Keine Zeit, ein Kind zu sein

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Ein straffes Freizeitprogramm, Leistungsdruck und viele andere Faktoren sorgen bei immer mehr Kindern für Stress. Entschleunigung wäre angesagt, auch bei den Eltern.

Schön war sie, meine Kindheit! Ich bin gemeinsam mit Freunden in Bächen gewatet, wir haben mit der Hand Fische gefangen, sind auf Bäume geklettert, waren Rad fahren, schwimmen und im Winter eislaufen. Einmal pro Woche war Klavierstunde angesagt - aber nur für zwei Jahre; dann hatten die stundenlangen, bei meinem Lehrer sehr beliebten, bei mir aber verhassten Fingerübungen endlich ein Ende. Die Schule - die war eine mehr oder weniger lästige Unterbrechung der Freizeit, aber trotzdem hat sie Spaß gemacht. In Freiheit dressiert - so würde ich meine Kindheit beschreiben. Grenzen gab es sehr wohl, auch wenn sie weit gesteckt waren. Streit mit Freunden, Probleme mit Lehrern und anderes, was mir Kummer bereitete, wurde bei gemeinsamen Mahlzeiten besprochen. Stress - dieses Wort kannte ich nicht.

Kinder unter Leistungsdruck

Das können Kinder heutzutage nur in den seltensten Fällen unterschreiben. Ihr Terminkalender ist prall gefüllt: Nach Kindergarten oder Schule stehen noch Ballettunterricht, Judo- oder Fußballtraining, Geburtstagsfeiern, Nachhilfe oder ähnliches auf dem Programm. Der Leistungsdruck hat in den Kinderzimmern Einzug gehalten. Das beginnt eigentlich schon gleich nach der Geburt: Welches Kind schläft länger durch, beginnt früher zu krabbeln, zu reden oder zu schreiben - das sind die Themen, die vor allem viele Mütter beschäftigen. Und weil sie gewohnt sind, alles zu vergleichen und zu bewerten, beginnt schon für Babies und Kleinkinder das Leben auf der Überholspur. Sie können heute nicht mehr ihren eigenen Rhythmus leben, sondern sollten sich tunlichst dem von den Eltern vorgegebenen anpassen. Das ändert sich im Laufe der Jahre nicht mehr - schneller, höher, besser lautet die Devise.

Zeit zum Erholen, zum selbst kreativ Sein, zum Herumtollen oder Nichtstun - das kennen Kinder kaum noch. Ihr Leben ist ein straffes Programm. "Ich muss meinem Kind doch alle Möglichkeiten bieten, um einmal erfolgreich in Schule und Beruf zu werden. Nur wenn es sich von anderen positiv abhebt, wird es Erfolg haben“ - so lautet der Standardsatz der Eltern. Ruhe, Stille und Erholung haben da einfach keinen Platz. Warum auch - gönnen sich doch auch die Eltern diese Auszeiten kaum selbst. Die Seele baumeln zu lassen, das ist in der heutigen Leistungsgesellschaft verpönt. Dass sich aber gerade dabei die Batterie wieder auflädt, das haben wir erfolgreich verdrängt.

Aber nicht nur ein Zuviel, auch ein Zuwenig an Zuwendung verursacht bei Kindern Stress: nicht selten werden die lieben Kleinen vor dem Fernseher oder anderen elektronischen Kindermädchen deponiert, weil die Eltern aus Zeit- oder Energiemangel keine Kraft mehr für sie haben; der Anblick von Kleinkindern, die mit Handys spielen - sei es in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in Lokalen oder auch daheim - ist keine Seltenheit mehr. Gemeinsame Mahlzeiten, bei denen über die Ereignisse des Tages, kindliche Sorgen und Freuden gesprochen wird, sind ebenfalls längst nicht mehr die Regel. Woher denn auch, wenn die Eltern ebenfalls sprachlos sind, zwar Informationen austauschen, aber nicht mehr über Gefühle, Probleme und vieles andere reden können.

Eine weitere heftige Belastungsprobe für den Nachwuchs ist, wenn es in der Beziehung der Eltern kriselt. Nicht selten werden die Sprösslinge in diesen Fällen zu Waffen, sollen für den einen oder anderen Elternteil Partei ergreifen - und sind damit hilflos überfordert, ja fühlen sich sogar für den Streit oder das Scheitern der elterlichen Beziehung verantwortlich. Neue Partner der Eltern und das Leben in einer Patchworkfamilie, aber auch Probleme mit Geschwistern, Freunden und anderen Personen tragen das Ihrige dazu bei. Nicht zu vergessen die permanente Reizüberflutung, die unser Leben prägt.

Kein Wunder, dass Schlaf- und Essstörungen, Kopf- und Bauchschmerzen, Allergien, Neurodermitis, Asthma, Depression zunehmend auch in Kinder- und Schulzimmern zu finden sind. Die Kinderseele schreit via Körper um Hilfe, je kleiner das Kind, desto körperlicher reagiert es auf Stress. Kindergartenpädagogen und Lehrer berichten unisono, dass die Zahl der unruhigen, aggressiven, unkonzentrierten Kinder stetig wächst, dass Leistungsabfall, Verhaltensauffälligkeiten und Angstzustände zunehmen, während die soziale Kompetenz sinkt. Auch Autoaggression, Nikotin- und Alkoholmissbrauch in immer jüngeren Jahren sowie Essstörungen sind Anzeichen, dass etwas nicht passt.

Permanenter Stress schädigt den Körper

Gibt’s da einen Unterschied zu Erwachsenen? Die Antwort lautet "Nein“. Auch sie reagieren bei einem Zuviel an Stress häufig mit körperlichen Beschwerden oder flüchten zu Alkohol, Drogen oder sonstigen Rauschmitteln. Nur zum Nachdenken: Stress per se ist nichts Schlechtes. Schließlich hat die Ausschüttung der Stresshormone Cortisol und Adrenalin früher in Gefahrensituationen dazu gedient, das Überleben zu sichern. Während sich der urzeitliche Mensch nach einer Phase der Aufregung allerdings zur Entspannung in seine Höhle zurückgezogen hat, kennt der moderne Mensch den gesunden Wechsel zwischen An- und Entspannung kaum mehr. Dabei führt die permanente Ausschüttung der Stresshormone quasi zu einer Vergiftung, die Körper und Psyche schwächt. Selbst Zellschäden können durch Dauerstress entstehen.

Lange Zeit war die Stressforschung übrigens nur auf Erwachsene beschränkt war, allmählich nimmt sie auch die Kinder ins Visier. Denn Kinder sind keine Erwachsenen im Miniaturformat. Kinder sind Kinder, denen man doch zugestehen soll, ein paar Jahre ihres Lebens unbeschwert und fröhlich zu leben. Sie sollen sich im Freien austoben, ihre Kräfte erproben und kreativ sein dürfen. Natürlich sollen sie lernen, Grenzen zu respektieren, Verantwortung zu übernehmen und ein gewisses Maß an Leistung zu erbringen. Aber alles mit Maß und Ziel, denn die kindlichen Ressourcen sind begrenzt, es muss mit ihnen gehaushaltet werden. Lassen wir doch zu, dass sie ihr eigenes Tempo leben, dass sie sich zu Individuen entwickeln - was ist schlecht daran? Dass sie dann vielleicht etwas schwieriger zu behandeln sind als andere Kinder? Dass aus ihnen weniger leicht zu lenkende, denkende, unabhängige Erwachsene werden? Wie schön! Natürlich stellt das die Eltern vor mehr Herausforderungen - die wahrscheinlich in den diversen Elternratgebern nicht beschrieben werden. Aber Kinder sind keine Geräte, die man mit der Bedienungsanleitung in der Hand durchs Leben führt. Vor lauter Angst, möglicherweise einen Fehler zu machen, wird das Bauchgefühl ignoriert - dabei würde genau dieses helfen, die Fehlerquote zu senken.

Das Schöne daran, ein Kind auch ein solches sein zu lassen, ist, dass auch die Eltern im besten Fall wieder Kontakt zu ihrem inneren Kind aufnehmen und sich an ihre Kindheit erinnern.

Wenn Kinder keine Zeit haben, ein Kind zu sein - ist das nicht ein Alarmsignal für unsere Gesellschaft? Zeigt das nicht die Oberflächlichkeit, den Werteverlust und die Ignoranz auf, mit der wir unser Leben leben? Liegt da nicht der Verdacht nahe, dass auch Kinder zunehmend zum Statussymbol werden, mit dem man sich, sofern sie "gelungen“ sind, schmücken kann? Das zeigt schließlich, dass man auch in seiner Rolle als Eltern eine gute Leistung erbracht hat. Kaum ein Erwachsener klagt heute nicht über Stress - da sollten sie doch wissen, was den Kindern zugemutet wird. Wenn sie schon in jungen Jahren darunter leiden, wie wird es ihnen dann als Erwachsenen gehen? Werden sie dann von einer Therapie zur nächsten jagen und Antidepressiva, Stimmungsstabilisatoren und weiß Gott was sonst noch schlucken? Das kann doch nicht wirklich das Ziel sein. Entschleunigen wir das Leben unserer Kinder und auch gleich unseres, es wird uns allen guttun.

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