Bewegung - © Foto: iStock/ debove sophie

Walking & Co: Schutz für das Nervenkostüm

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Die inneren Verwerfungen der Coronakrise sind der Nährboden für psychische Störungen wie Angst und Depression, Schlaf- und Essstörungen. Was stärkt die Abwehrkräfte für die seelische Gesundheit? Eine Umfrage an der Praxis-Front.

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Die inneren Verwerfungen der Coronakrise sind der Nährboden für psychische Störungen wie Angst und Depression, Schlaf- und Essstörungen. Was stärkt die Abwehrkräfte für die seelische Gesundheit? Eine Umfrage an der Praxis-Front.

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An einem Glas scheiden sich die Geister: Ist es halb leer oder halb voll? Die Antwort darauf verrät, durch welche Brille man die Welt sieht – ob Mangel oder Fülle überwiegt, ob der Blick eher düster oder rosig ist. In einer Krise erhält die Frage massives Gewicht, denn gerade jetzt wäre es vorteilhaft, negative Konditionierungen zu durchbrechen. „Menschen kommen besser durch die Krise, wenn sie nicht den verlorenen Möglichkeiten nachhängen, sondern nach neuen Optionen suchen“, sagt Psychiatrie-Professor Michael Lehofer, ärztlicher Direktor des LKH Graz II. „Auf den Urlaub am Meer zu verzichten, kann auch bedeuten, die nähere Umgebung besser kennenzulernen. Während des Lockdowns hat ein Patient berichtet, wie schön es für ihn war, in den südsteirischen Auen zu spazieren und die Landschaft dort erstmals genauer zu betrachten.“

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Das Naheliegende (wieder) zu entdecken, ist vielleicht eine der großen Chancen dieser Krise. Worum es dabei geht, hat bereits der französische Autor Marcel Proust tiefsinnig auf den Punkt gebracht: „Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern mit neuen Augen zu sehen.“

Schwierige Gefühle gut verdauen

Damit einem während der Corona- Restriktionen nicht die Decke auf den Kopf fällt, sei es hilfreich, das sinnliche Erleben bewusst zu kultivieren, empfiehlt Lehofer: „Abwechslung in der Wahrnehmung sorgt für Inspiration, doch diese muss nun aktiver gesucht werden als sonst.“ In jeder Krise treten die negativen und positiven Seiten des Lebens deutlicher hervor, so der Psychiater und Psychotherapeut: Somit biete sich auch die Gelegenheit, die eigene Lebenssituation neu zu überdenken. Chronischer Stress, Angst, Unsicherheit, Depressionen, Schlaf- oder Essstörungen: Die psychischen Eruptionen der Corona- Pandemie befeuern derzeit die Suche nach Schutzfaktoren für die seelische Gesundheit. So zeigen aktuelle Studien, wie wirksam etwa soziale Unterstützung ist, um sich gegen die Belastungen der Krise zu wappnen. „Bindung ist eines der zentralen menschlichen Grundbedürfnisse“, erläutert Michael Lehofer, der in der sozialen Unterstützung den lebensgeschichtlich wichtigsten Schutzfaktor sieht: „Wer frühe Bindungen (zu den Eltern bzw. primären Bezugspersonen, Anm.) gut internalisiert hat, kommt später auch besser mit Isolation und Einsamkeit zurecht.“

Patienten, die hingegen traumatische Erfahrungen gemacht haben, verschlechtern sich unter den aktuellen Umständen deutlich, berichtet Gerald Pail, niedergelassener Psychiater in Wien. Auch er weist darauf hin, wie wichtig jetzt regelmäßige Kontakte und tragfähige Bindungen sind, ebenso wie eine geordnete Tagesstruktur (siehe Seite 2) und das Gefühl der Selbstwirksamkeit – gleichsam das Gegengift zur Ohnmacht und Hilflosigkeit. Denn dieses Gefühl gibt es in allen Bereichen, in denen man sich als handlungsmächtig erlebt; egal, ob man seinen Alltag kreativ gestaltet, Sport betreibt oder in anderen Hobbys aufgeht. Mentale Schutzfaktoren stärken unseren „psychischen Apparat, der schwierige Gefühle verdauen muss, damit es nicht zu einer ‚Überflutung’ kommt“, ergänzt Pail. Dass die effektive Gefühlsregulation und das emotionale Coping in der Bewältigung der psychischen Belastungen durch Corona eine zentrale Rolle spielen, bestätigt nun auch eine italienische Studie unter Beteiligung der Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) Wien. Frühzeitige Strategien sind demnach gefragt, um zu verhindern, dass sich emotionale Belas- tung zur Depression auswächst.

Körperliche Bewegung wirkt jedenfalls emotional stabilisierend; es verwundert daher nicht, dass etwa die TV-Sendung „Fit mit Philipp“ seit dem ersten Lockdown auf großen Zuspruch stößt. Die Sendung im ORF animiert allmorgendlich zum Mitturnen und richtet sich vor allem an ein älteres Publikum sowie an jene, die sich sonst nur wenig bewegen. Ausgewogene Bewegung gilt in der Medizin fast schon als Wundermittel, um sowohl psychischen als auch körperlichen Erkrankungen vorzubeugen – etwa Diabetes (Typ 2) und Bluthochdruck, Demenz und Depression. Dass körperliches Training tatsächlich wie ein Antidepressivum wirkt und das Wohlbefinden steigert, ist sogar bei depressiven Patienten dokumentiert. „Doch Sport wirkt besser bei Gesunden als bei Menschen, die bereits depressiv sind“, bemerkt Michael Lehofer. Zudem mindert die Depression den Antrieb, der nötig ist, um überhaupt noch sportlich aktiv zu werden. Fazit: „Sport ist am besten, um gar nicht erst krank zu werden.“ Wie aber wirkt körperliche Aktivität auf die Verfassung des Geistes?

Es wäre wichtig, den Kindern die Wahrheit zu sagen: also die Gefühle anzusprechen, die man ohnehin nicht verbergen kann.“

Psychotherapeutin Gertrude Bogyi 

Laut jüngerer Forschung könnte regelmäßige Bewegung nicht nur die Botenstoffe in den Synapsen, sondern auch die Neubildung von Nervenzellen im Gehirn anregen – und somit ähnlich funktionieren wie etablierte Medikamente gegen die Depression. Eine weitere Erklärung: Bewegung wirkt gegen Entzündungen und damit auch gegen die überschießende Immunreaktion, die bei Depressiven zu beobachten ist. Auch bei Angstzuständen ist sportliche Aktivität hilfreich. Denn dadurch wird Stress abgebaut und Beruhigung ermöglicht. „Stress und Angst gehen mit latenter physiologischer Aktivierung einher“, sagt Lehofer.

„Körperliche Ertüchtigung durchbricht dieses Muster; man wird quasi über die Hintertür robuster und resistenter.“ Wer beim Jogging oder Radfahren schwitzt, ist zudem in einer ähnlichen Verfassung wie jemand, der von akuten Ängsten geplagt wird: Der Puls ist beschleunigt, das Atmen verstärkt. Lernen Angstpatienten, dass diese Verfassung im Sport durchaus angenehm, also ohne emotionale Störung zu erleben ist, kann dies ein Schritt zur Überwindung ihrer Symptome sein.

Kinder und Jugendliche sind in puncto psychischer Gesundheit derzeit besonders gefährdet. Durch die nun fast einjährige Ausnahmesituation sind sie zunehmend überfordert, wie jetzt auch eine Studie des Instituts für Jugendkulturforschung bei 11- bis 17-Jährigen zeigt. Angst und Erschöpfung haben sich breitgemacht, bedingt durch den Mangel an persönlichen Begegnungen und Freizeitaktivitäten, die gerade in dieser Gruppe wichtig für die emotionale Stabilität sind.

Kinder und Jugendliche in Bedrängnis

„Kinder haben in dieser Krise keine Lobby“, bemerkt Gertrude Bogyi, psychotherapeutische Leiterin der „Boje“, einem Wiener Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen. „Ihre Bedürfnisse sind in den Lockdowns nicht bedacht worden. Die Anerkennung ihres Leids ist dringend geboten – auch wenn es still bleibt und wenig sichtbar ist.“ Denn Kinder in belasteten Familien haben jetzt viel zu tragen, so Bogyi, die 42 Jahre in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig war und die „Boje“ seit 2002 mit aufgebaut hat: „Es wäre wichtig, die Kinder ins Gespräch miteinzubeziehen und ihnen die Wahrheit zu sagen. Also die Gefühle anzusprechen, die man ohnehin nicht verbergen kann: Zum Beispiel zu erklären, dass der Papa ‚schlecht drauf’ ist, weil er Angst um seinen Job hat.“

Kontakte zu Gleichaltrigen (Peers) oder Bewegung an der frischen Luft seien unabdingbar wichtig. „Ich habe ein Problem damit, dass viele Schüler jetzt nur zwei Tage im Präsenzunterricht sind“, kritisiert die Therapeutin. Nicht zuletzt können Menschen auch durch gelebte Spiritualität bzw. einen religiösen Glauben psychisch gestärkt werden. „Auch das ist eine Variante von Bindung“, erläutert Michael Lehofer, der zuletzt mit Bischof Hermann Glettler das Buch „Trost. Wege aus der Verlorenheit“ (Styria 2020) veröffentlicht hat . „Schutz kommt hier also durch eine Erweiterung der Bindungsschnittstellen ins Transzendente.“

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