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Schüler verstehen kein Kirchen-Chinesisch

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Im laufenden Schuljahr 1970/71 haben sich im Bereich der Erzdiözese Wien kaum zwei Prozent der Schüler vom Besuch des Religionsunterrichtes abgemeldet. Freilich besagt eine 98prozen- tige Teilnahme am Religionsunterricht noch nicht automatisch ein überzeugtes Ja eines jeden Schülers zum christlichen Glauben; man soll den Religionsunterricht aber in dieser Hinsicht nicht überfordem, weil zwei Stunden Religionsunterricht pro Woche 166 anderen Stunden gegenüberstehen und das Elternhaus nicht immer und die Freizeitgesellschaft nur selten den Einfluß unterstützen wird, den der Religionsunterricht zu nehmen versucht.

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Im laufenden Schuljahr 1970/71 haben sich im Bereich der Erzdiözese Wien kaum zwei Prozent der Schüler vom Besuch des Religionsunterrichtes abgemeldet. Freilich besagt eine 98prozen- tige Teilnahme am Religionsunterricht noch nicht automatisch ein überzeugtes Ja eines jeden Schülers zum christlichen Glauben; man soll den Religionsunterricht aber in dieser Hinsicht nicht überfordem, weil zwei Stunden Religionsunterricht pro Woche 166 anderen Stunden gegenüberstehen und das Elternhaus nicht immer und die Freizeitgesellschaft nur selten den Einfluß unterstützen wird, den der Religionsunterricht zu nehmen versucht.

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Besonders in den letzten fünf Jahren spürt man — wenn man schon über 30 Jahre unterrichtet und daher einigermaßen Vergleiche anstellen kann —, einen starken Wandel in der Gesamthaltung der über vierzehnjährigen Jugendlichen, der durch die Umwelt außerhalb vom Elternhaus verursacht wird. Konkret könnte man etwa folgende Entwicklungen nennen, die den Religionsunterricht schwieriger machen:

Die „Konkurrenz” der Massenmedien

Die Menschen nehmen etwa 85 Prozent ihrer bleibenden Eindrücke durch das Auge auf, etwa 10 Prozent durch das Ohr und den Rest durch andere Sinnesorgane. Fernsehen, Illustrierte und Kino versuchen, besonders auf das Auge einzuwirken; der Schulunterricht beschränkte sich bisher vielfach auf das Zuhören. Nicht nur der Religionsunterricht, sondern jeder Schulunterricht ist deshalb einfach überfordert, wenn er hinsichtlich der Einprägsamkeit des Vorgetragenen etwa die „Konkurrenz” mit dem Fernsehen oder dem Kino aufnehmen soll.

So wird man beispielsweise’den Tais- fae* , fast,, durchwegs, geübten „Eron- talunterricht”, bei dem allein der Lehrer redet und die Schüler zuhören oder mitschreiben, auflockern müssen durch einen in die Unterrichtsstunde eingeplanten Dialog mit den Schülern. Ein solches Gespräch mit einzelnen Schülern vor der ganzen Klasse ist zugleich der sicherste und vielleicht einzige Weg, die Schüler zum Nachdenken über das Vorgetragene zu bringen und zu verhindern, daß Unverstandenes unreflektiert übernommen und dann bei einer etwaigen Prüfung auswendig gelernte Formeln deklamiert werden; letzteres ließe sich auch dadurch verhindern, daß man schon beim Zwölfjährigen beginnt, Fragen grundsätzlich so zu stellen, daß eine auswendig gelernte Antwort nicht gegeben werden kann (Verstandesfragen).

Die Konkurrenz durch das Bild in den Massenmedien kann den Religionslehrer veranlassen, die reichlich vorhandenen und zum Entlehnen angebotenen audiovisuellen Mittel mehr als bisher zu verwenden; das Katechetische Institut in Wien hat ausführliche Listen zusammengestellt, was für jede beliebige Schulstufe zur Verfügung gestellt werden kann.

Echtheit der Sprache und Glaubwürdigkeit

Weiters ist es keine ganz neue Erkenntnis mehr, daß bei der Darbietung des Lehrstoffes von der deduktiven Methode — besonders in der Unterstufe — zur induktiven übergegangen werden soll. Man beginnt also nicht mit dem Vorlesen eines Dekrets des Zweiten Vatikanums, dessen Inhalt man daraufhin interpretiert, sondern man geht wie die Massenmedien von einem interessanten Ereignis des Alltags oder von einem literarischen Text aus, der gerade recht aktuell ist und dessen Inhalt zum Thema des Unterrichts hinführt. Freilich wird man in der Oberstufe der AHS neben der induktiven Methode wieder stärker auch die deduktive anwenden können, um rascher zu klaren Aussagen zu kommen und damit zur eigentlichen Glaubenssubstanz; es wäre falsch, die ganze Stunde nur pak- kende Geschichten zu erzählen.

Junge Menschen merken es bald, wenn ein Lehrer nicht über dem Lehrstoff steht und ihr kritischer Sinn stellt rasch mangelnde theologische Ausbildung oder eine zu oberflächliche Vorbereitung auf eine Schulstunde fest, deren Bildungsziel nicht genügend überlegt wurde; sie schalten geistig ab, wenn man ihnen bloß ein „Geklingel von Worten” bietet, also ein Gerede ohne klar erkennbare sachliche Substanz. Über die Echtheit der Sprache entscheidet weitgehend der Gebrauch von Adjektiven; Johannes XXIII. mahnte bei der Eröffnung des Zweiten Vatikanums, die Priester mögen ihre Ausdrucksweise der Sprache unserer Zeit anpassen. Manche liturgische Texte und viele Lieder aus dem 19. Jahrhundert empfinden wir wohl deshalb als sentimental, weil sie — wie dies bei den romanischen und orientalischen Völkern üblich ist — ständig in Superlativen schwelgen; die Barockzeit ist aber schon längst vorbei und der nüchterne Mensch unserer Tage neigt — vielleicht auch wegen der aufdringlichen Reklame in den Massenmedien — eher zu einem „understatement”.

Förmelhäfte Wendungen, wie sie häufig im Katechismus Vorkommen, erstarren bald zu inhaltsleeren Begriffen. Die Liturgiereform versuchte ja mit einigem Erfolg, solche erstarrte Leerformeln bei der Meßfeier und bei der Sakramenten- spendung zu vermeiden, indem sie viel Abwechslung ermöglicht. Eine weitere Gefahr für den Religionsunterricht ist die Übernahme von Ausdrucksweisen, wie man sie oft noch bei theologischen Vorträgen und in manchen kirchlichen Verlautbarungen geboten bekommt; die Schüler verstehen dieses „Kirchen-Chinesisch” nicht! Jede lebendige Rede, die bei Schülern ankommen soll, lebt davon, daß sie konkret und anschaulich ist und daß man am Schluß der Unterrichtsstunde das angestrebte Lemziel in knappen Sätzen verständlich zusammenfaßt. Es mag zwar modem sein, recht viele Fragen anzuschneiden und sie dann gleichsam „im Raume stehen zu lassen” — das ist aber kein Religionsunterricht! Gewiß, man soll nicht eine Sicherheit vortäuschen, wo man sie nicht geben kann. Es bleibt, solange wir alles „nur wie in einem Spiegel und undeutlich sehen”, bei der „Ungewißheit und dem Wagnis des Glaubens”. Aber zuerst alles zu „verunsichern” und dann zu erwarten, die Schüler würden sich für ein Leben nach dem christlichen Glauben entscheiden, wäre doch ein zu naiver Optimismus.

In keinem anderen Unterrichtsgegenstand wird der Schüler so sehr wie im Religionsunterricht erwarten dürfen, daß der Lehrer mit seiner persönlichen Überzeugung hinter dem steht, was er vorträgt. Nur ein persönlich engagierter Lehrer wird über einen „verkürzten Religionsunterricht” hinauskommen er wird also nicht bloß informieren (etwa wie in „Sachkunde Religion”), sondern in unaufdringlicher Weise auch verkündigen, also sein eigenes „Credo” einfließen lassen, mehr durch seine Haltung und durch sein Leben als durch viele Worte. Zum „Verkündigen” würde auch das Bemühen gehören, die Teilnahme an religiösen Übungen zu ermöglichen, wie an Sdhulgottes- diensten, Beichtgelegenheiten, Ein kehrtagen und Exerzitien; der Religionslehrer soll dazu einladen, aber dabei jeden Anschein eines Zwanges oder gar einer Gegenkontrolle vermeiden. Ganz arg wäre es, würde einer die religiöse Praxis seiner Schüler bei der Notengebung einkalkulieren. Man muß freilich auch das andere Extrem ablehnen, nämlich die in ihren Konsequenzen zu wenig überlegte Forderung, man möge die Notengebung im Religionsunterricht überhaupt abschaffen; damit würde man den Unterrichts- gegehstand „Religion” zu einem unverbindlichen Debattierklub degradieren, der dann wohl bald aus einem ernstzunehmenden Unterrichtssystem eliminiert würde. Schwierigkeit wird der Religionsunterricht an der Oberstufe der AHS noch einige Zeit leiden weil zwar schon seit drei Jahren ein neuer Lehrplan vorhanden ist und in Schulversuchen auch schon erprobt wird, es aber einfach nicht möglich ist, in so kurzer Zeit auch schon brauchbare Lehrbücher zur Verfügung zu stellen. Immerhin gibt es für die 5. und 6. Klasse schon Lehrerbehelfe, und für die 7. Klasse kann man für etliche im neuen Lehrplan vorgesehene Lehreinheiten die entsprechenden Kapitel aus dem schon vorhandenen Lehrbuch „Wir und die Welt” von der Maturaklasse verwenden.

Die heutige Pluralität der theologischen Auffassungen

Der Religionsunterricht ist auch deshalb schwieriger geworden, weil es heutzutage eine von der Kirche anerkannte, also legitime Pluralität von theologischen Aussagen über bestimmte Glaubens- und Sittenlehren gibt. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich dabei aber nicht um widersprüchliche Auffassungen, sondern eher um verschiedene Aspekte, unter denen man ein bestimmtes Problem früher betrachtete und jetzt neu sieht. Ich versuche gelegentlich, diesen Tatbestand meinen Schülern mit einem Vergleich begreiflich zu machen: Wenn man eine ganze Schulklasse zu einem Lehrausgang nach St. Stephan führt und gleich ankündet, daß darüber eine Schularbeit im Deutschunterricht zu erwarten ist, wird jeder Schüler bei der etwa zweistündigen Besichtigung gut aufpassen, daß ihm nichts Wesentliches entgeht. Trotzdem wird dann jeder in seiner Schularbeit im Detail etwas anderes hervorheben; der eine vielleicht das romanische Riesentor und die Heidentürme, der andere den gotischen Hochturm und wieder ein anderer vielleicht die barocken Altäre oder das Renaissancegrab Friedrich III.; diese unterschiedlichen Darstellungen mit der Überschrift „Unser Besuch im Wiener Stephansdom” sind aber keine gegensätzlichen oder gar widersprüchlichen Aussagen. Ähnlich ist es zumeist bei der durchaus legitimen Pluralität theologischer Auffassungen: Die Dogmen sind oft in einer polemischen Situation entstanden, sie sind’ somit eine klare Formulierung der Glaubenslehre zwecks Zurückweisung einer gerade aktuellen Irrlehre. Später hat man über die betreffende Glaubenslehre wieder nachgedacht und sie von einem ganz anderen Blickwinkel her noch tiefer erfaßt; ohne das seinerzeit formulierte Dogma abzulehnen, kann die neue Sicht eine Bereicherung und Ergänzung des bisherigen Verständnisses bedeuten.

Das Ziel des Religionsunterrichtes

So wie beim angeblichen Dilemma von „Informieren” oder „Verkündigen” ein Sowohl-als-auch angestrebt werden soll, ist beim Streit zwischen materialer oder funktionaler Bildung eine einseitige Entscheidung nicht sinnvoll: nicht bloß Vermittlung bestimmter vorgeschriebener Lehrinhalte um einer zweckfreien Bildung willen, sondern auch als Erziehungsaufgabe, um den Schüler zu befähigen, später einmal bestimmte Lebenssituationen zu bewältigen. Der Unterricht kann beim Schüler natürlich nicht die Verhaltensweise als solche gleichsam „programmieren”, aber der Religionsunterricht sollte eine Verhaltensdisposition anstreben, eine latente Fähigkeit, die in entsprechenden Situationen in ein konkretes Verhalten übergehen kann.

Der Religionsunterricht hat bisher zwar erreicht, daß 50 bis 80 Prozent der wichtigsten Glaubens- und Sittenlehren im Gedächtnis haften blieben, aber kaum, daß sie in der Lebenswirklichkeit, im praktischen Verhalten nach der Schulzeit stets berücksichtigt werden; man darf den Religionsunterricht aber nicht überfordern, wie schon gesagt wurde; besonders jene Schüler, die weder aus einem gläubigen Elternhaus kommen noch von der Glaubensgemeinschaft einer Jugendgruppe getragen werden, in der sie geistig beheimatet sind, werden vom Religionsunterricht allein kaum für ihr ganzes Leben zu praktizierenden Christen „gemacht” werden.

Neue Schwierigkeiten in Sicht?

In manchen AHS kann man in letzter Zeit gelegentlich eine gezielte Gegenarbeit radikaler Schülerzellen feststellen, die — mit Erfahrungen und Inspirationen besonders aus der BRD versorgt — in raffinierter Weise versuchen, den Religionsunterricht „umzufunktionieren”. In solchen Fällen wird es weitgehend vom persönlichen Kontakt des Religionslehrers mit der betreffenden Klasse ab- hängen, ob sich die — meist in überwiegender Mehrheit vorhandenen — guten Schüler gegen die zwei bis drei Agitatoren durchsetzen. Man müßte nach dem Gleichheitsgrundsatz auch dem Religionslehrer die Möglichkeit geben (nach vorherigem Schlichtungsversuch mit den betreffenden Schülern, nach Rücksprache mit deren Eltern, nach Kontaktaufnahme mit dem Klassenvorstand und mit der Direktion) solche systematische Störenfriede von der Teilnahme am Religionsunterricht auszuschließen.

Ungünstig würde sich die völlige Angleichung des Lehrplanes der Unterstufe der AHS an jenen der Hauptschule auswirken, weil damit gerade in unserer Zeit eines neuen Bibelverständnisses der Bibelunter- richt in der 3. und 4. Klasse der AHS wegfallen würde, also die einzige Möglichkeit, im Verlauf der acht Jahre das Alte und das Neue Testament in seinen wesentlichen Teilen kennenzulernen.

Eine völlig neue Situation würde die etwaige Einführung des Kurssystems in der Oberstufe der AHS herbeiführen; dabei würde ja verlangt werden, daß jeder Schüler sich zu Kursen bestimmter Unterrichtsgegenstände anmelden muß, während er sich zum Religionsunterricht wohl anmelden kann, aber nicht muß (nach der derzeitigen Gesetzeslage können die Eltern ihr Kind in der Unterstufe abmelden, während sich die über Vierzehn jährigen selbst vom Religionsunterricht abmelden können). Eine Einführung des Kurssystems würde speziell dann, wenn eine gezielte Agitation gegen den Religionsunterricht aufkäme, zur stillen Liquidation des Religionsunterrichts an den AHS führen.

Gerade der Religionsunterricht ist jenes Fach, das eine Synthese der verschiedenen Unterrichtsgegenstände herbeiführen kann und soll, indem er den Stellenwert des Weltbildes der Physik, der Biologie, der Anthropologie für den Alltag des Menschen aufzeigt und eine kritische Würdigung der wichtigsten Versuche großer Denker der Menschheit (wie Kant, Schopenhauer, Karl Marx, Friedrich Engels, Lenin, Nietzsche, Camus, Heidegger, Jasper, Sartre usw.) ermöglicht, die eine Antwort auf jene Fragen zu geben versuchten, deren richtige oder falsche Lösung sich stärkstens im Alltag eines Volkes auswirkt. Manche Völker leiden heutzutage noch unter einer falschen Beantwortung der Sinnfrage, und auch wir haben es miterlebt, welche Konsequenzen es für ein ganzes Volk hat, wenn gerade jene tiefsten und letzten Fragen unrichtig beantwortet werden, um deren Klärung sich der christliche Religionsunterricht bemüht, nämlich die Fragen nach dem „Woher? Wozu? Wohin?”.

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