzumelden. Es werden Wochen vergehen, bis sie wissen, ob ihr Kind in einem Gymnasium aufgenommen wird oder nicht. Die Plätze dort sind knapp: Statistisch findet sich nur für jeden dritten Zehnjährigen ein Platz in einer AHS.

Seit Jahren kritisieren Bildungswissenschaftler, dass sich die subjektiven Fähigkeiten und Potenziale von Kindern in diesem Alter noch gar nicht abschätzen lassen. Zudem weisen sie auf die enorme Schwankungsbreite bei der Notenvergabe hin. Dennoch sind die Noten derzeit ausschlaggebend für den weiteren Bildungsweg. Nur in Ausnahmefällen darf ein Dreier im Zeugnis stehen, dieser muss allerdings begründet werden. Angesichts des großen Zulaufs auf die AHS haben Kinder mit einem "Befriedigend" aber oft keine Chance.

Auf die Frage nach der treffisichersten, fairsten und pädagogisch sinnvollsten Form der Leistungsbeurteilung kamen in den letzten Jahren unterschiedlichste Antworten. 2016 wurde etwa die verpflichtende Beurteilung mittels Noten bis zur vierten Klasse Volkschule eingestellt. Beurteilt werden konnten die Leistungen nunmehr mit drei verschiedenen Methoden: der verbalen Beurteilung, der lernzielorientierten Beurteilung anhand von Lernziellisten und der direkten Leistungsvorlage anhand von Kompetenz-Sammelmappen. Lehrende, Schüler und Eltern sollten hier auf einer kommunikativen Ebene zusammengebracht werden, um gemeinsam individuelle Stärken und Schwächen der Kinder zu identifizieren.

Mehr Tests, mehr Noten

Einen Regierungswechsel später wurden freilich wieder verpflichtende Schulnoten eingeführt (ab dem Semesterzeugnis der zweiten Volksschulklasse). Vergangenen Dezember kündigte Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) zudem an, die Schulnoten ab 2022/23 durch eine "Individuelle Kompetenz-und Potentialmessung" (IKPM) in der dritten Klasse ergänzen zu wollen, um die Entscheidungsgrundlage für die Schulwahl zu erleichtern und zu verbessern, wie es aus dem Bildungsministerium heißt. Das Testverfahren basiert auf der bereits bestehenden "Informellen Kompetenzmessung"(IKM), die vom Bundesinstitut für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des Bildungswesens (BI-FIE) entwickelt wurde. "Die IKM wurde seit 2009 den Lehrenden unverbindlich zur Verfügung gestellt und in fast 50 Prozent aller österreichischen Volksschulen zumindest einmal angewendet", sagt Michael Bruneforth, stellvertretender Leiter des Departments für Bildungsstandards des BIFIE.

Die nun geplante Form der Kompetenzund Potenzialmessung ist freilich verpflichtend, sie soll laut Bruneforth nicht nur einen Überblick über die Kompetenzen der einzelnen Schülerinnen und Schüler bieten, sondern Lehrkräften auch zur Evaluierung des eigenen Unterrichts dienen und sie über den Lernstand der gesamten Klasse informieren. Außerdem sollen sie in Zukunft die Bildungsstandardtests ablösen und als Feedbackgrundlage zur Weiterentwicklung des Lehrplans und der Bildungsziele der Regierung dienen. Vier Teilbereiche werden laut Bruneforth bei den Tests abgefragt: Lesen, Sprachbetrachtung, Verfassen von Texten und Mathematik. Die Ergebnisse sollen in verbindliche Elterngespräche einfließen und die Notenvergabe "nachvollziehbarer und objektiver" machen, so das Bildungsministerium. Man wolle dadurch "Druck nehmen und nicht aufbauen", heißt es. Bindend für die letztendliche Aufnahme in ein Gymnasium seien die Testergebnisse allerdings nicht.

Sowohl die Opposition als auch Bildungsexperten haben dazu freilich geteilte Ansichten. "Jetzt!"(ehemals Liste Pilz) bezeichnet verpflichtende Tests als "rückschrittliche Bildungspolitik", die SPÖ-Bildungssprecherin und Ex-Bildungsministerin Sonja Hammerschmid warnt vor "AHS-Aufnahmetests" in der dritten Klasse Volksschule. Auch Stefan Hopmann, Universitätsprofessor für Bildungswissenschaften an der Universität Wien, steht der "Individuellen Kompetenz- und Potenzialmessung" skeptisch gegenüber. Mit der Einführung von standardisierten Kompetenztests werde zwar Objektivität vermittelt, jedoch verstecke sich unter diesem Deckmantel ein Mechanismus. Denn, so Hopmann: "Ein Test ist nur eine Verallgemeinerung der Subjektivität, die sich mehr Menschen zumuten lässt. Die Einführung von Tests ist von daher ein legitimer Vorwand, um das eigentliche Ziel zu verfolgen: nämlich die soziale Abgrenzung beizubehalten und weiterzutreiben." Letztendlich seien die Tests nur eine "Symptombekämpfung der eigens geschaffenen Platzproblematik und der subjektiven Rufabwertung der NMS", so Hopmann.

Zur Verantwortung der Pädagogen

Indes gibt es auch Unterstützung für die Kompetenztests, nämlich bei den Lehrerinnen und Lehrern. "Der Druck der Eltern wird immer größer. Darunter leiden das Lehrpersonal und die Kinder", meint etwa Katharina R., eine langjährige Volksschullehrerin aus Wien. Nach ihrer Auffassung wären Tests durchaus geeignet, um die vom Ministerium betitelte "objektive Argumentationsgrundlage" zu liefern.

Hopmann versteht die Sorgen des Lehrpersonals. "Natürlich, der Druck steigt", ist er sich bewusst. "Aber er ist hauptsächlich den Verfehlungen der NMS und zu wenigen Plätzen an der AHS geschuldet. Mit Testergebnissen lassen sich Unterschiede gut argumentieren. Man habe zu akzeptieren, dass das eigene Kind schlechter ist als ein anderes Kind". Pädagogisch sinnvoller wäre es, insgesamt von der Vorstellung objektiv zu beurteilender Menschen wegzukommen und die Subjektivität des einzelnen Kindes mehr wertzuschätzen. "Kinder lassen sich nicht in einen Kriterien-und Kompetenzkatalog zwingen", so der Bildungswissenschaftler. Es gebe Kinder, die in der Volksschule zu einer Bildgeschichte zwei Sätze schreiben, aber später Schriftsteller würden, erklärt der Experte. Und vice versa.

Die Weichen gestellt?

Ein Schritt in die richtige Richtung wäre indes laut Hopmann, den Pädagoginnen und Pädagogen die Verantwortung nicht immer weiter abzunehmen, sondern sie ihnen im Gegenteil zuzusprechen. Alternative Beurteilungssysteme wären ein Anfang in die richtige Richtung gewesen. Für eine funktionierende Beurteilung bräuchte es freilich viel Aufklärungsarbeit, Verständnis gegenüber den Bedürfnissen der Lehrer und der Eltern, aber besonders gegenüber den Kindern. "Wir brauchen ein System, das die Pluralität der Interessen und Fähigkeiten fördert und kein vermeintlich objektives Korsett darstellt", so der Wissenschaftler. Und im Übrigen wisse man aus der nationalen und internationalen Forschung, "dass Tests in diesem Alter nicht geeignet sind, um irgendetwas über die späteren Eigenschaften der Schüler und Schülerinnen auszusagen."

Der Übergang zwischen der Volksschule und einer NMS oder AHS ist und bleibt also ein Problem. Doch wie unumkehrbar ist hier eine Entscheidung?

Grundsätzlich lässt sich auch nach der NMS-Unterstufe ein Gymnasium besuchen, dies tut allerdings nicht einmal jeder Zehnte. Wesentlich attraktiver sind berufsbildende höhere Schulen (BHS) wie die HTL, HBLA oder HAK. Jedoch auch hier zeigt sich: Während es neun von zehn Jugendlichen mit AHS-Hintergrund in die zweite Klasse BHS schaffen, sind es nur knapp sieben von zehn der ehemaligen Schüler und Schülerinnen einer Neuen Mittelschule.

GLAUBENSFRAGE

Von Mouhanad Khorchide

Papst und Großscheich

Franziskus hat Anfang Februar als erster Papst die arabische Halbinsel besucht. Sein Besuch in den Vereinigten Arabischen Emiraten besitzt starke Symbolkraft, was die Annäherung zwischen Muslimen und Katholiken angeht.

In Abu Dhabi hat der Papst gemeinsam mit dem Großscheich der al-Azhar, Ahmad Al-Tayyeb, das historische "Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt" unterschrieben. Leider wurde diese Erklärung in der europäischen Öffentlichkeit nicht wirklich wahrgenommen, dabei stellt sie einen Meilenstein in den Beziehungen zwischen Christentum und Islam dar. Der Text, der bekräftigt, dass "der Glaube den Gläubigen im anderen einen Bruder sehen lässt, dem man helfen und den man lieben müsse", wird schon im Vorwort als ein Dokument bezeichnet, das das "Ergebnis aufrichtiger und ernsthafter Überlegungen" ist und "alle, die den Glauben an Gott und an die menschliche Brüderlichkeit im Herzen tragen, einlädt, sich zu vereinen und zusammenzuarbeiten." Das Dokument ruft dazu auf, "in unseren Gesellschaften das Konzept der vollen Staatsbürgerschaft zu verankern und die Verwendung des Begriffs Minderheiten abzulehnen, der allein schon mit dem Gefühl der Isolation und Unterlegenheit verbunden wird." Als Voraussetzung wird in der Erklärung "die Anerkennung des Rechts der Frau auf Bildung und Beschäftigung" bezeichnet sowie "die Freiheit, ihre politischen Rechte auszuüben".

Das hört sich vielversprechend an, allerdings reicht es nicht, nur von Dialog und Gemeinsamkeiten zu sprechen. Wir müssen uns den Herausforderungen in der Theologie wie in der Praxis stellen. So treffen wir noch immer auf Positionen innerhalb der islamischen Theologie, die Nichtmuslime diskriminieren. Wenn muslimische Theologen solche Positionen nicht überdenken, bleibt die Rede von gemeinsamen humanen Werten ausgehöhlt und inhaltsleer."

Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster

Die Objektivität in Tests ist nur eine Verallgemeinerung der Subjektivität, die sich durch ihre Verschriftlichungsform mehr Menschen zumuten lässt.

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