Zomm

Zoom als Kompensation? Berührung und Nähe zwischen Geburt und Tod

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Das Bedürfnis nach Berührung wurde durch die Pandemie torpediert. Wie kamen wir mit Technik durch diese sterile Zeit? Über neue Lust an Nähe – und einen Abschied für immer.

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Das Bedürfnis nach Berührung wurde durch die Pandemie torpediert. Wie kamen wir mit Technik durch diese sterile Zeit? Über neue Lust an Nähe – und einen Abschied für immer.

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Mai 2019: In Berlin begegne ich rund um die Internetkonferenz „re:publica“ Travis Sigley. Der damals 31-jährige Amerikaner gründete im Silicon Valley, dem Herzen der digitalen Revolution, die Kuscheltherapie – gleichsam als Statement für mehr Berührung und Menschlichkeit in einer Kultur des Digitalen. „Tausendmal berührt“ hieß mein Text, der dazu 2019 in der FURCHE erschienen ist. Knapp ein Jahr später steht die Welt kopf: Digitale Technologie ist in der Coronakrise oft die einzige Möglichkeit, mit Mitmenschen in Kontakt zu bleiben. Zeit für eine Fortsetzungsgeschichte.

März 2020: Eine Freundin ruft mich an, sie hat sich aus einem schwierigen Arbeitsverhältnis befreit und ist erleichtert. „Komm“, sage ich, „das feiern wir.“ Weitere Freunde schließen sich an, wir scherzen bis spät in die Nacht. Die Krise, die sich in Italien abzeichnet, ist für uns noch weit weg. Zum Abschied umarmen wir uns. In den nächsten Tagen wird mir bewusst, wie leichtsinnig dieser Abend war: Italien wird zur Sperrzone erklärt, in Österreich gibt es 140 bestätigte Coronafälle. Und noch etwas wird mir bewusst: Es ist das letzte Mal, dass ich meine Freunde umarmt habe. Auch meine Familie treffe und umarme ich in diesen Tagen bei einem großen Geburtstagsfest zum letzten Mal. Mit meinem Vater wird es die vorletzte Umarmung in unserem Leben sein.

Bei Berührung entsteht im Körper Oxytocin, das Bindungs- und „Kuschelhormon“. Es verdrängt das Stresshormon Cortisol. Mehrere Tage hält sich das Oxytocin in der Blutbahn, nur langsam wird es abgebaut. Ich fühle mich richtig gut im März 2020. Im Zuge der digitalen Revolution hat man festgestellt: Je mehr Technologie in unser Leben tritt, desto stärker nimmt zwischenmenschliche Berührung ab. Schon vor der Corona-Pandemie berührten wir unser Smartphone über 2600 Mal pro Tag, die Zahl der Singlehaushalte stieg stetig, Fernbeziehungen ebenso. Während zwischenmenschliche Berührung durch diese Veränderungen erschwert wird, erfahren körperbasierte Therapieformen Aufschwung: Massage, Shiatsu oder Osteopathie – sie alle nutzen die Effekte der Berührung, um die Selbstheilungskräfte des Körpers zu aktivieren. Die Kuscheltherapie etabliert sich nun auch in Europa: Bezahlte Kuschler und Kuschlerinnen bieten, was uns im digitalisierten Alltag immer mehr fehlt: Berührung.

Kuscheln als neue Profession

„Man lebt eben isolierter“, versuchte Elisa Meyer 2019 dieses Bedürfnis zu erklären. Die Leipzigerin arbeitet als Kuscheltherapeutin und betreibt die „Kuschelkiste“, eine Plattform im Web, die Menschen, die sich nach Berührung sehnen, an professionelle Kuschler vermittelt. Wer konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, welch ungekannte Isolation noch bevorstehen würde! Kinder können sich ohne Berührung und positive Zuwendung nicht gesund entwickeln. Auch der erwachsene Organismus entspannt bei Berührung: Blutdruck und Herzfrequenz sinken, Stresshormone werden abgebaut. In der Pandemie wird plötzlich jede Berührung zu einer potenziell mörderischen Handlung. Umarmungen, Händeschütteln, schon die bloße Anwesenheit anderer Menschen im Raum können ansteckend sein.

Die Corona-Maßnahmen führen zu extremen Einschränkungen. Stress, Angst und Depression begleiten die Krise. Und just das einfachste Hausmittel, die zwischenmenschliche Berührung, wird zum knappsten Gut. Der digitale Raum ist oft die einzige Möglichkeit für menschliche Nähe. Abstand halten wird zum Gebot der Stunde. „Wenn ich noch weiter Kontakte reduzieren soll“, schreibt jemand auf Twitter, „muss ich den Vorzimmerspiegel abhängen.“

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