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Der Postwender

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Auf dieser Welt leben, gelinde gerechnet, zwei Milliarden Menschen, von denen jeder, mit „Wer da?“ angerufen, ohne Zögern „Ich“ antwortet. Wir setzen uns stets als zu bekannt voraus, und gerade darum wäre es notwendig, die Menschen einzuteilen. In einem uralten Gutsgebäude fand man zum Beispiel folgendes Dokument: „In diesen erschröck-lichen Kriegsnöten haben wir alle unsere Schätze und Pretiosen verborgen unter Tanf Ulrikchens Zimmertür.“ Wer war und wo wohnte Tante Ulrikchen? Das Haus aber hatte 85 Türen.

Doch wie soll man nun die Menschen einteilen? Das ist die Frage. In Raucher und Nichtraucher, meint die Eisenbahn — ein Verfahren, das vielleicht oberflächlich erscheint, sich aber dann als Meisterstück tiefschürfender Psychologie erweist. Denn die Eisenbahn läßt sich keinen blauen Dunst von Seelenabgründen und so vormachen, sondern nur eben jenen des Tabaks, kraft dessen sie die Menschheit durchschaut und bequem in einzelne Abteile unterbringt. — In Offiziere, Dienstmädchen und Schornsteinfeger? Diese Einteilung, von Kierkegaard erwähnt, hat manches für sich, vor allem den Reiz des phantastisch • Zufälligen; allein ich glaube, die Damen werden dagegen sein. In böse und gute Menschen? Diese Einteilung findet sich in der Bibel und etwa noch bei Shakespeare, denn hinter allen Charakterunterschieden ist solches bei ihm die eigentlich dramatische Differenz. Mit Recht, denn am

Jüngsten Tag werden wir ja alle in Gute und Böse eingeteilt werden. Allein, die fremde Seele ist ein dunkler Wald, wer will sich da hienieden schon auskennen? In Freund und Feind? So meinte es Hitler, aber dann bleibt man schließlich noch ganz allein als sein einziger Freund. In Männer und Frauen? Diese Einteilung wäre allerdings heute nicht immer einfach, besitzt aber für viele den Zauber des Erlebnisses. Doch das ist nicht alles. Ich, der ich mit der Menschheit allenfalls noch durch die Post verbunden bin, teile sie einfach danach ein, wie sie Briefe schreiben.

Und das bringt mich auf den Postwender.

Es gibt nämlich drei Arten, wie die Menschen auf Briefe reagieren: entweder sie antworten überhaupt nicht oder nach einer gewissen Zeit oder sofort.

Die da überhaupt nicht antworten, die Vollmenschen ohne Postgewissen, muß ich bewundern. Welch eine Absage an die Welt! Du kannst mich — scheint er stumm dem Planeten zu sagen — mit Anfragen, Bitten und Seelenbeichten überschwemmen: ich, unbenetzt von diesem Schwall, stoße mit der Fußspitze einen Stein in die Brandung. Beachtung null, Verachtung ein volles Pfund! Dieser Mann ist entweder berühmt, dann kann er nicht antworten (wegen der täglichen Postwagenladung), oder er ist ein Lebenskünstler und denkt: Hat mich meine Mutter dazu geboren? Oder er ist Menschenfeind. Dann kann er gar nicht genug Post bekommen — um jedem Brief genießerisch durchzulesen und grinsend in den Papierkorb zu werfen.

Aber noch ehrfurchtgebietender, weil rätselhafter, ist mir der normale Mensch, der einen Brief empfängt, um dann bis zu dessen Beantwortung eine Zeit verstreichen zu lassen. Der dort kann zwei Monate, dieser drei Wochen und jener etwa zehn Tage liegenbleiben. Wie macht man das nur? frage ich. Diese Normalheit könnte sich so weit steigern, jemand im Vorzimmer fünfundvierzig Minuten warten zu lassen, nur um selber das Morgenblatt gemütlich durchzulesen.

Aber den dritten, den Menschen, der postwendend antwortet, den sogenannten Postwender — den verstehe ich. Postwender wird man, wenn man ein Papierschnitzel nicht auf dem Parkett liegen sehen kann: man muß es aufheben, um der Seelenruhe willen. Bei jeder Verabredung ist er sieben Minuten vorher da. Ich erlebte einmal eine wundervolle Szene, die sich zwischen einem P.ostwender und einer schlampigen Persönlichkeit abspielte. Sie hatten verabredet, sich um 5 Uhr zu treffen. Der Postwender wartete bis SU7 Uhr; aber niemand kam. (Für ihn eine Verletzung, wie die der belgischen Neutralität.) Am nächsten Tag sagte er dem Schlampigen: „Aber wie konnten Sie nur, Sie haben mir doch gesagt, Sie werden um 5 Uhr kommen?!“ — Darauf der andere im Tone ehrlichster, erstauntester Verteidigung: „Ich hab g'sagt, ich werd kommen...“ Hier brach der Postwender in ein Gelächter aus, weil in diesem kostbaren Fall Anklage und Verteidigung den nämlichen Wortlaut hatten. Dabei ist er pünktlich nicht etwa aus Pedanterie, Ordnungseifer, Pflichtbewußtsein oder Menschenliebe, sondern nur um seine Nerven zu beruhigen und dieses quälende Gefühl, „es ist noch etwas unerledigt“, los zu sein. Er befindet sich ständig in jenem Stadium des Reise-liebers, wo man sich fragt: „Habe ich auch nichts vergessen? Habe ich alles eingepackt?“

Ein Schnitzel auf dem Parkett, ein Brief auf dem Schreibtisch — der Postwender beseitigt beide mit derselben Hast, und darum schreibt er viele Briefe. Aber keine guten. Denn dazu hat er keine Zeit; er will doch dadurch gerade Zeit gewinnen. Madame de Sevigne zum Beispiel war kein Postwender, sondern eine Briefschreiberin und das ist was ganz anderes. Für sie war der Brief Zweck, nicht Mittel; sie konzentrierte sich auf ihn, der Postwender jedoch schreibt ihn herunter, um sich nachher — vielleicht— konzentrieren zu können.

Soweit, so gut. Nun kann aber der Fall eintreten, daß zwei Postwender brieflich aufeinandertreffen. So etwas kommt im Leben vor. Der erste erhält demnach sofort Antwort, welche ihm ihrer Schnelligkeit halber suggeriert, daß dieser Brief als besonders wichtig noch besonders schnell beantwortet werden muß! (Denn es sind ja nicht alle Menschen Postwender!) Aber dasselbe suggeriert diese

Antwort auch dem anderen — und nun beginnt etwas ganz Phantastisches, nämlich ein immer rasenderes Hin und Her völlig bedeutungsloser Skripturen, an dem Eisenbahnzüge, Postautos, Sortierer und Briefträger keuchend mitarbeiten und worüber der Gott Merkur lacht, daß ihm die Flügel an den Füßen zittern.

Auch mir passierte das neulich. Dabei war ich noch völlig ahnungslos. Alle paar Stunden kam wie ein Pingpongball der Anlwortbrief zurück. Doch derweil wurde der Inhalt immer magerer: er bestand schließlich fast nur noch aus Anrede und Unterschrift, aber er bestand. Sicher, ein Balzac sah uns beide — jeden nachts in seinem Stübchen über den Schreibtisch gebeugt und mit Stöhnen unnütze Briefe schreibend! Genau so, wie die Menschheit heute keine Zeit mehr hat, weil unsere ganze draufgeht, um zeitsparende Maschinen zu erfinden, zu bauen und zu bedienen ... Bis mir am Ende ein schlimmer Verdacht kam: um Gottes willen, sollte ich nicht etwa ein Postwender sein? Und der da, der schon wieder geschrieben hat, ist er nicht vielleicht auch ein Postwender? Eine Sonne der Erkenntnis war aufgegangen und schien durch das weiße Briefgestöber. Ich blickte auf mein automatisch hingeschriebenes „Sehr geehrter Herr“, setzte dann aber fort „Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Denn Sie, sehr geehrter Herr, sind ein Postwender und ich, sehr geehrter Herr, bin ebenfalls ein Postwender. Lassen wir uns das gesagt sein. Ich flehe Sie an, diesen Brief nicht zu beantworten. Mit kollegialem Gruß Ihr sehr ergebener“ usw. Aber dann dachte ich: der Kerl ist ein Postwender, er wird ja doch antworten!

Nahm den seinen und den meinen, zerriß sie und warf sie in den Papierkorb. Und nun haben wir beide Ruhe. Aber Gott bewahre mich vor Postwendern. Ich bin selbst einer.

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