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Die Waldorf-Padagogik setzt schon beim Lehrer an

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Das kleine Barock-Schloß in Wien-Mauer, in dem die Steiner-Schule zu Hause ist, strahlt Tradition aus. Hier werden jedoch Ideen verwirklicht, die trotz ihres Alters von mehr als 60 Jahren moderner anmuten als die vielen Schulreformversuche der letzten Jahre, die in reinen Strukturveränderungen steckengeblieben sind.

Die Steiner-Schule ist mit den herkömmlichen Schultypen schwer zu vergleichen. Sie hat nicht nur eine völlig andere Organisationsform, sie vermittelt auch die Lerninhalte anders und legt für den Lernerfolg andere Maßstäbe an.

Einen Direktor wird man hier vergeblich suchen. Die Schulleitung besteht aus einem Lehrerkollegium. Auch die neuesten technischen Geräte fehlen, und Lehrbücher spielen kaum eine Rolle. In einem weitgesteckten Rahmen steht es dem Lehrer frei, den Lehrstoff der Klasse, ihrem Bewußtseinsstand und ihren Fähigkeiten anzupassen. Nicht die Leistung ist ausschlaggebend, sondern die gesamte Entwicklung des Kindes, seine seelische, körperliche und religiöse Fortbildung steht gleichrangig neben seiner geistigen. Noten wären da fehl am Platz. Sie werden durch eine schriftliche Bewertung mit kritischen und lobenden Anmerkungen ersetzt.

Fast überflüssig zu erwähnen, daß ein solcher Lehrplan - der überdies in allen Gegenständen, auch in Handarbeiten, für Buben und Mädchen gleich ist -, bei dem die Hauptverantwortung die gesamte Pflichtschulzeit hindurch der Klassenlehrer trägt, einer besonderen Ausbildung bedarf. Hier liegt eine weitere Besonderheit der Steiner-Schule: Die „Waldorfpädagogik“ beginnt nicht beim Kind, sie setzt beim Lehrer an. Steiner hat richtig erkannt, daß Erziehen und Lehren eine Frage der menschlichen und geistigen Bildung des Lehrers ist. Ihm muß es gelingen, seine Schüler so zu motivieren, daß sie auch einander helfen und damit jede Nivellierung von vornherein ausschließen.

Wieso eigentlich heißen die von Rudolf Steiner begründeten Schulen Waldorf-Schulen? Die Antwort zeigt ein weiteres Charakteristikum auf.

Die erste Schule dieser Art entstand auf dem Fabriksgelände der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart für die Kinder ihrer Arbeiter und Angestellten. Der Lehrplan der Steiner-Schule will nicht nur verschiedenen Begabungen, sondern auch allen sozialen Schichten die gleiche Chance geben. Daß das in Wien nur sehr begrenzt möglich ist, ist eine Frage der finanziellen Situation der hiesigen Anstalt Schon die Einräumung des öffentlichkeitsrechtes vor einigen Jahren hat die Gesetzeslage gehörig durcheinandergebracht Die Zuerkennung einer Subvention konnte bisher nicht durchgesetzt werden, weil sie an eine bestimmte, bei allen anderen Schulen übliche Organisationsform mit den in Österreich üblichen Lehrplänen gebunden ist Das bedeutet, daß sich die Schule in Mauer selbst erhalten und Schulgeld verlangen muß. Das bedeutet weiter, daß trotz erheblich größerem Einsatz die Lehrer schlechter bezahlt sind als ihre Kollegen in subventionierten Schulen und daß die Schule im wesentlichen auf Spenden angewiesen ist.

In dieser schwierigen finanziellen Situation hat sich ein Vorteil sehr bewährt, um den andere Schulen bisher erfolglos kämpfen. Die völlige Integration der Eltern in den Schulbetrieb, die ständige Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern, wodurch die' Erziehung in der Schule und jene in der Familie beinahe nahtlos ineinander übergehen. Als die Schule die Köchin aus finanziellen Gründen entlassen mußte, sprangen zwei Mütter ein, die seither abwechselnd fünfmal in der Woche das Mittagessen für das Lehrpersonal und für jene Kinder kochen, die Nachmittagsunterricht haben oder deren Eltern berufstätig sind. Eine der beiden Mütter tut dies sogar umsonst.

Im Steiner-Lehrplan ist das spielerische und kreative Element von großer Bedeutung. Im Gegensatz zu den Lehrplänen anderer Schulen ist die Einbeziehung der handwerklichen und landwirtschaftlichen Arbeitswelt eine Selbstverständlichkeit Konsequenterweise, weil dem prüfungs- und notenfeindlichen Prinzip entsprechend, schließen Steiner-Schüler nach zwölf Jahren nicht mit der Matura ab. Für sie hat in Wien die Maturaschule Roland einen eigenen, einjährigen Maturalehrgang eingerichtet.

Die Steiner-Schule in Mauer besuchen 368 Mädchen und Buben. Sie werden von rund 30 in- und ausländischen Lehrkräften unterrichtet. Die Zahl der Bewerber steigt von Jahr zu Jahr, aber das Lehrerteam möchte die Schülerzahl überschaubar halten und weiterhin nur eine Klasse pro Jahrgang führen. Beim näheren Kennenlernen fallen die Ähnlichkeiten dieser Schule mit der so heiß diskutierten Gesamtschule auf. Das Argument für die Ablehnung der Gesamtschule wird ihre Gegner wie ihre Befürworter gleichermaßen in Erstaunen setzen: Steiner-Pädagogen halten sie für zu stark leistungsorientiert Dazu kommt, abgesehen von allen Verschiedenheiten in den jeweiligen Strukturen und Lehrplänen, doch eins: Hier entfällt ein Lehrer auf etwa zwölf Kinder, also auf höchstens halb so viel, als er in einer Gesamtschule -im Normalfall - unterrichten müßte. Worin wohl überhaupt der Kern der Schulproblematik liegt.

Ein Einwand, der gegen den Steiner-Lehrplan immer wieder vorgebracht wird, lautet: Hier wachsen junge Menschen heran, die weltfremd sind, Leistungsansprüchen nicht gerecht werden können und an den Forderungen ihrer späteren Berufswelt scheitern werden. Sicher spielt das soziale Moment in der Erziehung hier eine größere Rolle als die Leistung oder wirtschaftliche Überlegungen. Man mag das in unserer Gesellschaft als weltfremd bezeichnen. Aber die Kinder lernen, Augen und Ohren offenzuhalten, miteinander zu sprechen, Konflikte zu erkennen und zu bewältigen und Kritik konstruktiv anzubringen.

Die Erfahrungen in mehr als 120 Steiner-Schulen in Europa, Südafrika, Süd- und Nordamerika und Australien haben gezeigt, daß ihre Schüler sich ebenso gut in der Welt zurechtfinden wie alle anderen. Aber selbst wenn sie in ihrem späteren Lebenskampf nicht immer besser abschneiden: Angstfreies Lernen in einer Schulgemeinschaft, an der auch Lehrer und Eltern so viel positives Interesse zeigen, ist sicherlich ein guter menschlicher Start. Und wer kann schon von sich behaupten, daß er gerne an seine Schulzeit zurückdenkt?

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