Keller

"Lockdown als Aha-Erlebnis"

19451960198020002020

Elementarpädagogische Einrichtungen haben in Österreich zu wenig Stellenwert, sagt Bildungsexpertin Raphaela Keller.

19451960198020002020

Elementarpädagogische Einrichtungen haben in Österreich zu wenig Stellenwert, sagt Bildungsexpertin Raphaela Keller.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Kindergarten ist mehr als eine Betreuungseinrichtung, in der sich Kinder aufhalten, während die Eltern ihrer Arbeit nachgehen – dafür plädiert Bildungsexpertin Raphaela Keller. Im Interview erklärt sie, warum die Coronakrise Defizite in der Elementarpädagogik mehr denn je aufzeigt.


DIE FURCHE: Welche Rollen spielen Kindergärten im Kampf gegen die Pandemie?
Raphaela Keller: Im Bildungsministerium soll man endlich einmal sagen, worum was es wirklich geht: Wir brauchen die Kindergärten, damit die Leute arbeiten gehen können, weil sonst die Wirtschaft zusammenbricht. Um das geht es, um nichts anderes! Aber um die konkrete Situation in den Kindergärten geht es nicht.


DIE FURCHE: Woran machen Sie das fest?

Keller: Seit Corona sind Kindergärten wieder nur eine Betreuungseinrichtung. In allen Gesetzen ist von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen die Rede, aber plötzlich ist von Bildung nichts mehr zu hören. Aber ich kann Betreuungs- und Bildungszeit nicht voneinander trennen. Jeder Moment, den ein Kind erlebt, ist auch Bildungszeit, es lernt fürs Leben. Zur Bildung gehört nicht nur Schulwissen, sondern auch, dass ich eine Masche binden kann, dass ich wem zuhören, mich zurücknehmen oder mich einbringen kann. Im Kindergarten geht es darum, verschiedene Fähigkeiten zu üben, egal ob Springen, Schreiben oder Reden. In elementaren Bildungsbereichen werden die Grundlagen für das gelegt, was Menschen ihr Leben lang brauchen. Das ist das, was Elementar- von Schulbildung unterscheidet: Erstere ist ganzheitlich – jede Lebenssituation wird einbezogen, es geht um gesundheitliche Maßnahmen genauso wie um körperliche und um geistige Entwicklung.


DIE FURCHE: Läuft das andernorts besser?
Keller: Im elementarpädagogischen Bereich sind die skandinavischen Länder die Vorbilder, wobei auch Slowenien mittlerweile Vorbildcharakter hat. In diesen Ländern wird auf die kindliche Entwicklung besonders Rücksicht genommen, die Pädagoginnen und Pädagogen sind fachlich sehr gut ausgebildet. In den skandinavischen Ländern ist die Haltung der Menschen zu Kindern eine andere als bei uns. Dort ist es eine Selbstverständlichkeit, dass elementare Bildungseinrichtungen zum Leben dazugehören, dass dort genau so viele Männer wie Frauen arbeiten, dass die Kinder jeden Tag draußen spielen können, weil sie eigene Schränke für Gummistiefel und Regenkleidung haben. In Skandinavien sind Kinder im allgemeinen Leben einfach dabei, der Austausch
zwischen Jung und Alt ist ein ganz anderer, diese Beziehung ist viel harmonischer. Daher ist dort die Wertigkeit von Elementarpädagogen eine höhere.


DIE FURCHE: Wie könnte sich das in Österreich ändern?
Keller: Wenn ich mich so umhöre, ist das primäre Problem immer: zu viele Kinder in der Gruppe. In einem ersten Schritt müsste also die Kinderanzahl in der Gruppe
reduziert werden. Und ja, das kostet Geld, sehr viel Geld! Es braucht kompetente, mutige Politikerinnen und Politiker, die das aufzeigen. Es kann nicht nur darum gehen, dass Menschen in ihre Arbeit gehen können, es muss auch um die Bildungschancen der Kinder gehen. Aber ich kann die Bildungsarbeit nicht an die kindliche Entwicklung und an die Bedürfnisse der Kinder anpassen, wenn ich zu viele Kinder in meiner Gruppe habe. Viele Kolleginnen hatten während des ersten Lockdowns, als die Gruppen deutlich kleiner waren, ein Aha-Erlebnis. In dieser Zeit ist kein Kind zurückgeblieben, weil jedes die Aufmerksamkeit bekommen konnte, die es eigentlich braucht. Das Positive an diesem Lockdown war, dass Bedingungen aufgezeigt wurden, die wir eigentlich immer bräuchten. Wir brauchen für sieben Kinder eine Pädagogin, für die jüngeren Kinder fordere ich ein Verhältnis von eins zu drei. Was wir derzeit per Gesetz haben, sind zwei Erwachsene für 15 Null- bis Dreijährige.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung