"Angelsächsisches Modell ist kein Vorbild"

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Heiner Geißler, Ex-CDU-Generalsekretär, kürzlich auf Einladung der Industriellenvereinigung zu Gast in Wien, über den Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber, die Irrtümer des Neoliberalismus, den Stammzellen-Import und die Mitte-Rechts-Regierungen in Europa.

die furche: Der Kanzlerkandidat der Unionsparteien kommt diesmal aus der CSU, der kleinen "Schwester" Ihrer Partei. Was wünschen Sie sich von Edmund Stoiber?

heiner geissler: Ich hoffe, dass er keine rechtskonservativen Akzente setzt. Das hat Stoiber nicht notwendig. Wenn er gewinnen will, muss er in der Mitte gewinnen. Das heißt, es müssen auch liberale sowie religiös motivierte Menschen seiner Politik zustimmen können, nur dann hat er eine Chance.

die furche: Glauben Sie, dass er in diesem Sinne agieren wird?

geissler: Die CSU hat ja deswegen große Mehrheiten in Bayern, weil sie auf der einen Seite eine moderne Hi-Tech-Wirtschaftspolitik betrieben und auf der anderen Seite den Sozialstaat wie kein anderes Bundesland ausgebaut hat.

die furche: Lässt sich das Modell Bayern auf den Bund übertragen?

geissler: Nicht eins zu eins; aber was ich eben gesagt habe, ist sicher für ganz Deutschland wichtig. Die Union hat 1998 nicht nur wegen Kohl verloren, sondern auch weil sie in das Schlepptau der Neoliberalen geraten war.

die furche: Ist die CDU wieder aus diesem Schlepptau herausgekommen?

geissler: Ich glaube schon - abgesehen von einigen Begriffen. Wenn man etwa im Gesundheitsbereich von mehr Eigenverantwortung spricht, dann muss man das genau definieren. Schlagworte, die verbergen sollen, dass die Patienten noch mehr zahlen sollen als bisher, die müssen hinterfragt werden. Doch die Position, die die Union in der Arbeitsmarktpolitik jetzt mit dem Kombi-Lohn (staatliche Bezuschussung für Niedriglohnjobs; Anm.) vertritt, die ist absolut richtig - das hätte man schon längst machen sollen, das ist aber am Widerstand der Liberalen und der Gewerkschaften gescheitert.

die furche: So wie Sie über Stoiber und die Union reden, klingt es, als täte es Ihnen gar nicht leid, dass er und nicht Angela Merkel sich um die Kanzlerschaft für die CDU/CSU bewirbt.

geissler: Nein, es tut mir nicht leid. Vor allem deswegen nicht, weil ich es für nicht so wichtig halte, wer Kanzlerkandidat ist. Die Bundestagswahlen sind immer Richtungsentscheidungen gewesen. Und es gibt keinen Satz, der falscher wäre als der Satz "Auf den Kanzler kommt es an" (Schröders Wahlkampfslogan 1998; Anm.). Auch Helmut Kohl hat nie einen Kanzlerbonus gehabt, das ist ein großer Irrtum; er lag demoskopisch immer hinter der Partei - und meist auch hinter dem Herausforderer. Entscheidend ist die Frage, ob die Leute einer politischen Partei Kompetenz bei der Lösung der ihnen wichtig erscheinenden Probleme zuweisen.

die furche: Was für einen Stellenwert hat das C in der CDU?

geissler: Die Führung geht oft den konservativen katholischen Kirchenführern auf den Leim, die das C an Fragen wie Homosexualität, Schwangerschaftsberatung, Embryonenschutz festmachen wollen. Aber die entscheidende Frage ist: Was würde Jesus heute sagen? Würde er sagen: "Deutschland den Deutschen" und ähnliches? Ich bin sicher, er würde an der Seite derer stehen, die benachteiligt sind, die es schwerer haben. Und da glaube ich, dass es den Frauen und den ungeborenen Kindern tausendmal mehr hilft, wenn man z. B. den berufstätigen Frauen, die ein Kind erwarten, Kündigungsschutz gibt, als wenn man das Strafrecht verschärft. Wichtig wäre heute ein konzeptioneller Beitrag der Kirchen für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung.

die furche: Stichwort Embryonenschutz: Wie bewerten Sie die Entscheidung des Bundestags bezüglich des Imports von Stammzellen?

geissler: Zum einen: Ich bin dagegen, dass man Embryonen züchtet, um sie dann in der Forschung zu verbrauchen. Ich verstehe auch, dass man den Zeitpunkt, ab dem Artikel 1 des Grundgesetzes - "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - gilt, möglichst früh ansetzen will: Da man - und auch die Kirche! - nicht sagen kann, wann der Mensch zu existieren beginnt, verlegt man diesen Punkt vorsichtshalber ganz nach vorne. Auf der anderen Seite ist nicht einzusehen, wieso Embryonen, die bei künstlicher Befruchtung übriggeblieben sind und derzeit vernichtet werden, nicht zu Forschungszwecken herangezogen werden sollen.

die furche: Man könnte das Argument umdrehen und auch gegen künstliche Befruchtung argumentieren...

geissler: Das wäre konsequent. Aber wer will das tun? Wer will Menschen, die sich ein Kind wünschen, die Möglichkeiten verwehren, die eben auch von der Schöpfung gegeben sind.

die furche: Wie stehen Sie also zum Bundestagsbeschluss?

geissler: Vor dem Hintergrund dessen, was ich eben gesagt habe, glaube ich, dass diese Entscheidung einigermaßen richtig war. Und die Kirche muss aufpassen, dass sie in diesen Fragen nicht in einen dritten Fall Galilei hineinschlittert - den zweiten hatten wir schon: die Pillenenzyklika.

die furche: Sie haben für Stoiber die politische Mitte reklamiert. Was ist eigentlich aus Schröders "neuer Mitte" geworden?

geissler: Ein Abklatsch des Neoliberalismus. Diese "neue Mitte" war an "New Labour" angelehnt, aber inhaltlich nicht näher definiert. Rot-Grün hat in der Umwelt- und Ausländerpolitik einiges gemacht, das sich sehen lassen kann: Atomausstieg, Naturschutzgesetz, doppelte Staatsbürgerschaft für in Deutschland geborene Kinder. Damit hat sich's aber schon fast.

die furche: Hätte Deutschland nicht mehr von "New Labour" gebraucht?

geissler: Nein. Wir brauchen nicht das angelsächsische Modell: Die Arbeitsmärkte in England und Amerika sind entgegen landläufiger Meinung schlechter als bei uns. Als sich Bill Clinton damit brüstete, in einem Jahr 700.000 Arbeitsplätze geschaffen zu haben, da meldete sich einer aus Detroit, der sagte: "Davon habe ich drei". Dass man drei Jobs braucht, um überleben zu können, das kann es ja nicht sein. Was wir brauchen, ist eine Reform der Sozialversicherung, eine Senkung der Lohnnebenkosten. Aber nicht durch Privatisierung eines Teils der gesetzlichen Sozialversicherung, sondern durch Einbeziehung aller Einkommen. Da kommen Sie zu hohen Leistungen bei niedrigen Beiträgen. Das Kernproblem ist die Bindung der Beiträge an den Lohn. Das müssen wir ändern.

die furche: Die leeren Sozialkassen, die Überalterung der Bevölkerung zählen nicht?

geissler: Da ist viel Gräuelpropaganda der Privatversicherungen dabei. Ob Ihre Rente sicher ist, hängt nicht davon ab, ob Sie eine private Lebensversicherung abgeschlossen oder in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt haben. Es gilt in beiden Fällen der Grundsatz, dass jeder Sozialaufwand aus dem laufenden Bruttosozialprodukt finanziert werden muss. Eine private Alterssicherung ist keine Garantie, dass Sie einen entsprechenden Ertrag bekommen - das hängt von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Deswegen ist nicht das Entscheidende, wie viele Kinder wir auf die Welt bringen, sondern ob wir genügend Arbeitsplätze haben, um die Renten zu finanzieren. Wenn die Arbeitsplätze da sind, dann sind auch die Leute da, die diese Arbeitsplätze besetzen: Es sollen die Älteren länger arbeiten; es ist ein Unfug, 50-Jährige nicht mehr anzustellen, das Rentenzugangsalter liegt bei uns bei 57 Jahren! Es soll die Frauenerwerbsquote erhöht werden. Und wenn das nicht ausreicht, dann brauchen wir zusätzliche Kräfte aus dem Euro-Raum und auch von außerhalb dieses Raums.

die furche: Es hat in Europa in den letzten Jahren in etlichen Ländern (Österreich, Italien, Norwegen - kein EU- aber ein NATO-Land, Dänemark) einen Wechsel hin zu Mitte-Rechts gegeben. Könnte das ein Problem für die Integrationsbemühungen sein?

geissler: Ja, weil die rechtskonservativen Parteien meist auch antieuropäische Ressentiments schüren.

die furche: Hätte die EU so reagieren sollen wie gegenüber Österreich?

geissler: Nein, weil das schon bei Österreich falsch war. Es war eine Unverschämtheit und ein Unsinn. Ich halte auch die damalige Entscheidung der ÖVP für richtig. Denn die Alternative wäre ja nur gewesen, dass es die ÖVP vier Jahre später nicht mehr gegeben hätte. Ich bin mir des Risikos solcher Regierungsbildungen durchaus bewusst, aber es stellt sich doch meist heraus, dass die rechtskonservativen Parteien nur mit Wasser kochen. Im übrigen muss die Demokratie so etwas aushalten - das gilt ebenso für den anderen Rand des Spektrums: Ich bin auch nicht erschüttert, dass jetzt die PDS in zwei Ländern bei uns mitregiert.

Das Gespräch führten

Wolfgang Machreich und Rudolf Mitlöhner.

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