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Menetekel

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Ludwig Erhard ist entschlossen, mit einer Minderheitsregierung im Amt zu verbleiben. Besorgte Leute haben ihn gefragt, wie lange er glaube, das durchstehen zu können. Aber er hat mit einem Optimismus, der von vielen für unrealistisch gehalten wird, geantwortet, er werde schon durchkommen. Seine Hoffnung scheint er vor allem darauf zu setzen, daß die FPD nach den bayrischen Wahlen am 20. Dezember bereit ist, wieder in die Regierung zurückzukehren.

Diese Rechnung kann aufgehen, sie kann sich aber auch als Milchmädchenrechnung erweisen. Die von der GDU/CSU befürworteten Steuererhöhungen sind nämlich nicht der einzige Grund für das Ausscheiden der FDP aus der Koalition. Vielmehr hatte sich schon seit längerem allerlei Unmut in den Reihen der FDP aufgestaut. Dabei spielten die Überlegungen eine Rolle, die CDU befinde sich in einem zunehmenden Verfall und die FDP müsse sich rechtzeitig von ihr trennen, um sodann auf Kosten der CDU einen großen Fischfang im Wählervolk zu machen. Ernstlich spekulieren FDP- Politiker darauf, daß die Partei bei den Bundestagswahlen 1969 dann 15 bis 20 Prozent der Stimmen erreichen könne.

Unter diesen - Umständen ist es heute völlig offen, ob die FDP in einigen Wochen bereit sein wird, den Schritt zurück zu tun. Anderseits ist die Haltung der Partei nicht geschlossen. Ein starker Antrieb in Richtung einer großen Koalition im Bund geht vom Innenminister Weyer aus Nordrhein-Westfalen aus, der dort schon einmal vor Jahren die CDU zugunsten der SPD im Stich gelassen hat. Auch dęr Fraktionsgeschäftsführer im Bundestag, Genscher, und der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Zoglman, Sudetendeutscher und früher in der Reichsführung der HJ, zählen zu den einflußreichen Kräften, die aus der bisherigen Bonner Koalition hinausgedrängt haben.

Dabei ist auch die Profilneurose der FDP wieder aufgetreten. Die vier Kabinettsmitglieder der FDP waren bereit, den Weg zu einem Kompromiß zu suchen, und entsprechend hatten sie sich im Kabinett verhalten. Aber als am nächsten Morgen ein Massenblatt mit der Schlagzeile „FDP wieder umgefallen“ erschien, hatten diejenigen gewonnenes Spiel, die der CDU aufsagen wollten. Scharfe Erklärungen des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Barzel, waren sodann der letzte Anlaß, diesen Bruch zu vollziehen.

Eine Minderheitsregierung Erhard könnte eine Weile einigermaßen ungestört regieren, wenn sie nicht im Bundestag eine Anzahl von Entscheidungen herbeiführen müßte, voran die Feststellung des Bundes haushaltsplanes für 1967. Dieser Plan weist eine Lücke von mehreren Milliarden auf. Er muß vor Beginn des neuen Haushaltsjahres verabschiedet sein. Die Regierung kann allerdings, wenn dies nicht geschieht, die nötigsten Ausgaben bewilligen, doch kann sich dies natürlich nicht zu einem Dauerzustand auswachsen. Erhard steht daher vor der Wahl, entweder die Ausgaben rigoros zu drosseln oder die Steuererhöhungen vorzunehmen, derentwegen es zum Auszug der FDP gekommen ist. Man spricht davon, daß eine Erhöhung der Einkommensteuer um 15 Prozent, möglicherweise um 20 Prozent notwendig sein werde. Wie immer sich Erhard am Ende entscheidet, in jedem Fall hat er heftige Kritik der verschiedensten Bevölkerungsschichten zu erwarten. Vor allem aber muß Erhard gewärtig sein, daß er eine Mehrheit für den Haushalt im Bundestag nicht findet. Wenn die Opposition — SPD und FDP — ihn stürzen will, dann wird sie die erste beste Gelegenheit hierzu ergreifen.

In den Wandelgängen des Bundestages ist in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen worden, ob Erhard dann die Vertrauensfrage stellen werde. Kenner der politischen Kulisse halten dies jedoch für höchst unwahrscheinlich. Erhielte Erhard nämlich dann keine Mehrheit, so könnte der Bundespräsident auf. Grund der Verfassung den Bundestag auflösen und Neuwahlen ausschreiben. Dabei ist anzunehmen, daß Lübke die Kannvorschrift anwenden würde. Für Bundestagswahlen zu diesem Zeitpunkt werden jedoch der CDU allgemein wenig günstige Prognosen gestellt. Die CDU wird daher Neuwahlen mit großer Wahrscheinlichkeit vermeiden wollen.

Anderseits ist es möglich, daß sich SPD und FDP zu einem konstruktiven Mißtrauensvotum zusammenfinden. Dann müßten sie sich auf einen neuen Kanzler einigen, ihn mit ihrer Mehrheit von sechs Stimmen im Bundestag wählen und sodann den Bundespräsidenten ersuchen, den bisherigen Bundeskanzler zu entlassen. Diesem Ersuchen müßte der Bundespräsident stattgeben. Aber bis es dahin kommt, müssen erst die unterirdischen Gegensätze in der FDP ausgetragen sein. Es gibt Anzeichen dafür, daß nicht nur drei ihrer bisherigen Bundesminister (ohne Dahlgrün), sondern auch andere starke Kräfte in der Partei die Koalition mit der CDU wiederherstellen wollen.

Unterdessen hält sich die SPD zurück, spinnt ihre Fäden und hält sich — nach allen Seiten — absprungbereit. Während der letzten Berliner Sitzung des Bundestages hat Herbert Wehner gesprächsweise der FDP ein Angebot nahebringen lassen. Anderseits unterhält er zu einflußreichen CDU-Politikem seit langem Verbindungen, die schon morgen in eine handfeste Koalition umgewandelt werden könnten. Allerdings hat Wehner mit seiner rauhen Offenheit künftige CDU-Partner schon vor der SPD mit der Bemerkung gewarnt, mit ihr werde „nicht gut Kirschenessen“ sein. Darüber hinaus ist die SPD in einiger Verlegenheit, wen sie im Fall einer Koalition mit der FDP als Kanzler präsentieren könnte. Wehner fällt aus vielen Gründen aus. Erler leidet nach wie vor an einer heimtückischen Krankheit. Bliebe Brandt, aber es ist nicht gewiß, ob die Zuneigung zu Brandt in der FDP sehr groß wäre. In der SPD wie in der CDU und in der FDP machen sich allerorten Verschleißerscheinungen bemerkbar. Es wird nun deutlich, wie stark die alte Garde durch die gewaltige Arbeit in den fünfziger Jahren abgenutzt und wie wenig an jungen Kräften nachgerückt ist.

Der Ausweg aus der gegenwärtigen Lage ist auch deshalb so schwierig, weil sowohl CDU und FDP wie FPD und SPD erst nach einer Plattform für ihre Regierungsarbeit suchen müßten. In der Finanz- und Wirtschaftspolitik sind CDU und FDP zerstritten. Sie sind sich aber auch nicht einig darin, welche Politik in der Deutschlandfrage eingeschlagen werden soll. Die „kleinen Schritte“ zur Annäherung, die von der FDP empfohlen werden, die Mende im Kabinett immer wieder präjudizieren wollte und die von der FDP, soweit wie möglich, auf unteren Ebenen betrieben werden, finden in weiten Kreisen der CDU ein sehr negatives Echo. Umgekehrt ist die FDP mit der SPD gerade in diesen Fragen weitgehend einig — auch in der Bevorzugung des angelsächsischen Kurses in der Außenpolitik. Aber in der Sozial- und Kulturpolitik müßten beide Parteien mächtige Schatten überspringen, um zueinander zu kommen. Daher fragt es sich, ob SPD und FDP in der Lage wären, sich schnell auf ein Regierungsprogramm, insbesondere auf einen Kanzler zu einigen — eine Einigung, die unerläßlich ist, wenn sie Erhard in offener Feldschlacht aus seinem Amt entfernen wollen. Bevor diese Einigung nicht erzielt ist, haben sie nur die Möglichkeit, die Gesetzesarbeit der Regierung im Bundestag zu blockieren und ihr dazu über die Länder im Bundesrat immer neue Schwierigkeiten zu bereiten.

Noch nie befand sich die CDU in einer so schwierigen Lage wie jetzt. Seit 1949 war sie Herr im politischen Ring. Jetzt stehen ihr Auseinandersetzungen und Entscheidungen bevor, die für ihre Zukunft von größter Bedeutung sein können. Man braucht nur daran zu denken, daß sie seit 1949 in Bonn an der Regie rung ist und im Bundesrat stets über eine Mehrheit verfügt hat. Das hat die Schwere der Entscheidungen, die zu treffen waren, nicht vermindert, wohl aber das Regieren erleichtert. Jetzt bläst der Wind der CDU allerorten ins Gesicht. Die Wählerschaft schmilzt. Das Flammenzeichen des Menetekel erscheint erstmals wirklich an der Wand. Erstmals taucht ernsthaft die Gefahr auf, daß die CDU die gewohnten und liebgewordenen Positionen der Macht räumen muß.

Dabei ist die Bedrohung von außen zum Teil die Auswirkung von Entwicklungen — außen- und wirtschaftspolitisch —, für die nicht allein die Bundesregierung und damit in erster Linie die CDU verantwortlich gemacht werden kann. Ruhig denkende Kritiker räumen denn auch ein, daß sich nicht allein die CDU verändert hat, sondern daß auch die Gezeiten gewechselt haben. Aber dort, wo Ressentiments und Emotionen das Urteil mitformen, wird der CDU zumindest vorgeworfen, sie habe nicht rechtzeitig der rückläufigen Entwicklung entgegengewirkt, wenn nicht vereinfachend erklärt wird, sie sei überhaupt an der allgemeinen Malaise schuld.

Das Absinken der Macht und des Ansehens der CDU ist zu einem guten Teil jedoch auch die Folge der inneren Zerrissenheit der Partei, die seit Adenauers Abgang der festen, zielsicheren und zugleich geschmeidigen Führung entbehrt und darüber hinaus mit zahlreichen, immer schwieriger werdenden Problemen immer unvollkommener fertig wird.

Außerdem ist offenkundig, daß im Untergrund der Kampf um die Nachfolge Erhards in Partei und Regiei-ung in vollem Gange ist. Gerstenmaier hat kürzlich Erhard offen den Fehdehandschuh hingeworfen. um freilich hinterher zu beteuern, er habe es nicht ganz so gemeint. Schröder wird seit langem nachgesagt, er versuche auf unauffällige Weise die Schuld der Fehl entwicklungen seines Ressorts auj Erhard abzuschreiben und dadurch selbst in den Vordergrund zu kommen. Von Barzel wird behauptet, sęine Taktik der letzten Zeit sei darauf berechnet gewesen, Erhard zu Fall zu bringen, damit er selbst ins Palais Schaumburg einziehen könne. Behauptungen dieser Art, gleichgültig, wieviel sie Dichtung oder Wahrheit sind, kennzeichnen die gegenwärtige Atmosphäre in Bonn.

Hier und da ist bereits von einer Staatskrise gesprochen worden, für die schon die Schuldigen gesucht werden. Das ist gewiß verallgemeinert und zugespitzt. Aber es steht außer Frage, daß die Bonner Vorgänge im Lande einen schlechten Eindruck hervorrufen. Mehr und mehr kann man draußen hören, die Demokratie werde von den Politikern in Bonn verwirtschaftet — und von diesem Eindruck bis zu dem Gedanken, damit sei die Unzulänglichkeit des demokratischen Systems erwiesen, ist, wie man weiß, kein allzu großer Schritt. Deshalb wird auch in Bonn mit besonderer Aufmerksamkeit darauf geachtet, wie die rechtsradikale NPD bei den nächsten Wahlen, in Hessen und Bayern, abschneiden wird. Es kann natürlich auch sein, daß sich die CDU in letzter Stunde noch fängt. Aber dazu bedürfe es einer außergewöhnlichen Anstrengung und einer starken Persönlichkeit an ihrer Spitze, die das Ruder mit äußerster Kraft herumreißen müßte.

Soweit der Bericht unseres ständigen Bonner Mitarbeiters. Aus dem Blickwinkel des ausländischen Beobachters, aus einer größeren Distanz, lassen sich noch andere Gesichtspunkte hinzufügen.

Krise in Bonn: an dieses Schlagwort hat man sich noch kaum gewöhnt. Krise in Rom, in Paris, in Brüssel — ja; aber die Bundesrepublik galt als das Muster an Stabilität. Und als ein solches Muster kann sie noch immer mit einer gewissen Berechtigung angesehen werden. Denn nicht die westdeutsche Demokratie befindet sich in einer Krise, sondern die Regierung und die (relative) Mehrheitspartei. Aber die deutsche Demokratie ist ein gebranntes Kind. Weimar war ein Beispiel dafür, daß ein Mangel an Stabilität im System einen Mangel an Stabilität des Systems n’aeh sich ziehen kann.

Das Ausscheiden der FDP aus der Regierungskoalition, der Gesichts- veriust des Bundeskanzlers, die Uneinigkeit der CDU/CSU gehen Hand in Hand mit einer zunehmenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in der Bundesrepublik. Verschlechtert sich diese weiter, wäre nun für Bonn, für Deutschland eine günstige Gelegenheit, den Nachweis zu erbringen, daß die deutsche Demokratie nicht nur eine Folge des Wirtschaftswunders ist, daß sie keineswegs ausschließlich eine „Schönwetterdemokratie“ ist, die jedem Unwetter, das am Wirtschaftshorizont heraufzieht, zum Opfer fallen kann. Deutschland könnte der Welt gegenüber demonstrieren, daß seine Demokratie krisenfest ist, daß die Angst vor einer Wiedergeburt der „deutschen Gefahr“ wirklich ein Unsinn und ein Produkt östlicher Propaganda ist. Und allen Anhängern eines primitiven Ökonomismus, den es in allen politischen Lagern gibt, könnte bewiesen werden, daß der Grad de - demokratischen Reife eines Systems nicht in unmittelbarer Abhängigkeit von der Kurve des Wirtschaftswachstums steht. Die Krise als eine Chance — auch so kann man die Schwierigkeiten der Bonner Regierung sehen.

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