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Bildung ist Auslese

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Die gesellschaftliche Entwicklung und der technische Fortschritt bringen es mit sich, daß Erziehung und Schulbildung gegenwärtig immer mehr in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt werden. Mit dem Blick auf die nächsten Jahrzehnte stellt sich die Frage, ob wir für die zukünftigen Anforderungen an das Erziehungssystem ausreichend gerüstet sind. Im allgemeinen wird diese Frage unter dem Aspekt der „Begabtenreserve“ gesehen.

College ist nicht Universität

Was Österreich betrifft, stellt man die Lage wiederholt dadurch als ausgesprochen katastrophal dar, daß in Gegenüberstellung mit den hohen Vergleichszahlen aus den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion auf die verschwindend kleine Zahl der Besucher unserer Universitäten hingewiesen wird. Minderwertigkeitsgefühle gibt es aber nicht nur bei uns zulande. So scheint es, als wäre der ganze alte Kontinent in einem recht bewegten Aufbruch begriffen, der die Tendenz zur enthusiastischen Übernahme jener nun auch jenseits des Ozeans nicht mehr unangetasteten Bildungskonzeption verrät.

Es wäre sehr zu wünschen, wollte man die ehrliche Besinnung der Amerikaner auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts in unserem Lande etwas ernster nehmen. Dann würde man auch nicht, was den Besuch der Hochschulen betrifft, von dem bekannten statistischen Zahlenspiel getäuscht werden. Man begeht die größte Selbsttäuschung, sagt der amerikanische Vizeadmiral Rickover in seinem Buch „American Education — a National Failure“, wenn man immer wieder die Collegeerziehung mit der Universitätsausbildung in Europa gleichsetzt und sich dessen rühmt, daß in den USA 25 Prozent der Jugendlichen eine „Hochschule“ besuchen, gegenüber nur 4 Prozent im europäischen Durchschnitt. Das amerikanische College ist also eine höhere Lehranstalt, die meist der Universität eingegliedert ist, in der aber nachgeholt wird, was in der Pflichtschule (high school) versäumt wurde.

Es ist außerordentlich wichtig, daß wir die unseren Schulen gestellten Aufgaben und die gesamten damit zusammenhängenden Probleme in der richtigen Perspektive sehen. Dazu ist vielleicht ein Blick über den Ozean recht heilsam. Fruchtbar könnte auch sein, daß die „Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit“, die OECD, österreichischen Psychologen und Schulmännern den Auftrag erteilt hat, sich in einem „Modellfall“ mit dem Problem der Begabtenauslese zu beschäftigen.

Modellfall Burgenland

Aus verständlichen Gründen hat man für diese Untersuchung das Burgenland ausgewählt, also ein Bundesland, das die wenigsten höheren Schulen besitzt. Nach dem Bericht dieser im Schuljahr 1964/65 durchgeführten Erhebungen gibt es im Burgenland bei annähernd 30.000 Schülern der Volks- und Hauptschulen ungefähr 6000 Knaben und Mädchen, die für eine höhere Schule begabt gewesen wären. Das ist gewiß eine beachtliche Zahl. Man hat daher mit Recht der Frage die besondere Aufmerksamkeit zugewandt, weshalb so viele Kinder von der höheren Schule „ausgeschlossen“ waren. Was darüber erhoben wurde, läßt zunächst einmal ganz allgemein erkennen, daß dem eigentlichen sozialen Moment, das auch heute noch nicht selten in den Vordergrund gerückt wird, durchaus nicht die entscheidende Bedeutung zukommt.

Jener erste Punkt der Empfehlungen des Berichtes, der betont, es müßten mehr Mittelschulen eröffnet werden, kennzeichnet am besten die Situation. Wenn auch in Österreich wie in allen Kulturstaaten vom Schulgesetz aus längst die Voraussetzungen geschaffen worden siind, allen Kindern die gleichen Chancen für Erziehung und Bildung zu gewähren, so scheitert die Erfüllung dieses Grundsatzes rein technisch, wie gerade an dem untersuchten

Bundesland sichtbar wird, daran, daß nicht die genügende Anzahl von Schulen vorhanden ist.

Verbesserte Auslese

Was aber in den Vorschlägen der erwähnten Untersuchung an zweiter Stelle aufscheint, zeigt, daß wir es bei dem Problem, das uns gestellt ist, doch nicht einfach mit einer Angelegenheit der „großen Zahl“ oder, um ein häufig gebrauchtes Wort zu zitieren, der „Verbreiterung der Basis“ zu tun haben. An der genannten Stelle ist von einer Maßnahme die Rede, die für die gesamte Situation des Schulwesens in unserem Lande von Bedeutung ist, also auch für jene Gegenden, in denen Schulen in dem gewünschten Maß vorhanden sind. So wird nämlich ausdrücklich gefordert, daß die Auslesemethoden zum Besuch der höheren Schule verbessert werden sollten. Man kann nun über die vorgeschlagenen Methoden, genaue Tests der Kinder schon in der vierten Klasse der Volksschule, verschiedener Meinung sein. Nie sollte man jedenfalls das Urteil der Lehrer dieser Schulabgänger so ganz und gar ignorieren. Unbedingt ernst zu nehmen ist aber das, was über die strengere Auslese auf der Unterstufe der höheren Schule gesagt wird: „Rechtzeitige Ausmerzung ungeeigneter Schüler“, die den Begabten den Platz „versitzen“.

Gerade solange Mangel an höheren Schulen besteht, ist jeder Platz darin ein kostbarer Besitz. Je mehr man über diesen Mangel klagt, um so größere Bedeutung müßte man der vorgeschlagenen Maßnahme beimessen, deren „Härte“ nichts bedeutet gegenüber den „Leiden“, die Schüler und Eltern, aber nicht weniger auch die Lehrer während des ständigen Scheiterns der sich über etliche Jahre hinziehenden Bildungsbemühungen erleben. Ganz unverständlich ist es daher, daß, wenn auch „versuchsweise und vorbehaltlich einer endgültigen gesetzlichen Regelung“, durch ministerielle Verordnung verfügt wird, daß Schüler bei negativem Abschneiden in den ersten beiden Klassen der höheren Schule erst nach drei unmittelbar aufeinanderfolgenden Jahren an die Pflichtschule zurückverwiesen werden dürfen.

Warum „hindurchprügeln“?

Mehr Bildung, das ist gewiß eine berechtigte Forderung. Es ist aber sehr fraglich, ob sich dieses Ziel dadurch erreichen läßt, daß völlig Ungeeignete, selbst wenn sich Psychologen und Pädagogen über deren Beurteilung einig sind, mehr oder weniger gewaltsam in der höheren Schule festgehalten werden. Wenn man davon gesprochen hat, daß alle Schüler, die trotz ihrer Intelligenz nicht die höhere Schule besuchen, wegen des großen Bedarfs an Ingenieuren und Professoren in diese Schulen „hineingeprügelt“ gehörten, so kann das nicht zugleich auch bedeuten, daß man die Unbegabten „hindurchprügeln“ sollte. Ein gesunder Standpunkt ist darin zu sehen, was J. B. Conant nach der versuchten Neuorientierung der amerikanischen Schule auch für sie fordert, nämlich daß „der akademisch-talentierte Student genügend herausgefordert“ werde. Umgekehrt wieder muß vor einer vollständigen „Auspowerung“ der Hauptschule und Volksschuloberstufe, wie das ein deutscher Psychologe recht drastisch ausgedrückt hat, entschieden gewarnt werden. Es ist nicht einzusehen, weshalb diese Schulgattung nicht ebenso zur Heranbildung geeigneter Fachkräfte berufen sein sollte.

Mehr Bildung! Ja. Das heißt aber nicht zuletzt: Mehr Bildung für die wirklich Begabten. Dazu bedarf es keiner großartigen organisatorischen Maßnahmen oder ausgeklügelter Reformen. Ohne Geld geht es freilich nicht. Wenn uns die Bildung etwas wert ist, dann müssen wir auch etwas investieren. Bei allem aber, was zur Förderung des Schulwesens getan wird, darf, worauf man nicht oft genug aufmerksam machen kann, nicht die Rechnung ohne den Wirt gemacht werden. Das ist aber in diesem Fall der Pädagoge, und zwar in doppeltem Sinne. Erstens wird man seiner praktischen Erfahrung nicht entraten können, wie in Anbetracht der großen Zahl derjenigen festgestellt werden muß, die sich die Gestaltung der neuen Schule angelegen sein lassen. Sodann aber ist doch wohl zu bedenken, daß mit den um viel Geld und mit viel Glanz errichteten Schulhäusern nichts getan ist, wenn es keine Lehrer und Erzieher gibt, die sich bereit finden, die mühevolle und nicht immer entsprechend „gelohnte“ Arbeit auf sich zu nehmen. Man hat in dieser Hinsicht schon Sorgen, wenn man an das neunte Schuljahr denkt. Soll daher etwas für die Schule getan werden, muß vorerst etwas für die Lehrer und ihre Heranbildung getan werden.

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