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Seit Sonntag ist es - der Sommerzeit sei Dank - abends eine Stunde länger hell. Der Preis dafür sind "gestohlene" 60 Minuten, die wir erst am 31. Oktober wieder zurückbekommen. Aus Anlass dieses "Zeitsprungs" beschäftigt sich die furche im folgenden Dossier mit zahlreichen Facetten der Zeit - von ihrer Verschwendung (S. 21) über die Entschleunigung (S. 22) bis zu der Frage, wie sie sich bildlich darstellen lässt (S. 24). Redaktionelle Gestaltung: Claudia Feiertag Der Philosoph eugen-maria schulak nahm sich viel Zeit, für die furche über die Zeit zu schreiben. Und wie es ihr Wesen ist, lief sie ihm dabei davon.

Um über die Zeit zu einem bestimmten Zeitpunkt zeitgemäß philosophieren zu können, muss ich mir ausreichend Zeit nehmen, damit ich, wenn es dann hoch an der Zeit sein wird, das Gedachte zu Papier zu bringen, auch auf genügend kreative Muße zurückblicken kann. Muße ist ja im Unterschied zur Freizeit jene Zeit, in der wir es zu einer Stille der Gedanken bringen, in uns ruhen und uns aufs Wesentliche hin versammeln.

Ich nehme mir also reichlich Zeit. Dies tue ich aber nicht auf jene Weise, dass ich die Zeit ergreife, meinem Willen unterjoche und sie, gleich einem verfügbaren Objekt, vor mich hinstelle und betrachte - wie einst, Gott hab ihn selig, Heidegger das Bild eines Paares ausgetretener Bauernschuhe hernahm und vor sich hinstellte, um es genüsslich einer hermeneutischen Betrachtung zu unterziehen. Sondern ich nehme die Zeit so, dass ich sie für meine Zwecke zu gewinnen suche. Ich lasse mir also Zeit. Ich lasse mich von ihr einnehmen, wehre mich nur scheinbar gegen ihr Vergehen, buhle, kokettiere, lehne mich zurück. Freilich: Je mehr ich sie vergeude, desto eher drängt sie. Je dringlicher ich in Not gerate, desto mehr spart sie sich auf und verstellt mir den Weg. Lasse ich mich dann aber plötzlich von ihr nehmen, so ist sie augenblicklich reif und steht vor mir. Dann hab ich sie voll und ganz für mich - in der Sprache der Poesie nennt man das die Gunst der Stunde.

Wir können sie nicht haben ...

Niemals aber liegt die Zeit offen zutage, obwohl sie jeweils stets die meine ist. Als eine Anschauungsform der Wahrnehmung entzieht sie sich der Betrachtung. Ohne ein Ding, eine Person, einen Gedanken, der sich in ihr manifestiert, der in ihr geordnet werden könnte, das heißt an sich, nackt, bar jeglichen Inhalts ist sie nicht wahrnehmbar. Kant meinte, sie sei eine transzendentale Bedingung. Ich meine, sie liegt allein deshalb nicht offen zutage, weil sie mein ganz intimer Umgang mit ihr ist. Wir können die Zeit nicht haben, wir müssen sie gleichsam sein, sie gewähren lassen. Sind wir in ihr, so erfüllen sich ihre Tage mit uns. Gehen wir in ihr auf, verschwindet sie, entlässt sie uns in die reine Gegenwart. Denn erst in eben dieser Gegenwart schaffen wir und erschaffen wir uns selbst, jetzt und in alle Zeit.

Doch so wie heute alle Welt stehe auch ich unter Zeitdruck, habe ich mich verloren - und finde mich wieder unter der Herrschaft des Kalküls. Stolz macht mich das nicht. Gleich einer Verschütteten, die unter Geröll um Rettung fleht und leise wimmert, gilt es, meine Zeit zu bergen, "freizuschaufeln", wie es im ökonomischen Jargon heißt. Zweifellos ist das ein Zug der Zeit. Jagdhunden gleich müssen meine Gedanken tagtäglich rund um die Zeitfenster meines Terminkalenders hecheln. Fremdgesteuert treiben sie bellend meine gefügte Zeit aus ihrem Bau. Kommt sie, ohnehin verbeult und bruchstückhaft, zum Vorschein - ach, du liebe Zeit! -, muss ich sie halten, damit sie nicht entflieht, zerrinnt, vertrödelt wird oder die Liebsten gleich Anspruch auf sie erheben, den ich nicht zurückweisen will. Doch wie auch immer: Ich werde die Zeit verlieren, ich verliere sie stets. Was bleibt, sind Erinnerungen.

Im Grunde fehlt mir die Zeit, über die Zeit zu schreiben. Absurd, sich Zeit für die Zeit zu nehmen und dabei Zeit zu verlieren. Was für eine Verschwendung! Je mehr Zeit ich für mein Vorhaben benötige, desto mehr kommt mir der Gegenstand abhanden. Je großzügiger ich die Zeit ihr selbst überlasse, desto eher verlässt sie mich. Vielleicht bestünde die Lösung des Problems darin, mit der Zeit gleichsam Kontakt aufzunehmen und zu versuchen, sie einzuholen, um sie, bei Zeiten, sogar zu überflügeln. Es soll ja Menschen geben, die ihrer Zeit weit voraus sind. Sie gelten uns in der Regel als Vorbild.

Meine Zeit allerdings drängt. In dem Maße, in dem mein Augenlid zuckt, drängt sie. Wohin ihr Drängen führt, ist nicht wirklich ersichtlich. Kleine Ziele in der Nähe weiß ich stets anzugeben, freilich. Aber das Fernziel? Weiß ich um das eigentliche Ziel Bescheid? So wie heute fast alle Menschen in unseren Breiten lebe auch ich in Unruhe und an der Kippe zur Überlastung. Eile und Angst sind meine Gefährten geworden. Finde ich noch einen Ausgang aus meiner selbst verschuldeten Unmündigkeit? Suche ich noch das, was man einst Seelenruhe nannte? Weiß ich eigentlich noch, was Seelenruhe bedeutet? Manchmal bräuchte ich eine Zeitlupe, um meine Zeit überhaupt zu finden.

... und nicht totschlagen

Und dann gibt es welche, die versuchen ihre Zeit zu verschwenden, doch sie werden sie nicht los. Sie versuchen, die Zeit totzuschlagen, doch sie stirbt nicht, steht immer wieder auf, kommt, einer Untoten gleich, stets wieder auf die Beine. Und wenn sie ihr jede Sekunde einzeln aus ihren Minuten prügeln wollten, - sie lässt sich nicht vertreiben, bleibt standhaft an ihrem Platz. Die den Lebensekel haben, erfahren: Zeitvertreib ist Illusion, eine Metapher für Disneyland. Inmitten der Vergnügungsparks stehen sie da, lebenden Leichen gleich, und warten gesenkten Hauptes auf Beschleunigung. Doch die Zeit steht gnadenlos still.

So fragt sich: Wie viel Zeit kann ein Mensch überhaupt verkraften? Um diese Frage zu beantworten, nehme ich Auszeit und bemühe mich, im Selbstversuch folgende These zu bestätigen: Mein Zeitbedürfnis ist in vollkommener Abwesenheit von Hast gestillt. Zur Durchführung dieses Experiments lege ich mich an einem lauen Sommernachmittag auf eine frisch gemähte Wiese. Unter mir befindet sich ein luxuriöses Frottierhandtuch in double King-Size. Die Sonne ist angenehm, Wespen und Ameisen beschäftigen sich mit den Pfirsichkernen achtloser Touristen, mir ist nicht zu heiß und nicht zu kalt, ich bin gesättigt, meine Freunde schätzen mich, man liebt mich sogar. Und nun lasse ich mich fallen, sinke, immer tiefer und tiefer. Wellenartig durchströmen warme Glücksgefühle meinen Körper. Die Zeit wird weich und gibt nach. Nach einiger Zeit ist tatsächlich keine Hast mehr wahrnehmbar. Ich habe jetzt wirklich alle Zeit der Welt. Aber was nun? Das kann es doch nicht gewesen sein!

Das größte Geschenk: Zeit

Im Grunde ist es ein Missverständnis zu glauben, dass man, wenn man sich Zeit nimmt, sie deshalb auch schon hat. Der Irrtum beruht darauf, dass wir meinen, so etwas wie uneingeschränkte Verfügungsgewalt über die Zeit zu besitzen, also ihr Verrinnen nach unserem Willen gestalten zu können. Sich ein Stück Zeit einfach zu nehmen, gleich einem Stück Käse, das man auf den Teller legt und gedankenlos verspeist, ist nicht denkbar. Denn dann sitzt man da, hat die Zeit, und hat doch bloß den Rahmen, freilich ohne Inhalt. Eine Debatte darüber, auf welche Art und Weise es diesen Rahmen sinnvoll zu füllen gilt, wäre endlos.

Aber ist nicht das größte aller Geschenke jenes, jemandem Zeit zu schenken? Sie lässt sich ohnehin nicht sparen und für bessere Zeiten bewahren. Denn wenn die Erntezeit naht, der Schnitter seine Sense durch die Felder zieht, so ist es doch ein lächerlicher Anblick, wenn wir gleichsam mit dem Sparschwein in der Hand Zeitreserven geltend machen wollen.

Noch vermag ich zu nachtschlafender Zeit weiterzudenken, bis ich das Zeitliche segne. Dann aber ist Ruh'.

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