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Digital In Arbeit

Unterwegs in die Nonstop-Gesellschaft

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Fortschritt bedeutet heute Schnelligkeit. Alles muß beschleunigt werden, jederzeit verfügbar sein. Bei diesem „immer, überall und das sofort" läßt sich aber nicht nur gewinnen.

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Fortschritt bedeutet heute Schnelligkeit. Alles muß beschleunigt werden, jederzeit verfügbar sein. Bei diesem „immer, überall und das sofort" läßt sich aber nicht nur gewinnen.

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Bankgeschäfte rund um die Uhr - ein kleiner, kurzer Fastendruck, und alles geht viel schneller. Unabhängig von Schalterzeiten, Wochenenden oder Feiertagen können Sie am heimischen PC Theaterkarten reservieren, die Börsenkurse abfragen oder sogar für den nächsten Urlaub die Last-Minute-Angebote abrufen und sofort buchen. Ganz ohne Ladenschlußzeiten können Sie sich die schönsten Angebote aus dem Versandhandel per Mausklick bestellen. Alles in Sekundenschnelle und ohne einen Schritt vor die Haustür zu machen." Eine solch schöne Welt offeriert beispielsweise die Deutsche Telekom und dies mit dem Versprechen, „an die Welt von morgen" (digitalen) Anschluß zu finden.

„All around the clock" kann jetzt auch, dank der Erfindung eines geeigneten Nachtsichtgerätes, die Aussaat des Möhrensamens im Dunkeln erfolgen. Und dies mit Arbeitskräften, die von Firmen mit so bezeichnenden Namen wie „Tempo-Rent" jederzeit ausgeliehen werden können. Mobile Zeiten allerorten und auch allerarten. „Der Just-in-time Arbeiter", so die Erfolgsmeldung im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung, ist auf dem Vormarsch. Wenn er denn mal gerade nicht gebraucht wird, steht ihm das Erlebnis-Fernsehen zur Verfügung, dessen sogenannte „Nachtlücken" jetzt endlich auch geschlossen wurden. Immer ist was los. Aber: Was ist eigentlich los? Sind wir auf dem Wege zu einem Volk von Bett-flüchtern zu werden? Suchen wir das sehnlichst erhoffte Glück jetzt im Dunkeln, nachdem wir es im Hellen nicht gefunden haben? Oder ist das Glück bereits bei uns eingekehrt, etwa in Gestalt einer Uhr mit Nachtweckautomatik, optischer Empfangskontrolle, internem Zeitspeicher und einer Präzisionsgarantie von einer Sekunde in einer Million Jahren? „Meine Buh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmer mehr", sang einst das am Spinnrad sitzende Gretchen. Tempi passati. Vorbei, es geht uns allen inzwischen so, nur singen wir weniger und schon gar nicht am Spinnrad.

Haben wir bei diesem Fortschritt, der schon lange kein Fort-Schrei ten,

sondern eher ein Fort-Rennen ist, gewonnen oder haben wir verloren? Eine Antwort kann nicht mit der schlichten Kategorisierung von „ja" und „nein" geschehen. Zweifelsohne, es ist anders geworden - aber ob es besser geworden ist, bleibt ungewiß.

Der offensichtlichste Unterschied zwischen dem, was war und dem, was ist, besteht in der Annahme, daß die Rhythmen von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Arbeit und Ruhe unnötige Hindernisse für menschliche Bedürfnisse und wirtschaftliches Handeln darstellen. Als Nonstopideal findet diese Einstellung in unserer heutigen Zeit ihren Ausdruck: Alles möglichst immer und möglichst überall. Dieses Prinzip der Wahrnehmung von Zeit und der Einstellung zur Zeit, die während des frühen Mittelalters in Mitteleuropa entstand, hat mit der globalen Industrialisierung ihren bisherigen Zenit erreicht. In einer erstaunlichen Metamorphose wurde aus einer göttlichen Gabe eine Handelsware.

Technik und Ökonomie setzten den Takt - die mechanische Wiederkehr des Gleichen - an die Stelle der rhythmischen Gliederung des Werdens und Vergehens der Kreisläufe der Natur. Nicht mehr natur- und aufgabenbezogene Rhythmik bestimmten das Leben, sondern die

Eigendynamik des Ökonomischen und des Mechanischen. Zeit und Zeiteinteilung wurden an das abstrakte Medium „Geld" gekoppelt. Durch die Anbindung der Uhrenzeit an Geld entwickelte sich die Zeit zur Ware. Sie konnte damit als Währung gehandelt werden und wurde somit zu einem zentralen Faktor im ökonomischen Kalkül.

Das bringt eine Verschiebung der Wertigkeit von „Zeit" mit sich: Zeit, die nicht in Geld verwandelt werden konnte, schien wertlos. Sie fiel in den Schattenbereich der industriellen Welt. Dies hatte tiefgreifende Folgen für den individuellen und den gesellschaftlichen Umgang mit der lebenden Mitwelt und im Hinblick auf die Einstellung gegenüber den Rhythmen von Natur und Kosmos. Wenn Zeit nämlich Geld kostet, dann wird aus Ruhezeiten und wird aus Pausen unproduktive Zeit, dann bedeuten diese „verlorenes" Geld. Daher mußte und muß die Langsamkeit der Geldwert schöpfenden Schnelligkeit weichen. So wird im Namen von Effizienz, Deregulierung, Flexibilität und gleitender Arbeitszeit heutzutage rund um die Uhr produziert, infor-

miert und konsumiert, wird pausenlos verwaltet und gestaltet, wird nonstop angeboten, gehandelt und verkauft. Mit Gas und dann mit Elektrizität wurde und wird die Dunkelheit gezähmt und die Rhythmik der Jahreszeiten dem abstrakten Schema der entleerten Zeit unterworfen. Arbeit und Erholung, Konsum und Verständigung, werden inzwischen zunehmend so gestaltet, daß sie rund um die Uhr nicht nur möglich sind, sondern auch fleißig getätigt werden.

Das Ideal einer solcherart moneta-risierten Gesellschaft ist dann erreicht, wenn keine Zeit mehr existiert, in der kein Geld verdient oder ausgegeben wird. Wir bewegen uns in diese Richtung. Dieser Dynamik verdanken wir die weitverbreitete Schichtarbeit, die Globalisierung von Handel und Geldwirtschaft, den Reiseverkehr über die Zeitzonen hinweg, die saisonunabhängigen Gewächshauspflanzungen, die Temperaturhomogenisierenden Klimaanlagen, die weltweite Vernetzung unserer Kommunikationsmöglichkeiten und die ortsunabhängige Abrufbarkeit mittels Mobiltelefon.

„Mobil sein ist alles", so das Motto einer weltumspannenden Ökonomie, die durch die neuesten Kommunikationsmöglichkeiten ihre Realisierung fand. Die sekundenschnelle Ortsveränderung von Informationen, die jeden Ort der Welt in kurzer Zeit erreicht, macht diese Welt zum „globalen Dorf. Mit „Globalisierung" werden dieser Prozeß weltweiter Präsenz und die Dynamik der Erschließung aller ausbeutbarer Ressourcen des Erdballs beschrieben Die Ruhelosigkeit einer solchen Gesellschaft drückt sich bei ihren Mitgliedern in dem Bedürfnis aus, möglichst überall zu sein, und weil das nicht realisierbar ist, wenigstens überall erreichbar zu sein beziehungsweise jeden zu jeder Zeit erreichen zu können.

Die Ortsbindung wird aufgelöst zugunsten ständiger Bewegung - zumindest auf der Datenautobahn. Aber nicht nur dort: „Wenn Sie auf grenzenlosen Baum abfahren ..." ja, dann kaufen Sie sich ein Auto der Firma X Y - so die Werbung, die man morgens im Briefkasten finden kann.

In dieser Welt der Exterritoriali-sierung, in der man immer schneller zu jeder Zeit an jedem Ort sein kann, wird das Gefühl von Heimweh und von Fernweh durch das von materieller und ideeller Heimatlosigkeit ersetzt. Die Zeit verliert ihre Bindung an den Ort. Beschleunigung katapul-

tiert uns vom Ort in den Raum, und dieser kennt keine erfahrbaren Zäsuren, an denen wir Zeitstrukturen festmachen könnten. Das Subjekt hat keine Anhaltspunkte, keinen Ort im Raum und auch keinen mehr in der Zeit, um sich als identisch oder als verändert zu erfahren. Wird der Raum durch das Prinzip des „Überall" erobert, so die Zeit durchdade m-mer". Das Nonstop ist (Arlas profitable Ideal beim Flugverkehr, beim Fernsehkonsum, bei den Maschinenlaufzeiten in den Produktionsanlagen, beim Warenverkauf, im Dienst-

leistungsbereich.

Lebensmittel können wir inzwischen an den 1 änkstellen rund um die Uhr einkaufen, der Bankomat liefert dazu das nötige Geld zu jeder Tagesund Nachtzeit - und am Wochenende ebenso. Erdbeeren gibt's saisonunabhängig genauso wie Pfingstrosen das ganze Jahr über und auch die Börsengeschäfte kennen keine zeitlichen und örtlichen Grenzen mehr. Wir fangen kaum mehr an, wir hören immer weniger auf und idealisieren den Zustand, möglichst alles zu jeder Zeit zur Verfügung zu haben.

In einer solchen Welt der Endloszeiten wird die Zeit zu einer subjektiven steuerungsfähigen Größe, bei der

jede Einschränkung dieser Steue rungsmöglichkeiten als Verlust erfahren wird. Eine solche Situation entlastet uns aber nur scheinbar vom Zeitdruck. Vielmehr erhält und vermehrt sie ihn, da wir permanent Entscheidungen über die Zeitverwendung treffen müssen und immer öfters in die Situation kommen, dabei auf vieles, was auch möglich wäre, verzichten zuniüssen. Zeitverdichtung ist das subjektive Gefühl, das uns schließlich alle eint.

Die Nonstop-Gesellschaft ist die Gesellschaft des „homo disponibilis", mit relativ viel Freizeit aber ohne wirklich „freie Zeit". Das sich frei und selbstbestimmt wähnende Individuum ist von der Last gezeichnet, permanent über das „wo" und das „wann", den Ort und die Zeit, entscheiden zu müssen. Die alltäglich zu erlebende Flucht aus dieser Zumutung in noch mehr Beschleunigung, noch mehr Mobilität, gleicht der furchtsamen Beaktion von Verirrten, die sich durch die Erhöhung der Laufgeschwindigkeit aus ihrer prekären Situation zu befreien hoffen. Nicht dem Sisyphos, dem Bild der Sinnlosigkeit des modernen Fortschrittsdenkens, gleicht solch beschleunigtes Dasein, sondern dem ruhelosen 1 Iamster in seinem Tretrad.

Lesen Sie mehr zum Thema in einer der nächsten FuRCHt-Nummern.

Der Autor ist

Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München. Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem Referat, das auf Einladung des Katholischen Bildungswerkes Salzburg gehalten wurde.

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