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Nachdem sich in Bonn das für unmöglich gehaltene Ereignis eines Rücktritts von Bundeskanzler Willy Brandt in Blitzesschnelle vollzogen hat, gehen sowohl die Regierungsparteien SPD und FDP wie auch die Oppositionsparteien CDU und CSU daran, ihre Marschkolonnen neu zu ordnen und eine neue Strategie für die kommenden Schlachten zu entwerfen. Hauptakteur und Brandt-Nachfolger Helmut Schmidt zeigt dabei, daß er voll und ganz bereit ist, die von ihm erwartete Rolle zu spielen.

Seine ersten programmatischen Ankündigungen beweisen, daß er fest gewiillt ist, den Karren der sozial-liberalen Koalition genau dort flott zu machen, wo er sich in den letzten Monaten festgefahren hat, nämlich auf wirtschaftlichem und innenpolitischem Gebiet. Die in jüngster Zeit nicht eben SPD-freundlichen Wähler lockt er mit dem Zuckerbrot der Steuersenkungen und des weiteren Wachstums der Realeinkommen. Die SPD will damit den durch Wahlen und Meinungsumfragen erwiesenen weitverbreiteten Ängsten in der Bevölkerung vor einer Verschlechterung ihrer privaten Existenz entgegenarbeiten. Helmut Schmidts Peitsche hat die Form eines Sparprogramms der öffentlichen Haushalte, womit vor allem die Länderhaushalte gemeint sind. Diese Aktion gilt in rster Linie der Opposition und ihren im Bundestag so widerspenstigen Länderregierungen, trifft aber auch die SPD.

Schmidt wagt damit das offene Eingeständnis, daß von der Reformpolitik der Ära Brandt nun auch eingestandenermaßen Abschied genommen wird. Bereits in den letzen Phasen der Brandt-Regierung war auf bildungspolitischem Gebiet eine massive Reduzierung des Reform-programims aus finanziellen Gründen angekündigt worden. Die von der SPD verkündete Veränderung des Verhältnisses von privatem und öffentlichem Einkommen wird vorerst in die Schublade gelegt.

Die Wirtschaft darf sich von einem Bundeskanzler Schmidt nicht nur mehr Sympathien als* von Brandt erDie Präsidentschaftskandidatur der Volkspartei ist erfolgt. Der Parteirat, laut Statuten dafür kompetent, hat seine Entscheidung getroffen. Was soll's also jetzt noch?

Das Hick-Hack, das weitergeht, hat nämlich nichts mit einer ernst-haften Analyse der Ereignisse um Lugger-Withalm zu tun — sondern es handelt sich offenbar um innerparteiliche „Absicherungen“ diverser Zirkel, „falls es schiefgeht“.

Die Krone der Geschicklichkeit gebührt dabei dem niederösterreichischen Landeshauptmann Maurer, derzeit selbst ein Wahlkämpfer. Nicht nur, daß er seine Rolle offenbar verwechselte, und allein schon vor Monaten nach New York fuhr, um UNO-Chef Waldheim für eine (neuerliche) Kandidatur zu gewinnen (Begründung: „Weil Waldheim ein Niederösterreicher ist“), setzt Maurer auch für Lugger deutliche Zielpunkte: „Wenn er soviel macht wie Waldheim, können wir zufrieden sein.“

Das ist — fürwahr — eine famose Lugger-Unterstützung. Sie vermittelt ein so herzhaft richtiges ÖVP-Be-hagen. warten, sondern auch ein klares Einstehen für die Marktwirtschaft. Gerade wegen seiner grundsätzlichen Ablehnung jeder Sozialisierung der Wirtschaft wird Schmidt jedoch das umstrittene , Mitbestimmungsmodell verteidigen. Nur durch eine verstärkte Beteiligung der Arbeitnehmer an der Leitung der Betriebe meint Schmidt alle Pläne für eine Vergesellschaftung bestimmter Wirtschaftszweige verhindern zu können. Auch bei der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand und bei der Neuordnung des Bodenrechts, durch die Gewinne der Bodenspekulation vom Staat besser abgeschöpft werden sollen, wird Schmidt vom Reformkurs nicht abweichen.

In der Europapolitik bedeutet der Wechsel in der Bonner Regierungsspitze sicher keine Stärkung des europäischen Engagements der Bundesrepublik, aber auch keine direkte Schwächung. Schmidt und vor allem sein zukünftiger Finanzminister Hans Apel waren es, die Bonns resignierende Haltung gegenüber der EG in letzter Zeit artikulierten. Wenn von Schmidt daher auch nicht das starke, oft auch emotionale Engagement Brandts für die EG zu erwarten ist, so ist er sicher auch kein Gegner der Gemeinschaft, sondern sieht diese mit sehr realistischen Augen.

Dieser Realismus, der ihn dagegen ankämpfen ließ, dje Bundesrepublik zum „Zahlmeister Europas“ zu machen, läßt ihn die von nationalen Egoismen möglichst unangetastete EG aber auch schätzen. Die exportorientierte bundesdeutsche Wirtschaft braucht den freien Warenverkehr innerhalb der Gemeinschaft. Das Eintreten für die EG ist für Schmidt datier ein nationales Anliegen.

In der Bündnis- und der Ostpolitik wird unter einem von Schmidt geführten Kabinett die Linie der jüngsten Vergangenheit wohl klarer und offener fortgeführt werden. Die ohnedies etwas angespannten Beziehungen zum Osten haben durch die Affäre Guillaume sicher keine Verbesserungen erfahren. Zurückhaltung auf diesem Terrain wird Schmidt in nächster Zeit sicher nicht als Fehler ausgelegt werden. Für eine Stärkung des atlantischen Bündnisses ist der frühere Verteidigungsminister Helmut Schmidt sicher der richtige Mann. Aber Außenpolitik wird in der nächsten Zeit kaum das Hauptproblem der Bonner Koalition sein. Das neue Gespann Schmidt-Genscher wurde daher schon als „innenpolitische Regierung“ bezeichnet.

Selbst der neue Außenminister Genscher, sicher die problematischste Figur im neuen Kabinett, war bisher Innenminister und entspricht daher dieser Konzentration der Kräfte nach innen. Genscher wird auch kein Mann der Ostpolitik sein. Er war es ja als Innenminister, der für die Errichtung des Umweltbundesamtes in Berlin kämpfte und damit die Beziehungen zur DDR merklich abkühlen half.

Genschers Tun wird in der nächsten Zeit einer scharfen Beobachtung durch die SPD und durch den Regierungschef Unterliegen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß Schmidt am liebsten ohne Genscher regiert hätte. Da aber Scheel an seiner Kandidatur für das Bundespräsidentenamt festhielt, auch Heinemann nicht noch zwei Jahre das Amt versehen wollte, mußte Schmidt mit Genscher vorliebnehmen.

Diesem bei der SPD ohnedies als „rechts“ verschrieen Genscher kön-

nen viele in der SPD nicht verzeihen, daß er in keiner Phase der Auseinandersetzung um die Einstellung Guillaumes ins Kanzleramt seinen Rücktritt erwogen hat, obwohl seine Sicherheitsorgane für die Überprüfung des Kanzlergehilfen zuständig waren. Hätte die SPD freilich Genscher massiv abgelehnt, wäre der Koalitionskrach, auf den die Opposition ohnedies immer hofft, perfekt gewesen. Ohnedies gilt, daß die SPD wahrscheinlich eher gestärkt aus der Krise um den Kanzlerrücktritt hervorgegangen ist, während die FDP mit Mühe ihr Gesicht wahren konnte.

Die Unionsparteien wissen noch nicht so recht, ob sie den Wechsel von Brandt zu Schmidt begrüßen dürfen. Zwar feiern sie den Rücktritt des Kanzlers als „Kapitulation der SPD-Politk“. Diese Niederlage des Gegners kam für CDU/CSU freilich zu früh. Ihre Taktik, die Regierungskoalition bis zur nächsten Bundestagswahl 1976 einem permanenten Verschleiß auszusetzen, war bei dem handlungswilligen, innenpoli-litisch wenig kompetenten Willy Brandt leichter zu realisieren als bei dem energischen, in Finanz- und Wirtschaftsfragen beschlagenen Helmut Schmidt.

Die Unionsparteien geraten bei der Auswertung des Brandt-Rücktritts mit ihren Strategien auch so schon durcheinander. Während sie das Ereignis als Unfähigkeitszeugnis für die SPD bezeichnen,, sind sie an der persönlichen Kampagne gegen Brandt nicht unbeteiligt. Damit räumen sie selbst ein, daß es vielleicht doch ein Politiker und nicht unbedingt eine Politk war, die gescheitert ist.

Heizen CDU und CSU die Kampagne gegen Brandt zu sehr an, müssen sie auch befürchten, das Mitleid mit dem gescheiterten Kanzler zu stärken. Gerade hier liegt wohl die einzige Chance für die SPD, die so wichtigen Niedersachsen-Wahlen noch zu gewinnen. Dieser Wahlgang soll von ihrer Warte aus zur reinen Mitleidswahl werden, in der dem Wähler zugleich suggeriert wird: Gebt der SPD noch eine Chance. Zwar tritt Schmidt mit der Absicht an, schnell innenpolitische Erfolge vorweisen zu können, aber für Niedersachsen, wo am 9'. Juni gewählt wird, reicht noch so entschlossenes Handeln nicht mehr.

Erfolge wird Schmidt aber danach um so dringlicher brauchen. Nur mit ihnen kann er die sich von der SPD abkehrenden Wähler überzeugen, nur mit ihnen kann er aber auch den drohenden innerparteilichen Konflikt durchstehen. Noch stehen etwa die Jusos starr vor Schreck, weil Brandt weg und Schmidt da ist. Aber die in der SPD durch den Kanzlerwechsel plötzlich entstandene Einigkeit kann rasch zerstieben, wenn Schmidts Autorität nicht von einer Erfolgsbilanz gestützt wird. Auch die vielbeschworene Integrationskraft des Parteivorsitzenden Brandt könnte dann ein Ende haben.

Weder für die SPD noch für die Unionsparteien ist vorerst das Rennen gelaufen. Eher kann davon gesprochen werden, daß mit Brandts Rücktritt die Karten neu verteilt wurden. Wem der „new deal“ das bessere Blatt beschert hat, sollte sich relativ bald zeigen.

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