"Es geht um ein Recht, nicht um Sozialromantik"

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Seit 2010 ist Ex-Sozialminister Erwin Buchinger österreichischer Behindertenanwalt. Im Interview spricht der 58-Jährige darüber, was schulische Inklusion für ihn bedeutet -und was es dazu noch braucht.

Die Furche: Herr Buchinger, Sie sind selbst Vater eines erwachsenen Sohnes mit Behinderung. Können Sie den Protest der Eltern gegen die Umwandlung der Sonderschule "Am Himmel" in eine inklusive Schule nachvollziehen?

Erwin Buchinger: Ja -und ich habe diese Sorgen auch in anderen Fällen erlebt. Meiner Erfahrung nach sind die Eltern weniger an der Schulform interessiert, sondern sie haben viel grundlegendere Fragen: Gibt es an der neuen Schule auch Nachmittagsbetreuung? Gibt es Therapiemöglichkeiten? Ist der Turnsaal barrierefrei? Sie denken aber nicht daran, was in fünf oder zehn Jahren sein wird. Ich kritisiere das gar nicht, diese Eltern kämpfen um die tägliche Verbesserung der Lebenssituation ihrer Kinder. Dennoch glaube ich, dass die mittel-bis langfristige Überführung des Schulsystems in ein inklusives System entscheidend ist für die Zukunft behinderter Kinder. Man sollte sich bemühen, diese Übergangsphase gemeinsam zu bewältigen.

DIe Furche: Aber zeigt der Fall "Am Himmel" nicht, dass das hehre Ideal vom "Leben mitten in der Gesellschaft" und die konkreten Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien nicht immer kompatibel sind?

Buchinger: Viele Beispiele zeigen, dass es prinzipiell funktioniert. Aber es kann sein, dass es im Einzelfall Mängel gibt. Ich selbst habe vor 20 Jahren bei der integrativen Beschulung meines Sohnes auch die Erfahrung gemacht, dass etwas als Integration verkauft wurde, aber nicht wirklich von der Struktur und Überzeugung aller Lehrkräfte getragen war. Aber was den Regelfall betrifft, so gibt es in der Erziehungswissenschaft große Übereinstimmung darüber, dass inklusive Konzepte in jede Richtung überlegen sind.

Die Furche: Pflichtschullehrergewerkschafter Paul Kimberger ist hier skeptisch. Gegenüber dem "Kurier" hat er 3000 zusätzliche Sonderpädagogen gefordert -und gesagt, dass man "bei allem Bekenntnis zur Inklusion" auf sonderpädagogische Fördereinrichtungen nicht verzichten könne. "Nicht Ideologie und Sozialromantik", sondern das Wohl es Kindes müsse im Mittelpunkt stehen

Buchinger: Was seine Forderung nach zusätzlichen sonderpädagogischen Lehrer-Planstellen betrifft, so hat er recht, weil es in den letzten Jahren wirklich einen Abbau gegeben hat - bei gleichzeitiger Zunahme von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. DIe Furche: Derzeit haben laut Statistik Austria 5,2 Prozent der Pflichtschülerinnen und -schüler einen solchen Bedarf Buchinger: Ja, aber die Planstellen sind seit 1992 nur für 2,7 Prozent der Kinder ausgelegt. Das wäre so, als ob man heute Plätze in Seniorenheimen anhand der Anzahl von Pensionisten vor 20 Jahren limitieren würde.

Die Furche: Und Kimbergers Warnung vor "Sozialromantik"? Buchinger: Der Abbau von Sonderschulen ist keine Sozialromantik, sondern rechtliche Verpflichtung. So steht es im aktuellen Regierungsprogramm. Die Frage ist, was Herr Kimberger unter "sonderpädagogischen Fördereinrichtungen" versteht: Auch ich glaube, dass wir weiterhin Kompetenzzentren für Sonderpädagogik brauchen, um das Lehrpersonal für den Umgang mit Kindern mit Behinderung fit zu machen. Aber wir brauchen keine Sonderschulen! Wenn Kimberger Letzteres meint, dann schließe ich mich der Kritik an.

Die Furche: Die Quoten des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der offiziell vom Bezirksschulrat (auf Basis von Gutachten oder nur Empfehlungen der Schulleitung) festgestellt wird, schwanken im Bundesländervergleich erheblich: In Wien sind es 6,7 Prozent, in Vorarlberg 6,1 Prozent und in der Steiermark nur 4,2. Woran liegt das?

Buchinger: Sicher nicht daran, dass es in manchen Bundesländern mehr beeinträchtigte Kinder gibt als in anderen. Das liegt vielmehr an einem gerüttelt Maß an Willkür bei der Zuschreibung, aus welchen Gründen auch immer: Das kann Migrationshintergrund sein, das können Entwicklungsverzögerungen sein, wo man keine Zeit zur Nachreife gibt. Gibt es einmal einen Bescheid, dann wird er außerdem nur sehr selten wieder aberkannt. Solche Zuschreibungen sind generell problematisch und stigmatisierend - in der Schule wie auch später am Arbeitsmarkt, wo es dann "begünstigte Behinderte" gibt. In einer echten inklusiven Schule sollte es solche Etikette nicht mehr geben.

Die Furche: Wie weit geht Ihre Vision? Sollten in Zukunft alle Kinder, auch schwerstbehinderte, gemeinsam die Regelschule besuchen?

Buchinger: Ja -im Bewusstsein dessen, dass es dazu vielleicht zehn, 20,30 Jahre braucht. Aber das soll kein Argument dafür sein, nicht rasch mit den Veränderungen zu beginnen: zuerst bei den Kindern aus den allgemeinen Sonderschulen, also solchen mit Lernschwächen, und in weiterer Folge mit jenen mit einer Sinnesbeeinträchtigung sowie Schwerstbehinderten. Dann könnten die jetzigen Sonderschulen sonderpädagogische Zentren werden, wo das nötige Know-how entwickelt und den Regelschulen zugespielt wird. Was schon jetzt in Südtirol möglich ist, das muss doch auch in Österreich möglich sein.

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