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Zukunft in Neuwahlen

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„Die Situation ist da” lautet ein klassisches Adenauer-Zitat, das angesichts der vielfach als ausweglos betrachteten innenpolitischen Situation der Bundesrepublik unigewöhnliche Aktualität gewinnt. Die Situation: Regierung und Opposition stehen sich gleich stark oder gleich schwach — je nach Betrachtungswinkel — gegenüber. Ein Regieren scheint für die SPD-FDP-Koalition zwar noch möglich, aber kaum mehr sinnvoll zu sein. Als Ausweg bieten sich vorzeitige Neuwahlen an. Brandt fordert sie, die FDP würde sie begrüßen und die CDU/CSU bezeichnet sie als „sympathische Lösung”.-

Daß auch knapp vor der Wien-Reise Brandts trotz dieser allgemeinen Befürwortung noch keine Entscheidung gefallen ist, ob und wann solche Wahlen stattfinden, beantwortet jede Partei auf ihre Weise. Die SPD fürchtet, wie es der schnoddrige Kanzleramtsminister Ehmke ausgedrückt hat, daß die Opposition mit „Tricks”, noch ehe es zu Neuwahlen kommt, Barzel zum Kanzler wählt. Die CDU/CSU schiebt der Regierung den Schwarzen Peter zu und erklärt, erst müsse der Kanzler zurücktreten oder die Vertrauensfrage stellen, ehe über Neuwahlen gesprochen werden könne.

Ursache für dieses Hin und Her ist zum Teil die Verfassung der Bundesrepublik. Die bösen Erinnerungen an die Weimarer Zeit mit ihren raschen Regierungswechseln veranlaßten die Väter des Grundgesetzes, jeden Regierungswechsel innerhalb der Wahlperiode oder deren vorzeitige Beendigung zu erschweren. So kann das Parlament nicht selbst über seine Auflösung entscheiden. Entweder tritt der Kanzler zurück und der Bundestag erklärt, er könne keine Mehrheit für einen anderen Kanzler zustande bringen, oder der Kanzler stellt die Vertrauensfrage und erhält keine Mehrheit. Nur in diesen beiden Fällen kann der Bundestag vom Bundespräsidenten aufgelöst werden. Für beide Fälle fürchtet die Regie-runig, daß die Opposition — noch ehe Heinemann diese Auflösung verfügt — Barzel zum Kanzler wählt.

Auch für diesen Fall der Übernahme der Ragierunigsvenantwor-tung durch CDU und CSU wäre es nicht ausgeschlossen, daß es anschließend zu Neuwahlen kommt, doch wäre es sehr fraglich, ob diese dann bereits im Herbst stattfinden, wie es jetzt von den Regierungsparteien gewünscht wird. CDU und CSU würden wohl etwas mehr Zeit zwischen der Annahme der Ostverträge durch den Bundestag und Neuwahlen verstreichen lassen.

Allerdings scheinen die Chancen der CDU und CSU — gleich, ob in der RegierU'ngsverantwortung oder in der Opposition — bei einem Wahltermin im Herbst nicht sehr günstig zu sein. Frühe Neuwahlen verhindern die Sommerpause und die anschließenden Olympischen Spiele, von denen Franz Josef Strauß bereits sagte, er lasse sie sich durch einen Wahlkampf nicht „versauen”. Einer vielleicht noch immer angeschlagenen CDU und CSU hätte selbst in dem für sie besten Falle nur einen „Kurzzeitkanzler” anzubieten, der in dieser Funktion beim vielzitierten Wählervolk kaum präsent wäre.

Brandt wäre zwar vielleicht ein „Friedenskanzler” ohne Kanzleramt, würde aber sicher mit diesem Image im Wahlkampf operieren können. Die Sogwirkung auf Wählerstimimen, die für jene Partei, die den Kanzler stellt, erwiesen ist, würde die SPD wahrscheinlich selbst bei einem noch im Juni abgewählten Kanzler Brandt für sich erhoffen dürfen. Wäre aber Brandt gar im Wahlkampf noch Kanzler, so wäre er die „Dame im Spiel”, wie man jetzt in Bonn, wo seit dem Patt im Bundestag die Sprache des Schachs beliebt geworden ist, zu sagen pflegt.

So wäre ein Herbstwahltermin für die CDU/CSU kaum sonderlich wünschenswert. Wenn auch keine neuen offiziellen demoskopischen Untersuchungen vorliegen, so ist doch anzunehmen, daß die Regierung nicht offen für Neuwahlen plädierte, wenn die von ihr ständig veranlaßten Meinungsumfragen nicht für sie sprächen. Zwar sieht es so aus, als ob bei Wahlen im Herbst — ähnlich wie zuletzt in Baden-Württeimlberig — lauter Sieger aus der Wahlschlacht hervorgingen. Gerade dies würde auch bedeuten, daß die bisherige Opposition wieder in dieser Rolle bleiben müßte. Denn, so lauten die Trendmeldungen, mehr als eine schwache Zunahme könnten die Ünionsparteien nicht erwarten. Da mit einem Behaupten der FDP und einer schwachen Zunahme der SPD gerechnet wird, würde es zu ähnlichen Mehrheitsverhältnissen kommen wie 1969.

Eine solche Mehrheit für eine SPD-FDP-Koalition wäre dann allerdings stabiler als die letzte, weil sie nicht mehr derartig kontroversen innenpolitischen Belastungsproben ausgesetzt wäre, wie sie besonders die Ostverträge bedeuteten. Vor allem könnte die FDP, die ihre liberal-fortschrittliche Entschlackungs-kur nun überstanden haben dürfte, dann als weitaus sicherer Koalitionspartner gelten als nach den letzten Wahlen, als sie sich weder bei den Wählern noch bei den Mandataren restlos von konservativ-lifberalen Traditionen gelöst hatte. So ist es denn auch vor allem die FDP, die am unbefangensten von Neuwahlen spricht.

Da aber der Juniorpartner der SPD nicht die Entscheidung über Neuwahlen hat, die Unionsparteien sich momentan aus verständlichen Gründen zurückhalten, ist es auch durchaus noch möglich, daß es zu der allgemein als sinnvoll empfundenen Lösung in Form von vorzeitigen Neuwahlen gar nicht kommt. Trotz entschwundener Regierungsmehrheit im Bundestag wären Brandt und seine Mannschaft sicher noch imstande, sich bis zum Ende der Legislaturperiode durchzulavieren. Entscheidende Fragen stehen im Parlament nicht mehr an, Sonderbestim-mungen in der Verfassung erlauben sogar ein Regieren ohne vom Bundestag verabschiedeten Haushalt.

Da in Bonn aber in letzter Zeit politische Überraschungen an der Tagesordnung sind, würde es nicht verwundern, wenn eine ganz unerwartete Lösung des durch das Kräftegleichgewicht entstandenen Problems gefunden würde. Rainer Barzel, der sich in den letzten Wochen einmal mehr als geübter Taktiker mit enormem Stehvermögen erwiesen und seine politische Profiqualitäten bewiesen hat, wäre auch diesmal ein Uberraschungscoup zuzutrauen.

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