"Bildung hat keine Obergrenze"

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terezija stoisits, Beauftragte für Flüchtlingskinder an schulen, über die Integrationspläne der Regierung, Bürokratie und eigene Flüchtlingsklassen. | Das Gespräch führte Doris Helmberger

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terezija stoisits, Beauftragte für Flüchtlingskinder an schulen, über die Integrationspläne der Regierung, Bürokratie und eigene Flüchtlingsklassen. | Das Gespräch führte Doris Helmberger

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Anfang September 2015 wurde Terezija Stoisits von Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) zur "Beauftragten für Flüchtlingskinder an den Schulen" ernannt. Die langjährige Grüne Abgeordnete und Volksanwältin, die seit 2013 wieder als Beamtin im Ministerium tätig ist, soll sich um die Koordination innerhalb des Ressorts sowie um die Kooperation mit Landesschulräten und NGOs kümmern. Wie fällt ihre Zwischenbilanz zu Semesterende aus? DIE FURCHE hat sie zum Interview gebeten.

Die Furche: Frau Stoisits, zu Beginn des Schuljahres hat das Bildungsministerium mit rund 5000 Flüchtlingskindern an Österreichs Schulen gerechnet. Wieviele sind es bislang tatsächlich geworden?

Terezija Stoisits: Die Zahl 5000 hat sich auf jene Asylwerberkinder bezogen, die seit Jänner 2015 bereits in die Schulen gekommen sind. Die Schätzung bis Jahresende lag bei 8000. Und tatsächlich haben wir mit Stichtag 7. Jänner 9750 Flüchtlingskinder - davon 8450 an Pflichtschulen. Diese Zahlen muss man aber in Relation setzen zu den insgesamt über 1,1 Millionen Schülerinnen und Schülern in Österreich. Das ist also weder ein Ausnahmezustand noch ein Grund für Alarmismus! Aber es ist eine pädagogische und organisatorische Herausforderung. Und die ist zu meistern.

Die Furche: Wie haben die Schulen sie Ihrer Erfahrung nach bisher gemeistert? Sehr gut? Gut? Befriedigend? Genügend?

Stoisits: Was ich in den letzten Monaten erlebt habe, war fast ausschließlich positiv. Ich erlebe unglaubliches Engagement von Lehrerinnen und Lehrern. Ich sehe auch, dass es durch die jahrzehntelange Aufnahme und Integration von Flüchtlings- und Migrantenkindern im österreichischen Schulwesen sehr viel Erfahrung gibt, auf die man jetzt zurückgreifen kann. Aber es gibt natürlich - vor allem am Land - auch Situationen, wo erstmals Kinder an Schulen kommen, die gar nicht Deutsch können. Doch die Lehrerinnen und Lehrer, aber auch die Leitungen und Eltern bringen sich mit großer Empathie ein. Das ist auch deshalb so wichtig, weil Schule der einzige Ort ist, wo sich Flüchtlinge und Nicht-Flüchtlinge täglich begegnen. Schule ist ein wahnsinnig wichtiger Ort für Integration.

Die Furche: Es braucht also aus Sicht der Schulen keine "Obergrenze", um die Diktion der letzten Woche zu verwenden?

Stoisits: Nein, definitiv nicht. Wir helfen, wo es notwendig ist, aber das Schulsystem kann diese Zahl aufnehmen. Bildung hat keine Obergrenze. Und Schule braucht auch keine Obergrenze.

Die Furche: Aber selbst die Bildungsministerin hat diese Woche im Parlament mit Mehrkosten von 64 Millionen Euro für Pflichtschullehrer im Jahr 2016 gerechnet. Und Niederösterreichs Bildungslandesrätin Barbara Schwarz (ÖVP) hat zuletzt gemeint, das Schulsystem in Niederösterreich sei bald am "Rande des Machbaren"

Stoisits: Was heißt am Rande des Machbaren? Gerade diese Woche hat die Regierung zusätzliche 24 Millionen Euro zur Unterstützung der Integrationsarbeit an den Schulen beschlossen.

Die Furche: Wofür werden sie verwendet?

Stoisits: Zum einen für zusätzliche Sprachförderung an den Schulen. Die derzeit 442 Planstellen müssen dringend ausgebaut werden, wobei man vor allem mehr Lehrerinnen und Lehrer mit Ausbildung in "Deutsch als Zweitsprache" braucht. Zweitens möchten wir interkulturelle, mobile Teams aus Psychologen, Sozialarbeitern und Sozialpädagogen einsetzen, die auch die Sprachen der Flüchtlingskinder sprechen, um die Kommunikation zwischen Schule und Eltern zu ermöglichen. Diese Teams sollen auch aktiv werden, wenn Kinder etwa auf Grund von Traumatisierungen auffällig werden und psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung brauchen. Und drittens werden für nicht mehr schulpflichtige Jugendliche über 15 Jahren so genannte "Übergangslehrgänge" an den berufsbildenden Schulen eingerichtet. Im Rahmen der Erwachsenenbildung wird es auch zusätzliches Geld für Basisbildungskurse inklusive Möglichkeit zum Pflichtschulabschluss geben.

Die Furche: Apropos Jugendliche über 15 Jahren: Viele von ihnen haben bislang als außerordentliche Schüler eine Neue Mittelschule oder ein Poly besuchen können - etwa in der Steiermark. Sie jedoch haben im Dezember an jenen Erlass erinnert, der das untersagt. Warum kann man etwas, das funktioniert, nicht unbürokratisch laufen lassen?

Stoisits: Ich bin sicher keine Bürokratin, aber die Verwaltung darf nur auf Basis geltender Gesetzte agieren. Und wenn jemand nicht mehr schulpflichtig ist, dann kann er in Österreich keine Pflichtschule mehr besuchen. Die Polytechnische Schule ist auch nicht der richtige Ort, um die Alphabetisierung durchzuführen.

Die Furche: Aber die Beteiligten haben damit offenbar gute Erfahrungen gemacht. Umso größer ist der Ärger über Ihre Direktive - zumal Schule ein so wichtiger Ort für Integration ist, wie Sie selbst sagen

Stoisits: Ja, Schule ist ein wichtiger Ort für Integration. Genau deshalb hat das Ministerium für diese 15- bis 18-Jährigen die neuen "Übergangslehrgänge" eingerichtet, die als außerschulische Maßnahme bereits österreichweit an 32 Schulstandorten angeboten werden. Die Jugendlichen bekommen hier nicht nur intensiven Deutschunterricht, sondern auch Informationen darüber, welche weiteren Angebote es im berufsbildenden Schulwesen für sie gibt.

Die Furche: Aber auch hier gibt es Hürden: Die ZIB2 hat zuletzt von einem Mädchen berichtet, das beim Wiener Verein "Prosa"(Projekt Schule für Alle!) den Pflichtschulabschluss mit Bravour geschafft hat, aber wegen "nicht ausreichender Deutschkenntnisse" nicht einmal zum Aufnahmetest für die BAKIP (Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik) zugelassen wurde

Stoisits: Diesem Fall würde ich gerne nachgehen . Gerade im Bereich der Kindergartenpädagogik wäre ja kulturelle Vielfalt bei denen, die diesen Beruf ergreifen wollen, wichtig. Seit Jänner gibt es jedenfalls schon zwei Flüchtlingsmädchen, die an einer BAKIP aufgenommen worden sind: eines in Niederösterreich und eines in der Steiermark.

Die Furche: Umstritten ist auch, wie die Beschulung von Flüchtlingskindern bei weiter steigenden Asylwerberzahlen aussehen soll. Soll es eigene Flüchtlingsklassen in Notunterkünften geben?

Stoisits: Nein, in Österreich kommen Kinder in Regelschulen! Sobald ein Asylantrag gestellt wird, sind die Kinder schulpflichtig. Schule ist in der Schule -und eine Notunterkunft ist eine Notunterkunft.

Die Furche: Mangels Grundversorgungsquartieren bleiben aber viele Flüchtlinge immer länger in diesen Notunterkünften

Stoisits: Deshalb appelliere ich auch, Familien mit schulpflichtigen Kindern bei der Zuteilung besonders zu beachten. Ich sehe mich hier als Flüchtlingskinderlobbyistin. Spielerisch Deutschlernen soll ab sofort passieren, aber nachhaltige Integrationsarbeit ist in einer Notunterkunft mit 900 Personen unmöglich. Gemeinden, die noch keine Flüchtlinge haben - und davon gibt es genug - sagen oft: Bitte schickt uns keine alleinstehenden Männer, sondern Familien! Aber wäre das ernst gemeint und nicht oft eine Ausrede, um gar keine Flüchtlinge nehmen zu müssen, dürfte es keine schulpflichtigen Kinder mehr in prekären Unterbringungen geben.

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