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Auf des Messers Schneide

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Der Kampf für die Wahl des deutschen Bundestages am 19. September geht zu Ende. Ludwig Erhard fuhr 18.000 Kilometer im Sonderzug. 'Willy Brandt, von seinen Beratern auf Bundeskanzler in spe getrimmt, hat in 26 Tagen 44 Großstädte samt umliegenden Ortschaften besucht und dabei 75 große Reden und 250 kürzere Ansprachen gehalten. Auch Barzel, Dufhues, Erler und der Hamburger Innensenator Helmut

Schmidt sowie zahlreiche andere standen in pausenlosem Einsatz. Konrad Adenauer, der unverwüstliche große alte Mann, spricht vor Tausenden im Rhein- und Ruhrgebiet (denn dort werden die Würfel fallen).

Es steht auf des Messers Schneide. Bei der vierten Bundestagswahl von 1961 hatte die CDU/CSU mit 242 Mandaten (ohne Berlin) und 45,4 Prozent der Wählerstimmen noch einigen Vorsprung vor den 190 Mandaten und 36,2 Prozent der SPD. Inzwischen aber hat sich bei den Landtagswahlen das Gesamtverhältr nis CDU/CSU:SPD auf 42:43,3 verschoben! Nun, Bundestagswahlen sind keine Landtagswahlen, aber der Zug ist ceutlich. Die Meinungsforschungsinstitute, die natürlich fleißig Befragungen durchführen, geben fast durchwegs einen knappen Vorsprung der SPD an.

Die zehn kleineren Parteien, die sich noch um die Gunst des Wählers bemühen, werden, wie schon vor vier Jahren, an der 5-Prozent-Klausel scheitern. Sie können zum Teil in den Ländern regieren. Auch in Deutschland besteht ein unübersehbarer Zug zur Parteienkonzentration. Saßen 1949 noch elf Parteien im Bundestag, so waren es 1943 nur mehr sechs, 1957 mit der Deutschen Partei vier. Bei dem Kopf-an-Kopf-Rennen der beiden großen Parteien können aber die kleinen durch Stimmenverluste den Ausschlag geben. Noch wichtiger allerdings ist die Gewinnung der NichtWähler, was vorwiegend der Union und der FDP zugute käme. Bei den Landtagswahlen enthielten sich 10 Millionen Wähler der Stimme! Die Jungwähler sollen nach Meinungsumfragen ebenfalls eine Neigung zu den Unionsparteien zeigen.

Zuschnitt auf den Wohlstandsbürger

Die Wahlparolen der Großparteien sind vorwiegend auf das pragmatische, um nicht zu sagen materialistische Denken des Wohlstandsbürgers abgestellt: Sicherheit mit Erhard — sicher bei der SPD! Weltanschauung ist wenig gefragt. Die „Entideologisierung“ der Parteien hat ihre Fortschritte gemacht; Programme und Parolen gleichen sich einander zusehends an. Bei einer demoskopischen Erhebung wurden politisch festgelegte Wähler gefragt: „Was würden Sie wählen, wenn es Ihre Partei nicht gäbe?“ Die CDU-Wähler sagten: SPD. Die SPD-Wähler antworteten: CDU. Sicherheit hier wie dort: Erhard verbürgt Stabilität der Währung, die SPD soziale Sicherheit.

„Sind die Parteien austauschbar?“ fragt besorgt eine deutsche Zeitung. Noch sind sie es nicht, aber es besteht kein Zweifel, daß die Fluktuation zwischen CDU/CSU und SPD zugenommen hat. Dies manifestiert sich in Wahlzeiten in der zunehmenden Gereiztheit, mit der von beiden Seiten die Frage behandelt wird: Kann ein Katholik SPD wählen? „Die SPD ist für einen gläubigen Katholiken nicht wählbar“, erklärte kürzlich wieder die CSU im Namen einer „Gruppe junger Katholiken“. Waldemar von Knoeringen, zusammen mit dem früheren CDU-, jetzigen SPD-Abgeordneten Peter Nel-len geistiger Verbindungsmann zu den C-Parteien, antwortete in einem offenen Brief, es gebe keine lehramtliche Äußerung der Kirche, die es einem Katholiken verwehre, sozialdemokratisch zu wählen. Nun, eine solche Äußerung hat es zwar gegeben — die bekannte Stelle in der Enzyklika Pius' XI. „Quadragesimo anno“: „Der Sozialismus, gleichviel ob als Lehre, als geschichtliche Erscheinung oder als Bewegung, bleibt mit der Lehre der katholischen Kirche immer unvereinbar — er müßte denn aufhören, Sozialismus zu sein. Der Gegensatz zwischen christlicher und sozialistischer Gesellschaftsauffassung ist unüberbrückbar.“ Inzwischen habe sich, werfen jedoch die Vertreter des demokratischen Sozialismus ein, der Sozialismus tatsächlich gewandelt, was auch Johannes XXIII. in „Mater et magistra“ ausdrücklich feststellte. Die deutschen Sozialisten verweisen insbesondere auf ihr Godesberger Programm, in dem sie von der traditionellen klassenkämpferischen Ideologie abrückten, um die Wandlung von der Klassenpartei zur Volkspartei zu vollziehen, eine Entwicklung, die offenbar durch den Schock der Bundestagswahl von 1957, bei der die Union die absolute Mehrheit erhielt, beschleunigt wurde. Doch weist auch die praktische politische Arbeit der SPD seither eine gewisse Wandlung auf, wie sie etwa vor kurzem in der Frage des niedersächsischen Konkordats zum Ausdruck kam.

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