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Welche Schulen für Behinderte?

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Integration - ein Modebegriff moderner Pädagogik: Soll sie dazu führen, daß die Sonderschulen abgeschafft werden, behinderte Kinder Regelschulen besuchen? Eine umstrittene Frage-und unterschiedliche Lösungsansätze.

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Integration - ein Modebegriff moderner Pädagogik: Soll sie dazu führen, daß die Sonderschulen abgeschafft werden, behinderte Kinder Regelschulen besuchen? Eine umstrittene Frage-und unterschiedliche Lösungsansätze.

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In der Pädagogik werden die Zielvorstellungen integrativer Prozesse von den wissenschaftlichen Grunddisziplinen bestimmt. Ist dies die Psychologie, dann steht die Hinführung zum harmonischen, innerlich sicheren Menschen im Vordergrund (personale Integration). Bei soziologischer Sichtweise geht es um die Einbeziehung des Individuums in gesellschaftliche Strukturen und Prozesse (soziale Integration).

Soll etwa ein behindertes Kind schulisch integriert werden, kann dies nur dann erfolgreich geschehen, wenn beide Aspekte beachtet werden: der personale, in dem behinderungsspezifische Entwicklungsreize dem Kind Erfolg und

Selbstwertgefühl vermitteln; der soziale, in dem gesellschaftliche Teilhabe einen gegenseitigen Lernprozeß ermöglicht.

Eines ist ohne das andere undenkbar. Jedes Absolutsetzen eines Aspektes unterbricht jenen Entwicklungsprozeß, der auf persönlichen und sozialen Erfahrungen aufbaut und bei Behinderten besonders, bedeutsam ist.

Schulische Integration ist umso erfolgreicher, je höher die Fähigkeit des Behinderten zur Kompensation entwickelt wird. Das heißt, daß Integration von der intellektuellen Ausstattung mitbestimmt wird. Viele körper-, sinn-und sprachbehinderte Kinder verfügen über diese intellektuellen Fähigkeiten und können gut integriert werden.

Ein wesentlicher Faktor ist dabei auch die Technik (Computer, optische und akustische Hilfsgeräte ...). Diese Hilfen haben motorische Fähigkeiten oder Sinnesfunktionen zu verstärken oder zu ersetzen, sodaß ein erfolgreiches Lernen nach dem Lehrplan der Volksschule oder der Hauptschule (HS) im Heimatort möglich ist.

Diese „Erste Stufe der Integration“, wie ich sie bezeichnen möchte, ist in Oberösterreich vollzogen. Zwei ambulante Sonderschullehrer sind ständig unterwegs, um möglichst heilpädagogische Bedingungen am Ort zu erreichen.

Ähnlichen Absichten dient ein Schulversuch, der in einer Reihe von Bezirken Oberösterreichs für verhaltensauffällige Schüler eingerichtet wurde. Hier betreuen Sonderschullehrer das Kind in seinem Umfeld und ermöglichen ihm damit Verhaltensweisen, die einen positiven Lernabschluß zulassen. Verhaltensprobleme werden uns in den nächsten Jahren zunehmend Schwierigkeiten bereiten, weil sie immer jüngere Kinder erfassen.

Eine „Zweite Stufe der Integration“ ist derzeit im Versuchsstadium. Sie umfaßt Kinder mit Beeinträchtigungen verschiedenster Genese (endogen oder exogen bedingt), die alle ein Problem gemeinsam haben, daß sie wegen ihrer Lernbehinderung die üblichen Anforderungen der Volks- oder Hauptschule nicht erfüllen können.

Bei heilpädagogischer Füh-“ rung, in der kleinen Gruppe, ist es aber durchaus möglich, einen vollen Schulabschluß und Berufsfähigkeit zu erreichen. Dies beweisen viele Schulen im Land, die nach dem Lehrplan der Allgemeinen Sonderschule (ASo) geführt werden.

Trotzdem ist diese Schulart vielen Angriffen ausgesetzt und erlebt in den letzten Jahren einen überdurchschnittlich hohen Schülerschwund. Der Vorwurf der „Besonderung“ und der Stigmatisierung zum Sonderschüler durch die Rechtsform des Bescheides wiegt für viele Eltern schwerer als das beste heilpädagogische Angebot.

Die abgebrochene Schulbahn mit Entlassung aus der zweiten oder dritten HS-Klasse wirkt für viele nicht so diskriminierend wie ein voller Schulabschluß in der ungeliebten ASo.

Eine Reform hat hier anzusetzen: Kein Bescheid mehr, sondern Angebotsschule für besondere Lernschwierigkeiten; womöglich ohne Sonderstatus, zumindest im räumlichen Verband mit anderen Schulen; mit gemeinsamen Unterrichtszeiten in weniger leistungsorientierten Fächern.

In Oberösterreich wird ein ganzer Bezirk nach diesen Prinzipien im Schulversuch geführt. Dort gibt es keine ASo mehr. Die lernbehinderten Kinder werden an Volks- und Hauptschulen in „Kleinklassen“ durch Sonderschullehrer unterrichtet, sind Volksschüler, Hauptschüler; bekommen auch ein Zeugnis dieser Schulart.

Trotzdem ist dies manchen Eltern und Reformern zu wenig. Sie werfen diesem Schulversuch „Besonderung unter anderem Namen“ vor und verlangen, daß ein ganzer Geburtsjahrgang mit allen Behinderten gemeinsam in einer Klasse unterrichtet wird. Etwa zwölf „gesunde“ Kinder werden mit drei bis vier behinderten durch einen Volksschullehrer und einen Sonderschullehrer betreut.

Weil diese Form im Prinzip dem sonderpädagogischen Grundsatz entspricht, daß sich zwischen dem behinderten Kind und dem behinderungsspezifisch ausgebüdeten Lehrer ein Beziehungsverhältnis entwickeln muß, das von Dauer und Wärme der Beziehung geprägt ist, werden auch wir im kommenden Schuljahr einen solchen Versuch einrichten.

Doch sind dabei viele Fragen offen: Es gibt keine gesicherten Konzepte, die dem schwächsten und dem begabten Kind entsprechenden Büdungsgewinn am gleichen Ort und am selben Objekt ermöglichen.

Der soeben geschilderte Schulversuch schließt auf Grund der Definition auch behinderte Kinder mit ein, die in den Grenzbereich der Integration fallen: Kinder mit Ausfällen in der Intelligenz, die 50 Prozent und mehr betragen. Ihre Fähigkeit, die Kulturtechnik des Lesens, Schreibens und Rechnens zu erlernen, beschränkt sich auf ein Mindestmaß und dient vorwiegend sozialen Bedürfnissen.

Ihr Unterricht vollzieht sich an einfachen, lebensbedeutsamen Inhalten und ist durch Spiel, Therapie und „Lebenlernen“ gekennzeichnet. Mag es in Elementarformen des Volksschulunterrichtes noch Berührungsebenen geben, so klaffen die Interessenlagen zusehends auseinander, sodaß meiner Sichtweise nach am Ende die Nachteile alle jene Vorteile überwiegen, die eine gemeinsame Beschulung bringt.

In Wien wird ein Schulversuch durchgeführt, wobei Schwerstbe-hindertenklassen etwa ein Drittel ihrer Unterrichtszeit zusammen mit Volksschulklassen unterrichtet werden. Das soziale Lernen ist dort sicher sehr beachtlich. Ein wichtiger Punkt der Evaluation schiene mir aber, ob die dabei entstehenden Bindungen eher partnerschaftlich oder mitleidorientiert sind.

Eine echte Integration solcher Kinder in allgemeine Schulen möchte ich für die Zukunft nicht ausschließen; sie bedarf aber grundlegender Veränderungen in der Pädagogik und in der Organisation unserer Grundschulen, soll weiterhin dem Prinzip entsprochen werden, daß Integration Behinderter nicht zu einer Vernachlässigung der Begabten führen darf.

Abschließend möchte ich noch auf eine Gruppe von einigen hundert Kindern in Österreich hinweisen, für die der Begriff „integriert“ bedeutet, daß ihnen das Grundrecht auf Bildung und Schulbesuch ermöglicht wird: jene, die derzeit noch als „schulunfähig“ eingestuft werden.

Ihre Behinderung ist so umfassend, daß es in der Schule eines Helfers bedarf, um ihnen die Teilnahme am Unterricht zu ermöglichen. Es ist ein zutiefst christlicher Auftrag, der hier zu vollziehen ist. Das Land Oberösterreich hat im Herbst 1987 beispielgebend 23 Helfer für solche Klassen genehmigt. Daneben laufen Schulversuche, solch intensivbehinderte Kinder in elementaren Formen des sozialen Lernens, die von zwei Sonderschullehrern gestaltet werden, auf eine weitere Schulbahn vorzubereiten.

Zusammenfassend läßt sich feststellen: Der sonderpädagogische Trend geht in Richtung größtmöglicher Nähe zur allgemeinen Schule.

Der Autor ist Landesschulinspektor in Oberösterreich.

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