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Ruhe vor dem großen Sturm

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Sieben Monate nach der deutschen Bundestagswahl, die der sozialliberalen Koalition unter Kanzler Helmut Schmidt mit wenigen Mandaten Vorsprung noch einmal die Rückkehr ins Bonner Palais Schaumburg brachte, stehen die Deutschen am Krankenbett der seit 1969 werkenden Regierungskoalition. Der als jeder sozialistischen Schwärmerei abgeneigter Macher nach oben gekommene Realist Helmut Schmidt sieht sich heute einer Vielfalt politischer Anfeindungen von innen und einer immer massivere Formen annehmenden Staatsverdrossenheit unter seinen Wählern von gestern gegenüber.

Mit und ohne Eigenschuld ist das Ansehen des deutschen Kanzlers heute auf einem Rekord tief. Nichts mag ihm mehr so recht gelingen. Derselbe Mann, der noch 1972 erklärte, ihm seinen fünf Prozent Inflation lieber als fünf Prozent Arbeitslose, muß heute zur Kenntnis nehmen, daß Deutschlands Ein-Millionen-Arbeits- losen-Heer weit über der von ihm als nicht mehr akzeptabel apostrophierten Marke liegt, ja, daß nur unverbesserlicher Wirtschaftsoptimismus den Glauben an eine - wenn auch nur geringfügige Reduktion des Arbeitslo- sen-Heeres aufrechterhalten kann.

Mehr als je zuvor steht Helmut Schmidt außerhalb seiner eigenen Partei: Das zeigen die (später wieder etwas relativierten) kryptischen Andeutungen der grauen Parteieminenz Herbert Wehner über die Möglichkeiten neuer Regierungsvarianten; das zeigt das Verhalten des Parteivorsitzenden Wüly Brandt, der sich nicht mehr in nobler Zurückhaltung übt, sondern eher am aussichtslosen Da- hinrudem seines Nachfolgers die eigene Schadensfreude stimuliert; das zeigen noch eindrucksvoller die Vorgänge bei den Jusos, die auf ihrem Hamburger Bundeskongreß vor wenigen Wochen mit Klaus-Uwe Benne- ter einen Mann an die Spitze stellten, der für Aktionsgemeinschaften mit den Kommunisten plädiert und in diesen Wochen bei Demonstrationen für „Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit” mit DKP-Leuten gemeinsam in der ersten Reihe marschiert.

Insbesondere die Frage der Atomenergie wie auch die Diskussion über die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit scheiden Schmidt von seiner eigenen Partei, lassen eine Zusammenarbeit zwischen ihm und den Unionsparteien zur unbestreitbaren Tatsache werden. Trotz des breiten Mißtrauens in der Bevölkerung gegen den Bau von Atommeilern,. hält Helmut Schmidt Atomkraftwerke Tür die Sicherung von Wachstum und Wohlstand weiterhin für unverzichtbar.

Was die Abhöraffären betrifft, besteht kein Zweifel, daß Schmidt im Gegensatz zu den linken Spitzen in seiner Partei telephonische Abhöraktionen und „Wanzeneinsätze” gegen potentielle Terroristen als mit den Grundsätzen des Rechtsstaates vereinbar ansieht. Ohne Bedenken erklärte der selbstsichere Schmidt zum Entsetzen so mancher SPD-Abgeord- neter vor dem Bundestag, es sei notwendig gewesen, im Fall Traube und bei den in Stuttgart-Stammheim sitzenden Baader-Meinhof-Angeklag- ten „bis an die Grenzen des Rechtsstaates” zu gehen.

Zu all dem fällt der Partei, die in der öffentlichen Meinung mit Rentenbetrug, Geldskandalen und Spionageaffären in Zusammenhang gebracht wird, auch noch eine Verschlechterung der Beziehungen sowohl zu den USA als auch zu den Sowjets auf den Kopf.

Was Wunder, wenn die momentan in Bonn gestellten Fragen lauten: Springen die Freidemokraten vorzeitig aus der Regierungskoalition aus, um mit den Unionsparteien ein Bündnis einzugehen, wie es auf Landesebene bereits in Niedersachsen und Saarland existiert? Will die SPD unter dem Druck linker Genossen vielleicht freiwillig den Weg in die Opposition antreten oder bereitet sie sich still und leise auf eine neue Partnerschaft mit CDU/CSU vor?

Fest scheint zu stehen, daß sich CDU-Chef Helmut Kohl nach den fast ruinösen Spannungen mit seinem CSU-Widerpart Franz Josef Strauß wieder einigermaßen gefangen hat, daß aber trotz einer Vielzahl sehr kräftiger Persönlichkeiten auf Bundesebene die entscheidenden Impulse nicht aus der Bonner Zentrale zu erwarten sind. Den endgültigen Anstoß für das Auseinanderfallen der sozialliberalen Koalition könnte vielmehr die Serie der Landtagswahlen im kommenden Jahr liefern: In Bayern haben sich die Sozialdemokraten nicht das geringste zu erwarten, in Niedersachsen hat CDU-Ministerpräsident Albrecht durchaus die Chance, die Feuertaufe zu bestehen, in H,essen rechnet heute fast niemand mehr mit einem roten Ministerpräsidenten.

Der hessische CDU-Vorsitzende Alfred Dregger könnte tatsächlich bei den Weichenstellungen der nächsten Jahre eine - wenn nicht „die” - Schlüsselrolle spielen. Der blauäugige CDU-Rechte, der sich als Oberbürgermeister von Fulda und später als Sicherheitssprecher auf Bundesebene profilierte, setzte seine politischen Gegner in Hessen einem bisher nicht dagewesenen Erosionsprozeß aus: Binnen zehn Jahren katapultierte er seine Partei in Hessen von schwachen 26,4 Prozent bis knapp an die 50-Pro- zent-Marke hinauf. Derzeit verfügt die CDU im Wiesbadener Landtag über 53 der 110 Sitze, was ihr mit ein bißchen Glück bei Mißtrauensanträgen gegen die lavierende Landesregierung mit Hilfe von nur drei Überläufern durchaus vorzeitig den erhofften Erfolg bringen könnte.

Die Reihe der sensationellen CDU- Erfolge unter Alfred Dregger, der aus der hessischen Honoratiorenpartei eine stramme Organisation mit rund 63.000 Mitgliedern machte, wurde durch die „hessische Landnahme” vom März dieses Jahres noch übertroffen. Waren bisher die größeren Städte des 5,6-Millionen-Landes Hessen traditionell in sozialdemokratischer Hand, so konnte sich anläßlich der jüngsten Kommunal-Katastrophe der SPD nur Kassel mit 36 von 71 Sitzen im Stadtparlament eine hauchdünne Mehrheit bewahren. In den kreisfreien Städten, wo die SPD am stärksten war, gewann die CDU 12,4 Prozent, die SPD verlor 11. In Frankfurt schaffte die CDU mit 51,3 Prozent sogar eine noch höhere absolute Mehrheit, als die SPD mit 50,3 Prozent zuletzt besaß.

Hessens sozialdemokratischer Ministerpräsident Holger Börner, der im Oktober die schwere Erbschaft seines Vorgängers Albert Osswald angetreten hat, ist sich klar darüber, daß neben den Skandalen auf Landesebene auch die Bundesregierung zu einem guten Teil für das Abwirtschaften der SPD Hessens verantwortlich zeichnet.

Die politische Szenerie in der Bundesrepublik erinnert an die sprichwörtliche Ruhe vor dem großen Sturm. Die CDU-FDP-Koalitionen in Niedersachsen und Saarland wurden bisher ins Unterbewußtsein verdrängt. Bis auf weiteres scheinen sich die Blicke der politischen Auguren auf Hessen zu richten, wo ein weiteres Erdbeben die Bonner Koalition zur Kapitulation zwingen könnte.

Nicht ohne Grund stellten die deutschen Kommentatoren den Wahlsieg der CDU bei den Kommunalwahlen unter den Titel: „Wenn Hessen kippt, ist auch Bonn weg”. Möglicherweise ist spätestens nach den hessischen Landtagswahlen der Weg frei für eine neue Ära, die die bundesdeutsche Politik zu gewohnter Stabilität zurückführt.

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