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Die nicht notwendige „Notwendigkeit“

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Die Gesamtschule gibt es nicht, zumindest nicht bei den Zehn-bis Vierzehnjährigen. Bei den Sechs- bis Zehnjährigen ist sie seit Jahrzehnten unumstritten. In die gemeinsame Grundschule gehen die Kinder aller Leistungsschichten (wenn vom geringen Prozentsatz der Sonderschüler einmal abgesehen werden darf), die Kinder aller Sozialschichten und mittlerweile auch beide Geschlechter.

Würde die heterogene Schülergruppe einer vierten Schulstufe der Volksschule in unveränderter Zusammensetzung als fünfte Schul-' stufe zur ersten Klasse der Sekundarstufe I. werden, so wäre das die natürlichste Form der Gesamtschule. Die am Ende der reifen Kindheit notwendig gewordene Änderung ist der Austausch des für alle Fächer (außer Religion) zuständigen Klassenlehrers durch (hoffentlich nicht zu viele) Fachlehrer, weil ein Lehrer in den seltensten Fällen die sich ausdifferenzierenden Neugierden der Kinder auf den verschiedenen Kulturgebieten angemessen befriedigen kann. Mit der Aufspaltung der Schüler auf verschiedene Schultypen aber könnte bis zur berufsspezifischen Interessendifferenzierung am Ende der für alle Pflichtigen Allgemeinbildung zugewartet werden.

Das österreichische Schulsystem verfährt in den traditionellen Typen (AHS, HS I. Zug, HS H. Zug) wie auch in der von der vierten Novelle zum Schulorganisationsgesetz angeregten integrierten Gesamtschule anders. Es glaubt, zur Notwendigkeit der Veränderung auf dem Lehrersektor bei den Zehnjährigen noch eine zweite setzen zu müssen, die der leistungsmäßigen äußeren Differenzierung. In der überkommenen Form geschieht diese Differenzierung nach dem Kriterium der fächerübergreifenden Leistungshomogenität (Streaming-System), in den Reformschulen nach dem der fachspezifischen Niveaus in den sogenannten Hauptfächern (Setting-System).

Wenn es wahr ist, daß die optimale Entfaltung der sehr Begabten, der Mittelmäßigen wie auch der schwach Begabten an die Bedingung geknüpft ist, daß sie unter sich seien, dann wird ein Schulsystem, das sich des Auftrags der Qualifizierung der heranwachsenden Generation bewußt ist, nicht umhin können, Leistungszüge (traditionelles Streaming-System) oder Leistungskurse (reformatorisches Setting-System) zu bilden. Warum, muß gefragt werden, erfolgt dieses Aufteilen dann nicht eigentlich schon ab.dem Schuleintritt? Das schulversuchsweise Vorziehen der Leistungskurse bereits in die dritte und vierte Klasse der Grundschule ist so gesehen eine konsequente Antwort auf diese Frage.

Der Verfasser darf von sich sagen, daß er als gläubiger Verfechter der obgenannten These die Gesamtschule ursprünglich bekämpft hat. Erst die Kenntnisnahme der Ergebnisse aus großangelegten und mit wissenschaftlicher Distanziertheit durchgeführten Untersuchungen haben ein Umdenken bewirkt. Der überwiegende Teü dieser weltweit angestellten Vergleichsstudien spricht keinem Organisationsmodell, weder dem homogenen noch dem heterogenen signifikante Voteüe zu, es sei denn, daß die Schwächeren dann mehr profitieren, wenn sie nicht von den besseren isoliert werden. (Abtrünnige unter Abtrünnigen können nur abtrünnig bleiben! Welche bildungspolitische Ignoranz hat je auf die Situation von mehr als einem Drittel der Zehn- bis Vierzehnjährigen - II. Zug - vergessen und dieses Vergessen auch noch mit pädagogischen Scheinargumenten verbrämen können?)

Selbst Wissenschafter, die es gerne anders vernommen hätten (wie die Autoren des vom Bayerischen Staatsinstitut für Bildungsforschung und Bildungsplanung vorgelegten Forschungsberichtes) konnten keine Überlegenheit der homogen geschulten Tüchtigen gegenüber ihren heterogen geführten Kameraden registrieren.

Gelegentlich passiert bei diesen Vergleichen der Lapsus, daß auf die Verschiedenheit der Ausgangsbasis vergessen wird: dann werden etwa die Leistungen der amerikanischen High-School-Absolventen, die nahezu 100% der Gesamtbevölkerung ausmächen, mit denen der zentraleuropäischen Maturanten verglichen, die nur einen Bruchteil der Gesamtpopulation aller Achtzehnjährigen stellen.

Zur Schule gehört Leistung. Das kann nicht eindringlich genug wiederholt werden. Was Schülerleistung im einzelnen jeweils ist und sein soll, darüber möge sich die Schule in Korrespondenz mit der gesellschaftlichen Entwicklung stets aufs neue vergewissern, aber an der Heranbildung einer leistungsfähigen und leistungsbereiten Generation mitzuarbeiten, bleibt ihr unabdingbarer Auftrag. Wenn es nun nicht die selektierende Organisationsform ist, die den bestmöglichen Lernfortschritt des Schülers verbürgt, sondern - und darin stimmen die Untersuchungsergebnisse überein - die Lehrkapazität des Lehrers, dann stellt sich die Frage, welche Organisationsform die günstigsten Rahmenbedingungen für ein vorteilhaftes Schul- und Lernklima schafft.

Jedes vertikal gestufte System, ob das der facherübergreifenden Schichten (AHS, HS I. Zug, HS II. Zug) oder das der drei Leistungszüge der Integrierten Gesamtschule, trägt ein artfremdes Moment in den pädagogischen Bezug zwischen Lehrer und Schüler. Nach jeder Lernphase, die der Schüler unter der Anleitung des Lehrers hinter sich gebracht hat, tritt ihm der Lehrer als Richter gegenüber, um letztlich über den weiteren Verbleib in der betreffenden Lerngruppe zu urteilen. Der gute

Lehrer leidet unter dem Rollenwechsel vom Helfer zum Richter, die gefährdeten Schüler und mit ihnen alle Sensiblen leiden unter Angst. Die Dissertation ist noch nicht geschrieben, die nachweist, in wie vielen Fällen und wie massiv auch das Familienleben von der Despotie der schulischen Abstufungsprozeduren gestört wird.

Angst ist der bösartigste Begleiter der Lernenden. Sie ist etwas anderes als die wache Erregung, mit der auch Erwachsene neuen Anforderungen der Berufswelt begegenen, etwas anderes als die innere Aufgeladenheit,. die uns produktiv macht. Sie mindert die Quantität wie die Qualität der Aufgabenlösungen und durchsetzt nicht selten den pädagogischen Bezug mit Aggression und Haß. Niemand wird blind genug sein, die zunehmende Schulunlust allein der Schule und ihrem fortdauernden Selektionsprozeß anzulasten. Aber daß die Katarakte des vertikal gestuften Systems und der ewige Kampf gegen den Sog nach unten ihr gerüttelt Maß an der Bedrängnis haben, ist nicht zu leugnen.

Nicht minder verderblich wirkt sich die Selektionsideologie auf das Gemeinschaftsleben der jungen Menschen aus. Wenn Schule schon in der Pflichtschulzeit zur Kampfarena wird, auf der sich die Vergabe von knappen Plätzen in den oberen Sozialrängen entscheidet, wird die Sozialperson der Leistungsperson geopfert! Dann aber bleiben die klingenden Zielformeln vom demokratischen Zusammenleben, von Solidarität und gegenseitiger Wertschätzung ungedeckte Schecks, weü doch letztlich die Fähigkeit, sich als der Bessere zu erweisen, alles entscheidet.

(Der Autor ist Direktor der Pädagogischen Akademie der Diözese Linz. Ein zweiter Beitrag folgt.)

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