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Staatsverdrossenheit in der BRD

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Eine neue Vokabel nistet sich im politischen Vokabular der Bundesrepublik Deutschland ein - die „Staatsverdrossenheit”. Hinter diesem Wort steckt eine Entwicklung, die zunehmend von den Politikern aller Schattierungen registriert wird, auf die sie besorgt, aber uneffektiv reagieren und die sich fortgesetzt ausbreitet. Es ist eine schweigende Abkehr von diesem Staat, der seinen Bürgern durch Jahrzehnte Verbesserungen und Fortschritt in einem Maße bescherte, wie kaum ein anderes Land. Es ist aber vor allem die Abkehr von einem Staat, der all das, was seine in der Nachkriegszeit so viel bewunderte Qualität ausmachte, immer weniger garantieren kann und dessen Politiker wenig dazu beitragen, das Vertrauen in den von Krisen geschüttelten Staat zu festigen oder wieder herzustellen.

Ein eklatantes Beispiel dafür, wie in. der BRD Staatsverdrossenheit genährt wird, lieferte die Regierung mit ihren Versuchen, die aus den Fugen geratende Rentenversicherung zu sanieren. Hatte man schon die Wähler vor dem Urnengang getäuscht, indem ihnen vorgegaukelt wurde, alles Reden von einer Krise der Rentenversicherung sei Schwarzmalerei der Opposition, so glaubte man ernsthaft, die Wähler nachher erst recht brüskieren zu können. Die versprochene Erhöhung wurde plötzlich abgeblasen und erst der massive Protest der SPD- Fraktion gegen Schmidt führte dazu, daß wenigstens formal das Wahlversprechen eingehalten wird.

Was sich aber seither rund um die Rentenversicherung abspielt, legt das Problem der SPD-FDP-Koalition erst recht bloß und macht deutlich, wieso in der Bevölkerung das Vertrauen in die Regierung schwindet. Ein Konzept nach dem anderen wird entwickelt, ein Trick um den anderen angewendet, um zu kaschieren, daß eine Sanierung der Renten ohne Opfer der Bevölkerung nicht möglich ist. Ohne Konzept stolpert man von einer „Lösung” zur anderen und läßt nach und nach die unangenehme Wahrheit aus dem Hut.

Die Rentenproblematik ist ein Paradebeispiel. Schmidts Regierungserklärung war der Generalplan der Bonner Hilflosigkeit. Punkt um Punkt wurde so gut wie alles angesprochen, was zu öffentlichen Belangen gehört, aber Akzente, Prioritätensetzungen fehlten. Niemand wollte von Schmidt eine von utopischer Aufbruchstimmung getönte Regierungserklärung haben, wie sie ewist für Brandt charakteristisch war. Aber vom „Macher” Schmidt wollte man doch wissen, was er und seine Leute nun zu machen gedenken.

Es wäre vereinfacht, die Lethargie der Bonner Regierung allein dem Kanzler anzulasten. Obwohl es auch zu einem guten Teil seine Schuld ist, daß seine Mannschaft wenig beiträgt, Vertrauen und Zuversicht in der Bevölkerung zu wecken. Eine Riege meist farbloser Minister verwaltet mehr, als daß sie nach vorne weisende Akzente setzt. Auch die FDP trägt wenig zur Konsolidierung bei. Das Maß an Gemeinsamkeit zwischen SPD und FDP ist weitgehend erschöpft. Die beiden Parteien leben miteinander wie ein Ehepaar, das sich auseinandergelebt hat, das aber doch wohl oder übel beisammenbleiben muß.

Die FDP leistet es sich dabei noch, mit der oppositionellen Union zu flirten, Zumindest im Saarland und in Niedersachsen hat dies auch schon zum Erfolg geführt Es wird vorerst bei diesen beiden Verbindungen bleiben. Die nächsten Wahlen in Niedersachsen werden dann zeigen, ob die

Wähler ein CDU/FDP-Bündnis akzeptieren.

In der SPD, vor allem in deren Parteibasis, blickt man mit zunehmendem Argwohn auf die FDP. Man sieht in ihr den großen Bremser einer sozialdemokratischen Politik, vor allem in der Wirtschaftspolitik, wo Minister Fri- derichs ein eiserner Gegner aller Pläne einer Einschränkung der Marktwirtschaft ist.

Die geringe Effizienz der Regierung Schmidt/Genscher steht in krassem Gegensatz zu der Fülle von Problemen, die bewältigt werden müssen: die anhaltende Arbeitslosigkeit, die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, das Debakel der Schul- und Hochschulpolitik, die Energiepolitik. Keines dieser Probleme dürfte in nächster Zeit zu lösen sein. Aber die Regierung wird Lösungen anpeilen müssen, weil sonst leicht die grassierende Staatsverdrossenheit, etwa bei anhaltender Arbeitslosigkeit, vor allem bei Jugendlichen, in Ablehnung des Staates und Auflehnung gegen ihn Umschlägen könnte.

Was tut die Opposition? Nützt sie die Phase der Schwäche ihres Gegners? Die Unionsparteien scheinen ähnlich gelähmt zu sein wie SPD und FDP. Zum einen hat die Union die Vorgänge, die unter dem Schlagwort „Bad Kreuth” zusammenzufassen sind, noch nicht bewältigt. Der zurückgenommene Trennungsbeschluß wirkte wie ein Signal dafür, daß die Runde für parteiinterne Auseinandersetzungen freigegeben ist. Zu einem Zeitpunkt, zu dem konsequente Oppositionspolitik gegen die angeschlagene Regierung zu machen gewesen wäre, begannen die inneren Auseinandersetzungen, wie so oft, vor allem um Personen. Oppositionsführer Kohl hat gründlich gelitten. Ex-Generalsekre- tär Biedenkopf beginnt eine eigene politische Karriere und dürfte in Zukunft mehr Gegenspieler als Partner sein. Strauß zeigt mit seinen Übersiedlungsplänen nach München, daß er einer Oppositionspolitik unter Kohl keine Chancen gibt.

Der Weggang Biedenkopfs könnte Kohl, wenn auch von ihm sicher nicht ungern gesehen, erheblich schaden. Biedenkopf war es, der die Sachpro- bleme programmatisch bündeln konnte, der auch dort wo die Union keine konkrete Alternative hatte, doch eine eigene, vorwärtsweisende Position aufzeigen konnte. Der neue Mann, Geissler, hat viel zur Profilierung der CDU beigetragen. Aber es dürfte ihm die Souveränität eines Biedenkopf fehlen. Peinliche Pannen, in denen er das Gegenteil von Kohl sagte, zeigen darüber hinaus, daß es momentan in der Union selbst in der engsten Spitze an Klarheit und Entschiedenheit fehlt.

Auch die Union hat in den drängenden Fragen kein Konzept anzubieten. Ein hartes Sachproblem wie die Rentensanierung kann von der Opposition nur mit alternativen Vorstellungen geführt werden. Versäumt die Union dies, wird sie auch in ihrer ideologischen Dimension unglaubwürdig. Wenn sie von der Regierung etwas fordert, was sie selbst in gleicher Position nicht zu geben vermöchte, fördert sie ein Anspruchsdenken in der Bevölkerung, das nur enttäuscht werden kann und dann sicher zu der beobachteten Staatsverdrossenheit führen muß.

Die Union wird sich, unabhängig von ihren Personalproblemen, daranmachen müssen, eine inhaltlich und programmatisch gefüllte Oppositionsstrategie zu entwickeln. Dabei wird sie auch die von ihr selbst entfachte Grundwertediskussion neu, und zunächst vor allem für sich selbst, beleben müssen. Sie wird differenzierter als mit dem groben „Freiheit oder/statt Sozialismus” zu führen sein. Sie müßte von dem Gedanken bestimmt sein, wie in einer Welt, deren Grenzen sichtbar werden, jene Werte bewahrt werden können, für die die Union immer eingetreten ist.

Die neue Grundwertediskussion, die jetzt beginnen müßte, hätte zu fragen, wie Würde, Freiheit und Selbstentfaltung des Menschen in einer freiheitlich demokratischen Ordnung bewahrt werden können, wenn nicht mehr eine schnell wachsende Wirtschaft die Probleme lösen hilft. Aber wenig deutet darauf hin, daß der Union dieser zeitgemäße Durchbruch in der Grundwertediskussion gelänge, ja es scheint gegenwärtig fraglich, ob sie überhaupt zu einer programmatischen Selbstbesinnung fähig ist.

Es kann ihr kein Trost dabei sein, daß auch die politischen Gegner gegenwärtig nicht einmal mehr pragmatisch von einem Problem ins andere stolpern.

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