Klassenlose Kids

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Als einzige öffentliche Schule Wiens bietet die "Integrative Lernwerkstatt Brigittenau" Reformpädagogik pur: statt Noten und Klassen Neugier und Selbständigkeit.

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Als einzige öffentliche Schule Wiens bietet die "Integrative Lernwerkstatt Brigittenau" Reformpädagogik pur: statt Noten und Klassen Neugier und Selbständigkeit.

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Ein Boomerang segelt durch den Gang, kehrt folgsam um - und landet flugs auf der Treppe. Hintendrein kollert ein Ball, und ein Trommler schlägt dem Tohuwabohu den Takt. Die große Pause verlangt den Taferlklasslern alles ab. Nur der "Tobe-Raum" spielt noch mehr Stückerln, weiß der kleine Stijepan - ein Grund mehr, auch am Nachmittag gern in die Schule zu gehen, "weil man da catchen kann."

Auf seinen nächsten, planmäßigen Tobsuchtsanfall muss der Neunjährige freilich noch warten: Für ihn und alle Kinder der "Stammgruppe B" ist gerade Jausenzeit angesagt. Wie jeden Donnerstag schmieren sie gemeinsam mit Harry Brote und schneiden Obst oder Gemüse zu. Keinen hält es bei der Zubereitung auf dem Sessel, nur Alex bleibt auf seinem Platz und verteilt den Aufstrich konzentriert auf der Scheibe Brot. "Alex ist unser Behinderter", klärt uns die achtjährige Ella auf. Dass er zwei Tage zuvor Gummitiere ins Wasser geworfen hat, "obwohl wir gesagt haben, das darf er nicht", findet sie gar nicht lustig - und erfährt prompt von ihrem sechsjährigen Kollegen Widerspruch: "Doch, das war lustig, das war ja das erste Mal."

Bunte Melange Abseits des Getümmels erklärt Harry alias Harald Jungwirth den Sinn der Übung: "Unser Ziel ist es, dass die Kinder eine gewisse Selbständigkeit und Eigenverantwortung lernen und sich ihr Lernpensum selbst geben." Gemeinsam mit einer ausgebildeten Sonderschullehrerin unterrichtet er die Stammgruppe B, 20 Kinder im Alter von sechs bis 10 Jahren. Alljährlich scheiden drei bis fünf ältere Kinder aus der Gruppe aus, jüngere kommen dazu. Nicht nur der Altersmix, auch Integration wird in der Lernwerkstatt großgeschrieben: Maximal drei körperlich oder geistig behinderte Kinder werden pro Gruppe betreut - das "Haupteinsatzgebiet" des Zivildieners Stefan. "Es ist schon alles ziemlich anstrengend", gibt er zu. "Aber es ist eine schöne Erschöpfung."

Dass sich die integrativen Mehrstufenklassen insgesamt positiv auf die Kinder auswirken, davon ist Schuldirektor Josef Reichmayr überzeugt: "So ist nicht nur die Frau Lehrerin Vorbild, sondern es werden alle Ressourcen in den heterogenen Gruppen genutzt." Alle Fächer werden gemeinsam unterrichtet, nur in Deutsch und Mathematik wird die Gruppe gesplittet. Projektbezogenes Lernen soll die Kinder ebenso anregen wie das eineinhalbstündige Zeitfenster am Dienstag: Neun Kurse - von Tanzen über Märchen bis zu "Mathe für Überflieger" - können die Kleinen wählen. Freitags beim "Klassenrat" wird demokratisches Handeln geübt. Und die Präsentation des Gelernten vor den Eltern soll ein positiveres Bild vom Lernen vermitteln als dies Noten je könnten. Nur im Jahreszeugnis der vierten Schulstufe ist für Ziffern Platz.

Das Brigittenauer Pädagogikprojekt erfreut sich großer Beliebtheit: Insgesamt 160 Kinder in acht Stammgruppen besuchen die etwas andere öffentliche Schule - kostenlos. Allein die Nachmittagsbetreuung schlägt sich bei den Eltern mit 58 Schilling täglich zu Buche. Dabei war der Erfolg des im September 1998 gestarteten Schulversuchs einer "Offenen Volksschule" mit flexibler Nachmittagsbetreuung keineswegs vorprogrammiert, erzählt Reichmayr: "Gerade das erste Jahr mit den vielen Quereinsteigern war ein Sprung ins kalte Wasser. Wir starteten immerhin von null auf sieben Stammgruppen." Zwar sei man zur Gänze reform-pädagogisch ausgerichtet, doch trage man deshalb "kein bestimmtes Mascherl": "Unsere Schule gibt sich bewusst nicht den Titel Montessorischule. Wir sind hier relativ offen. Gradmesser ist als öffentliche Schule jedenfalls der Volksschullehrplan", stellt der Direktor fest.

Gemeinsam ist der "Stockbelegschaft" von 16 Lehrerinnen und Lehrern wie auch den so genannten "SpezialistInnen" für Religion, Werken, Computer, Tanzen und Märchen, den elf Nachtmittags-Betreuerinnen und den "ambulanten" Lehrkräften der spezielle Zugang zum Kind, weiß der langjährige Volksschullehrer Reichmayr: "Der Begriff ,LernbegleiterInnen' drückt einiges aus von unserer Philosophie. Wir begleiten Schüler und Schülerinnen ein Stück des Weges, beim Eintauchen in die Kulturtechniken und beim sozialen Lernen."

Elterliche Ambitionen Mitmachen, sich einmischen lautet die Devise, nicht nur für die Kinder, sondern auch für ihre Eltern. Eine Forderung, der die meisten ohnehin nachkommen, weiß Martina Engelbrecht. Zwei Stockwerke über der Direktion betreut sie mit ihrer Kollegin gerade die "Gruppe G" bei der Freiarbeit: "Die Kinder arbeiten individuell und berichten dann im Kreis über ihre Arbeit," beschreibt sie die Geschäftigkeit im Raum. Und die Disziplin? "Super", meint sie nur und weiß auch den Grund: "Die Kinder bringen einen sehr guten Hintergrund mit: Eltern, die sich Gedanken machen."

Gedanken mache sie sich viele, flüstert eine Beobachterin des Geschehens, ohne ihren Blick abzuwenden. Ihr Kind werde im September eingeschult, erklärt die Mutter, "und ich schaue drauf, ob es keinen Bubenüberhang gibt und ob die Lehrer respektvoll mit den Schülern umgehen." Die Frau kommt aus dem Schauen nicht heraus: "Erstaunlich, dass sie einander um Rat fragen", wundert sie sich und scheint schon überzeugt zu sein von der Schule ihrer Wahl. Eine Wahl, die neben aller Sonnen- auch ihre Schattenseiten hat, wie der Direktor zugibt: "Es ist schon eine Art von Ernüchterung, wenn die Kinder in das AHS-System eintauchen. Es mag auch sein, dass sie tendenziell in Orthographie schlechter sind. Aber vielleicht schreiben sie die kreativeren Texte und sind mehr Diskussionskultur gewöhnt als andere." Und die Lehrenden bekämen endlich die Chance, "sich nicht nur mit Kleinkrieg beschäftigen zu müssen."

Indes wird an anderer Front mobil gemacht: Durch die budgetären Ein-sparungen drohe den Wiener Pflichtschulen eine massive Kürzung von Planposten und Mitteln, fürchtet Gerhard Mader, Geschäftsführer des Landesverbandes Wien der Elternvereine an öffentlichen Pflichtschulen. "Vorsichtig optimistisch" zeigt man sich dagegen bei der Pflichtschullehrer-Gewerkschaft: Ob die Zuschläge für Integrationsklassen, Nachmittagsbetreuung und Förderunterricht erhalten bleiben, sei noch Verhandlungssache. Auch in Brigittenau haben die Sparpläne für Unmut gesorgt. "Das Schreckensszenario wäre, dass ich 150 Stunden und alle Spezialisten abbauen muss", fürchtet Direktor Reichmayr. Zwar ist die reformpädagogische Strömung in Wien fest verankert, doch seien die drohenden Kürzungen, mäßig förderlich für die Motivation der Lehrer. "Aber die holen wir uns ohnehin von den Kindern."

Voll Tatendrang ist die Gruppe B nach der Jause auch im Sachunterricht. Blut-Herz-Kreislauf ist Harrys Thema, während sich die Kinder mithilfe einer CD-Rom über den Körper schlau machen können. Wie in allen Wiener Volksschulklassen stehen den Kleinen zwei Computer zur Verfügung - "um den Umgang mit dem PC als Kulturtechnik zu lernen", so Harry. Dass der Computer nicht bloß zum Spielen da ist, ist den Knirpsen nicht neu: "Ich habe eine Homepage mit Foto", strahlt der siebenjährige Emmanuel. "Ich schreibe Tiergeschichten", verkündet die kleine Ella. Was sie einmal werden wollen? Archäologin, sagt die eine, Schriftstellerin die zweite, Arzt die dritte. "Falsch", klärt sie die kluge Ella auf. "Arzt kannst du nicht werden, nur Ärztin."

Informationen unter www.lernwerkstatt.or.at und beim Bundes-Dachverband für selbstbestimmtes Lernen "Netzwerk", Tel. (01) 526 94 40-0

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