Muße ist lebenswichtig

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Zeit, Ruhe, Muße sind der wahre, größte Luxus unserer Zeit. DIE FURCHE sprach mit dem Münchner Zeitforscher Karlheinz A. Geißler.

die furche: Laut einer Life-Style Studie von Fessel+GfK leiden mehr als die Hälfte der Österreicher unter Zeitstress, sie haben "zu wenig Zeit". Was empfehlen Sie als Gegenmittel?

Geissler: Man hat natürlich nicht zu wenig Zeit, sondern zu viel zu tun. Das ist etwas ganz anderes. Aber wir sagen, wir haben zu wenig Zeit, um das viele, das wir tun müssen, glauben tun zu müssen oder tun wollen, erledigen zu können. Wir sagen daher, wir haben zu wenig Zeit, statt zu sagen, wir haben zu viel zu tun. Denn wenn man sagt, man hat zu viel zu tun, kann man etwas daran ändern, hat man zu wenig Zeit, kann man es nicht ändern.

die furche: Schnellere Verkehrsmittel, die vielen "zeitsparenden" Geräte oder fast food scheinen das Problem der Zeitknappheit nicht zu lösen, sondern erweisen sich eher als kontraproduktiv. Sie sprechen von der "Beschleunigungsfalle", in die man allzu leicht tappt, oder vom Risiko, ein "gehetzter Zeitsparer" zu werden.

Geissler: Je mehr man dank fortschrittlicher Technologie in einer Zeiteinheit erledigen oder erleben kann, auf um so mehr muss man gleichzeitig verzichten. Man wird also vom Zeitdruck nur erlöst oder befreit, wenn man Askese übt im Hinblick auf die vielen Möglichkeiten, die man hat. Man kann nicht 34 Fernsehprogramme gleichzeitig sehen, sondern muss sich für eines entscheiden. Wenn man zappt, gerät man eher unter Zeitdruck, als dass man davon erlöst wird. Die Frage lautet ganz klar: Auf was verzichte ich? Diese Frage stellt sich immer häufiger.

die furche: Ist der Zeitstress auch eine Folge der Globalisierung?

Geissler: Sie hat zwei Dimensionen. Wir sehen sie hauptsächlich im Hinblick auf den Raum. Elektronische Medien übertragen etwas, das gerade in Tokio passiert, in Echtzeit zu uns. Das ist räumliche Globalisierung. Die Globalisierung hat aber auch eine zeitliche Dimension. In der "Non-stop-Gesellschaft" bekommen wir rund um die Uhr Information. Auch nachts wird übermittelt, was am anderen Ende der Welt passiert. Der Rhythmus von Tag und Nacht, Aktivität und Ruhe ist weitgehend aufgehoben. Es gibt keine Ruhezonen mehr. Die Nacht ist kolonisiert von dem, was anderswo tagsüber geschieht.

die furche: Früher war das Jahr in Arbeits-, Ruhe- und Festzeiten gegliedert. Sie beschreiben in Ihren Büchern, dass "unproduktive Zeiten" wie Feste und Pausen zunehmend verschwinden.

Geissler: Riten des Beginnens und Beendens wurden immer gesellschaftlich organisiert. Richtfeste zum Beispiel, aber auch Trauer- oder Abschiedszeremonien. Diese Riten werden zunehmend wegrationalisiert, weil sie Zeit kosten. Sie können das am Bahnhof beobachten. Früher gab es da viele Abschiedsszenen. Man lag sich in den Armen, verabschiedete sich und winkte dem Zug hinterher oder aus dem Fenster. Das ist völlig weggefallen. Wenn Sie heute auf den Bahnsteig gehen, erleben sie kaum noch Abschieds- oder Empfangssituationen, die rituellen Charakter haben. Bei den neuen deutschen Zügen kann man nicht einmal mehr zum Fenster reinschauen. Technisch ist also ein Abschied gar nicht mehr möglich und er ist auch nicht mehr notwendig, weil die Leute andauernd unterwegs sind. Aber sie sind mit großem Verlustgefühl unterwegs. Um das zu kompensieren, nehmen sie das Handy mit. So wie die kleinen Kinder immer einen Schmuselappen oder einen Teddybären mitnehmen, um ein Stück Zuhause dabei zu haben. Durch die Mobilität wird nicht mehr angefangen und nicht mehr abgeschlossen.

die furche: Pausenlosigkeit ist nicht nur beim Verkehr, bei der Produktion oder Dienstleistungen zum Ideal geworden, sondern auch in der Bildung. Wer nicht ins Abseits geraten will, muss pausenlos Neues lernen. Auch dadurch entsteht Stress, weil man das riesige Weiterbildungsangebot gar nicht nützen kann.

Geissler: Früher konnte man sagen "Ich habe ausgelernt", heute haben wir das lebenslange, oder, wie ich manchmal sage, das "lebenslängliche" Lernen eingeführt. Wir werden nie mehr aus dem Lernen entlassen und frei. Das Ende der Lehre hieß früher "Freisprechung", denn das Lernen hat auch einen Zwangscharakter. Aber diese Freiheit, mit dem Lernen aufzuhören, haben wir heute nicht mehr. Wir müssen das ganze Leben lang Schüler bleiben.

die furche: Wie sollte man auf diese neue Herausforderung am besten reagieren?

Geissler: Man sollte sehr sensibel Rituale wie Matura-Feiern weiter pflegen und Abschlusssituationen auch neu inszenieren, um deutlich zu machen, dass eine bestimmte Lernphase nun abgeschlossen ist und man etwas Neues beginnt.

die furche: Bei dem von Ihnen mitbegründeten Tutzinger Projekt "Ökologie der Zeit" geht es um rechte Zeitmaße. Was bedeutet das?

Geissler: Der schottische Philosoph Bacon hat gesagt: "Man kann die Natur nur beherrschen, wenn man ihr gehorcht." Der Mensch muss sich also die Zeitmaße, mit denen er Natur beherrscht, aus der Natur selber holen. Wir sind in den Zeitmaßen nicht frei, sondern an die zyklischen Rhythmen der Natur gebunden. Man kann nicht ohne Folgen die Nacht zum Tag machen oder permanent die Zeitzonen überspringen, denn das hat gesundheitliche Folgen. Wenn Sie nach Amerika fliegen, können Sie sich zwar in drei Tagen mental auf die Zeitverschiebung einstellen, aber die Verdauung braucht für die Umstellung sechs Wochen. Wenn man sich diesen Zeitsprüngen andauernd aussetzt, bekommt man Verdauungsprobleme oder man wird krank.

die furche: Stichwort Flexibilisierung: Die Befreiung vom starren Zeitkorsett eröffnet doch viele Möglichkeiten zur zeitlichen Selbstbestimmung. Dennoch kritisieren Sie Entwicklungen wie in den USA, wo man rund um die Uhr einkaufen kann.

Geissler: Für das Individuum bedeutet es mehr Freiheit, wenn man jederzeit einkaufen kann. Auf der anderen Seite produziert es eine gesellschaftliche Situation, die keine Ruhezeiten mehr kennt und erhöht den Koordinationsbedarf. Familien müssen Energie aufwenden, wenn sie zum Beispiel abends gemeinsam essen wollen, weil immer noch jemand einkaufen kann zu dieser Zeit. Die Familien leiden eher unter einer totalen Flexibilisierung und die Gesellschaft auch. Eine Gesellschaft kann nicht aufrecht erhalten werden, wenn alle flexibel sind. Das Gemeinsame findet sich nur in der Stabilität. Wir brauchen daher eine Balance zwischen Stabilität und Flexibilität.

die furche: Sie halten es also für sinnvoll, an überlieferten Zeitordnungen festzuhalten, selbst wenn sie auf Traditionen beruhen, die von vielen nicht mehr geteilt werden?

Geissler: Durchaus. Und es geht dabei nicht nur um Lärm und so weiter, sondern auch darum, dass ich permanent verführt werde, aktiv zu sein. Dadurch kommt man nicht mehr zu sich, weil man immer abgelenkt wird. Und wer immer abgelenkt wird, kann nicht mehr unterscheiden zwischen dem Guten und dem Schlechten, dem Angemessenen und dem Unangemessenen. Dazu braucht man Zeit, Ruhe und Reflexionsmöglichkeiten.

die furche: Würden Sie die Woche und den wöchentlichen Ruhetag als eine der großen Kulturleistungen der Menschheit bezeichnen? Sollte man diese Errungenschaft verteidigen?

Geissler: Viele Herrscher haben versucht, die Sieben-Tage-Woche abzuschaffen, aber das Volk hat sich immer dagegen gesträubt. Die französischen Revolutionäre sind damit ebenso gescheitert wie die russischen oder etwa Mussolini. Es gibt ein Gefühl dafür, dass der Sieben-Tage-Rhythmus etwas Entlastendes und Wichtiges ist. Wir sind jetzt mit der Individualisierungsgesellschaft dabei, das unter der Hand abzuschaffen, nicht so brutal, wie es früher versucht wurde. Dagegen wird es keinen Widerstand geben, weil wir die Folgen individualisieren. Während früher die Folgen kollektiv waren und auch der Widerstand kollektiv organisiert wurde. Jetzt werden die Leute einfach krank, und Kranke leisten keinen Widerstand.

Das Gespräch führte Christian Brüser

Zur Person: Ökologie der Zeit

Professor Dr. Karlheinz A. Geißler, geboren 1944 in Deuerling in der Oberpfalz, studierte Philosophie, Ökonomie und Pädagogik in München und lehrt Wirtschaftpädagogik an der Universität der Bundeswehr in München. Gastprofessuren in Linz und Bremen. Mitbegründer des Tutzinger Projektes "Ökologie der Zeit", zahlreiche Publikationen.

Zum Thema: Der Sieg der Hast

"Wenn Zeit Geld kostet, wird aus Ruhezeiten und Pausen unproduktive Zeit, dann bedeuten diese "verlorenes" Geld. Daher musste und muss die Langsamkeit der Geldwert schöpfenden Schnelligkeit weichen. So wird im Namen von Effizienz, Deregulierung, Flexibilisierung und gleitender Arbeitszeit heutzutage rund um die Uhr produziert, informiert und konsumiert, wird pausenlos verwaltet und gestaltet, wird nonstop angeboten, gehandelt und verkauft. Mit Gas und dann mit Elektrizität wurde und wird die Dunkelheit gezähmt und die Rhythmik der Jahreszeiten dem abstrakten Schema der entleerten Zeit unterworfen. Arbeit und Erholung, Konsum und Verständigung werden so gestaltet, dass sie zu jeder Zeit nicht nur möglich sind, sondern auch fleißig getätigt werden. Das Ideal einer solcherart monetarisierten Gesellschaft ist dann erreicht, wenn keine Zeit mehr existiert, in der kein Geld verdient oder ausgegeben wird. Wir bewegen uns in diese Richtung.

"Die Nonstop-Gesellschaft und ihr Preis", Stuttgart 1998

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