Bildschirmkind

Bildschirm-Kinder: Der digitale Babysitter als Krisen-Joker

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Die virtuelle Dauerberieselung ist für Kinder ein denkbar schlechter Zeitvertreib. Im Ausnahmezustand scheint diese Prämisse an Gültigkeit verloren zu haben. Über zu wenig beachtete Kollateralschäden.

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Die virtuelle Dauerberieselung ist für Kinder ein denkbar schlechter Zeitvertreib. Im Ausnahmezustand scheint diese Prämisse an Gültigkeit verloren zu haben. Über zu wenig beachtete Kollateralschäden.

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März 2020. Der IT-Manager Manfred (alle Namen wurden geändert) sitzt mit seinem Sohn Julian im Homeoffice. Seine Frau Barbara arbeitet in einer Drogerie. Österreich befindet sich im Lockdown. Vor der Krise war Manfred kurz davor, für seine Firma einen Großauftrag abzuwickeln. Jetzt droht ihm der Kunde abzuspringen. Und nicht nur der. Via Videokonferenz versucht der Wiener nun mehrere Stunden am Tag, seine Klienten zu halten. Gleichzeitig gilt es, ein Kleinkind zu betreuen, das für die Probleme des Vaters wenig Verständnis aufbringt. Der Dreijährige will mit seinen Autos spielen oder einen Turm bauen. Zwar schafft er es auch einmal, sich 45 Minuten alleine zu beschäftigen; im Anschluss ruft er aber umso lauter nach seinem Papa. Immer wieder muss Manfred deshalb Online-Besprechungen unter- oder abbrechen.

Der neue Streamingdienst „Disney+“ ist schließlich seine Rettung. Er bucht ein Monatsabo, überreicht Julian seinen ausrangierten Laptop und streamt Kinderfilme, wenn für ihn Meetings anstehen. Den Satz „Papa, ich will spielen“ hört Manfred ab diesem Moment kaum noch. Auch ignoriert Julian seine Autos, seine Bausteine oder die Sandkiste im Garten. Stattdessen versinkt der Bub in der virtuellen Welt. Wenn sein Vater das Gerät ausschaltet, bekommt er einen Tobsuchtsanfall.

Manfreds Erfahrungen sind symptomatisch für den coronabedingten Familienalltag in Österreich – vermutlich in der ganzen Welt. Bei einer Forsa-Umfrage (Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analysen) gaben 95 Prozent der befragten Eltern an, dass ihre Kinder im Lockdown Smartphone, Laptop, Tablet und Co weitaus häufiger nutzen durften, als sie das normalerweise tun. Die Mütter und Väter wurden auch nach der Ursache gefragt. Jeder dritte Elternteil begründete das damit, dass es unmöglich gewesen sei, das eigene Arbeitspensum zu bewältigen, wenn gleichzeitig der Nachwuchs zu betreuen war. Nur mithilfe eines Bildschirms sei es gelungen, die Kleinen „ruhigzustellen“.

Empfehlungen klingen wie Hohn

Eine Erfahrung, die auch Gudrun und Christian aus Salzburg gemacht haben: „Wir sind zu fünft, waren zusammengepfercht in unserer Drei-Zimmer-Wohnung. Meine Frau hatte ihre Büroarbeit am Küchentisch erledigt, ich hatte mich ins Schlafzimmer verzogen. Und die Kinder haben in der Zwischenzeit die Wohnung auf den Kopf gestellt. Ganz ehrlich: Wenn wir ihnen nicht regelmäßig unsere Smartphones in die Hand gedrückt hätten, wären wir durchgedreht“, erzählt Vater Christian. „Das heißt nicht, dass wir dabei kein schlechtes Gewissen gehabt haben.“ Manfred, Gudrun und Christian stehen stellvertretend für viele Eltern, die durch den Ausnahmezustand in eine Extremsituation geraten sind.

Dass sie den digitalen Babysitter als einzige Möglichkeit gesehen haben, wenigstens für ein paar Stunden ihrer Arbeit nachzugehen – wer will es ihnen verdenken? Sogar die größten Internetkritiker unter den Erziehungsexperten hielten sich in den vergangenen Wochen mit ihren Ratschlägen zurück. Dennoch: Die virtuelle Beschallung ist für kleine Leute ein denkbar schlechter Zeitvertreib. Diese Prämisse verliert auch in der Krise nicht an Gültigkeit. Je kleiner die digitalen Konsumenten sind, desto schlechter bekommt es ihnen. Und in Bildschirmfragen sind Kinder mindestens bis zum achten Lebensjahr „klein“. Bis zum zweiten Lebensjahr sollten Smartphone und Co ohnehin tabu sein, erklärt Christian Montag, Leiter der Abteilung Molekulare Psychologie an der Universität Ulm.

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