Martha und der Matthäus-Effekt

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Eine Masche binden. Ohne Hilfe auf die Toilette gehen. Und wenn möglich eine Weile ruhig am Platz sitzen: All das sollten Sechsjährige, die diesen Herbst in die Schule kommen, tunlichst können. Daneben gibt es freilich noch eine Menge weiterer Kompetenzen, die darüber Aufschluss geben, ob ein Kind schon "schulreif" ist oder noch nicht: Kann es eine Zahl einer Menge zuordnen? Kann es richtig Sätze bilden? Kann es eine Bildgeschichte ordnen und auf Deutsch nacherzählen? Kann es Silben klatschen? Kann es auf einem Bein hüpfen, einen Ball fangen oder auf einer Langbank einem Hindernis ausweichen? Kann es einen Stift halten und ein Selbstporträt zeichnen? Und nicht zuletzt: Kann es Regeln einhalten und mit anderen kooperieren?

In der Volksschule Kindermanngasse in Wien-Hernals wird all das penibel überprüft. Während 28 andere Volksschulen in ganz Österreich gerade das neue standardisierte Diagnostikverfahren des Bildungsministeriums testen, das ab nächstem Jahr flächendeckend verwendet werden und die Zuordnung "außerordentlicher Kinder" indie "Deutschförderklassen" transparenter machen soll, hat man in der Kindermanngasse mit dem genauen Eruieren schulischer "Vorläuferfähigkeiten" schon zehn Jahre Erfahrung. Zwei Stunden lang dauert das Prozedere, bei dem je zehn Kinder von drei Volksschullehrerinnen und einer Sprachförderlehrerein im Stationenbetrieb beobachtet werden. Die meisten jener präsumtiven Taferlklassler, die an diesem Mittwochvormittag gekommen sind, haben die erforderlichen Kompetenzen längst eingeübt: entweder mit ihren bildungsaffinen Eltern, die draußen am Gang angespannt auf das Gespräch mit Direktorin Ursula Cermak warten; oder während des mehrjährigen Besuchs eines hochwertigen Kindergartens.

"Wir lesen, reden und musizieren viel"

Allein drei der Kinder, die nach dem Wunsch ihrer Eltern einmal in der Kindermanngasse Montessoripädagogik, Theaterund Roboterprojekte erleben sollen, stammen aus der "Sportkindergruppe" in der nahen Rosensteingasse. Während in anderen Kindergärten 25 Kinder von einer Elementarpädagogin (plus Helferin) betreut werden, lautet dort das Verhältnis 14 zu zwei. Ein anderes Mädchen, nennen wir es Martha, hat die elternverwaltete Kindergruppe "Hand in Hand" besucht, in der mehrere Pädagoginnen ebenfalls 14 Kinder begleiten. "Wir lesen daheim auch viel, reden viel und musizieren viel", erzählt Marthas Vater am Gang. Kein Wunder, dass seine Tochter das Geschichtennacherzählen aus dem Effeff beherrscht.

"Der Entwicklungsstand der Kinder divergiert bei der Schuleinschreibung oft um mehrere Jahre", sagt eine der Lehrerinnen drinnen beim Stationenbetrieb. "Das hat es zwar auch früher gegeben, aber ich habe schon das Gefühl: Die Mitte bricht weg." Zu den unterschiedlichen familiären Voraussetzungen kämen die Qualitätsunterschiede der Kindergärten:"Wenn eine Elementarpädagogin allein für 25 Kinder zuständig ist, dann ist das nicht zu schaffen."

Studien über die Qualität an elementaren Bildungseinrichtungen in Österreich sind rar. Berichte von Mitarbeiterinnen weisen freilich darauf hin, dass Kinder aus ärmeren Verhältnissen und mit anderen Erstsprachen als Deutsch tendenziell eher Kindergärten mit schlechterer Qualität besuchen. Die Folgen sind fatal: Während man etwa annehmen könnte, dass sozial benachteiligte Kinder von einem mehrjährigen Kindergartenbesuch besonders profitieren (wie etwa in Großbritannien), zeigen hiesige Bildungsstandardanalysen eine gegenteilige Tendenz. "Kinder, die mehr Förderung bräuchten, profitieren bei uns tendenziell weniger vom Kindergartenbesuch als Kinder aus oberen sozialen Schichten", weiß die Innsbrucker Bildungsforscherin Barbara Herzog-Punzenberger. Einmal mehr zeige sich hier der legendäre Matthäus-Effekt: Wer hat, dem wird gegeben. Und wer nicht hat, dem wird auch noch genommen.

Bedarf nach Personal, Zeit und Raum

Mehr generelle Qualität: Darin besteht für Herzog-Punzenberger der Schlüssel zu mehr Bildungschancen für alle. Eine Forderung, die vom Österreichischen Berufsverband der Kindergarten-und Hortpädagoginnen (ÖDKH) schon seit Jahren an die Politik herangetragen wird. Am dieswöchigen "Tag der Elementarbildung", dem 24. Jänner, fordert man einmal mehr jene Rahmenbedingungen ein, die gute elementare Bildungsarbeit erst möglich machen (vgl. www.oedkh.at). Doch was bräuchte es konkret

?"Vor allem kleinere Gruppen und ein besseres Betreuungsverhältnis", erklärt die ÖDKH-Vorsitzende Raphaela Keller. Das Ziel seien 15 Kinder mit zwei Pädagoginnen pro Gruppe, dazu vier Quadratmeter Raum pro Person, mehr Zeit für Vor-und Nachbereitungen sowie mehr Ausbildungsangebote für Leiterinnen und Assistentinnen. Erst dann könne man die von der Politik gestellten Anforderungen (von der Wertevermittlung bis zur verstärkten Sprachförderung im Kindergarten, s. S. 4) tatsächlich erfüllen - und auch dem bundesländerübergreifenden Bildungsrahmenplan für den Elementarbereich endlich entsprechen.

Dass Elementarbildung wichtig ist, scheint indes allgemein angekommen zu sein. Laut einer aktuellen Umfrage von "Integral" halten 48 Prozent der Bevölkerung elementare Bildung für "sehr wichtig", vor einem Jahr waren es noch 39 Prozent. In erster Linie erwartet man sich dadurch eine Förderung der sprachlichen Entwicklung, die Hälfte erhofft sich auch positive Effekte auf Integration und Chancengerechtigkeit.

Dass es angesichts zunehmender Diversität und Mehrsprachigkeit auch eine bessere Qualifikation der österreichweit rund 25.000 Elementarpädagoginnen braucht, steht außer Zweifel. Langfristig sei eine generelle Akademisierung sinnvoll, meint Bernhard Koch, neuer Professor für Elementarpädagogik an der PH Steiermark. Mittelfristig brauche es an jeder Einrichtung zumindest eine Fachkraft mit tertiärer Ausbildung, weil dadurch die Qualität der Einrichtung gesteigert werden könne. "Aber allein dafür bräuchten wir eine Verdreifachung der Studienplätze", so Koch. Derzeit absolvieren rund 300 Leiterinnen nebenberuflich das Bachelorstudium Elementarpädagogik, das am FH Campus Wien sowie an zehn PHs angeboten wird. Diese "Pedagogical Heroes" später in die "Brennpunktkindergärten" zu bringen -darin besteht laut Koch die große Herausforderung. "Um das zu schaffen, bräuchte es finanzielle Anreize und viel mehr Ressourcen", ist er überzeugt.

Zudem wäre auch noch mehr Expertise im Umgang mit religiöser Vielfalt nötig. "In der Aus-und Weiterbildung von Elementarpädagoginnen sollte Wissen über Religion angeboten werden", ergänzt die Linzer Religionspädagogin Helena Stockinger. Wichtig sei aber auch die individuelle Auseinandersetzung mit den eigenen Haltungen und Einstellungen zu religiöser Vielfalt - sowie ein entsprechendes Konzept des jeweiligen Kindergarten-Trägers.

Und was ist mit der Schnittstelle?

Offen sein, ins Gespräch kommen: Dieses Motto sollte freilich nicht nur im Umgang mit anderen Religionen oder Kulturen gelten, sondern auch beim "Culture Clash" zwischen Kindergarten und Schule. Zwar hat die Politik bereits erste Maßnahmen gesetzt, um diese Schnittstelle zu entschärfen. Doch noch wird ein Austausch im Sinne des Kindes durch den Datenschutz verhindert.

In der Kindermanngasse hat man dennoch eine Lösung gefunden. Im Rahmen einer Grätzelinitiative des 16. und 17. Bezirks gibt es regelmäßige Treffen mit den umliegenden Kindergärten, wie Direktorin Ursula Cermak am Ende des Schulreife-Testmarathons erklärt. Unterschreiben die Eltern eine Einverständniserklärung, darf sie bei Fragen zu einem Kind auch dessen Kindergarten kontaktieren. Dass es im Elementarbereich mehr Ressourcen und ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr bräuchte, ist für Cermak klar; wie es sein konnte, dass heute sechs der zehn Knirpse trotz Kindergartens den Stift falsch hielten, bleibt jedoch ein Rätsel. Ob auch Martha bis Herbst noch ein wenig üben muss, geht im Tohuwabohu unter. Aber man darf davon ausgehen, dass der Papa es schon richten wird.

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