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Geschlagen vor der Schlacht ?

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Was jedermann außer Rainer Barzel seit dem 17. Mai kommen sah, ist eingetreten. Willy Brandt hat angekündigt, daß er zu einem ihm genehmen Zeitpunkt die Vertrauensfrage stellen und damit Neuwahlen ermöglichen wird. Als Wahltermin kommt bekanntlich nur ein Sonntag in der zweiten Novemberhälfte in Betracht, wahrscheinlich der 26. November, der Totensonntag. Für eine Partei werden an diesem Sonntag die Totenglocken läuten, und es müßte schon ein Wunder geschehen, wenn es nicht die CDU/CSU wäre, die am Abend dieses Tages die Hoffnung begraben wird, wieder an die Macht zu kommen.

Gewiß, man soll sich mit Prophezeiungen in acht nehmen. Nicht nur die Demoskopen irren sich — sie allerdings besonders oft —, auch Politiker und Publizisten mit einem guten Gespür für kommende Dinge können sich irren. In den fünf Monaten, die bis zu den Wahlen bleiben, kann viel geschehen, aber es müßte eben schon ein wirkliches Wunder geschehen, wenn der Sieger der nächsten Wahl nicht Willy Brandt hieße. Denn was kann ihm eigentlich noch geschehen? Die Sowjets werden stillhalten, sowohl durch Versprechungen als auch durch Drohungen. Auf beides fallen bundesdeutsche Wähler üblicherweise herein. Die Teuerung? Daran hat man sich nachgerade gewöhnt Eine wirtschaftliche Rezession ist nicht zu fürchten. Der Anarchistenschreck, der vor wenigen Wochen noch gewirkt hätte, wird vergessen sein. Die Capos der Baader-Meinhof-Bande sitzen hinter Schloß und

Riegel, der liberale Innenminister Genscher schreibt sich das Verdienst zu, die Gangsterquartiere ausgehoben zu haben, und bis zum Wahltag werden die zu vier Fünfteln links gestimmten Massenmedien schon wieder mit sentimentalen Argumenten für die Anarchisten trommeln. Brandt wird als der „Friedens -kanzler“ durch die Lande ziehen, die Olympiade wird ihm den letzten Glanz liefern, und wenn er ein wenig Glück hat, bringt er im Oktober noch den „Europa-Gipfel“ zustande, der als weiterer Beweis für die erfolgreiche Friedenspolitik dienen muß.

Noch am Abend des 23. April sah es so aus, als würde die CDU/CSU aus einer Bundestagswahl mit einer ansehnlichen absoluten Mehrheit hervorgehen. Da leistete sie sich die Dummheit des konstruktiven Mißtrauensvotums, das ihr eine Schlappe brachte und ihren Kanzlerkandidaten Barzel der Lächerlichkeit preisgab. Und dann kam der 17. Mai. Was immer Barzel bewogen hat, durch Stimmenthaltung die Ratifizierung der Ostverträge zu ermöglichen, ob es die Angst vor den Sowjets, ob es die Angst vor einem Wahlkampf war, das Schlimmste war doch der Offenbarungseid, den die CDU/CSU damit leistete, daß sie die Verträge, gegen die sie zweieinhalb Jahre einen kompromißlosen Kampf geführt hatte, widerstandslos passieren ließ und sich mit der Grundsatzerklärung zur Außenpolitik auf genau die Methode einließ, die sie der Brandt-Scheel-Regierung mit Recht vorgeworfen hatte: durch unverbindliches nationales Pathos verkatzeln zu wollen, was die Verträge in Wahrheit enthalten. Die CDU/CSU hatte einfach ihre Glaubwürdigkeit verloren und damit auch die Anwartschaft auf die Stimmen der heimatlosen Rechten, die ihr in Baden-Württemberg zu dem überraschend hohen Wahlerfolg verholten hatten.

Brandt machte der Union also das Angebot, mit ihr über den Termin der Neuwahl und über die eine Auflösung des Bundestages ermöglichenden Maßnahmen zu sprechen. Es lag auf der Hand, um welche Maßnahmen es sich handelte: in der Verfassung fehlt einfach eine Bestimmung darüber, daß sich der Bundestag selbst auflösen kann. Man brauchte nur mit der Zweidrittelmehrheit die Verfassung zu ändern und dem Bundestag das Recht zu geben, sich selbst — um jeden Überraschungstrick auszuschließen, mit Zweidrittelmehrheit — auflösen zu können. Konsequent lehnte Barzel ein Gespräch darüber ab. Ebenso unsinnig wie töricht sprach die CDU/CSU von „Manipulationen mit der Verfassung“, die sie nicht mitmache. Wenn Brandt Neuwahlen wolle, dann solle er zurücktreten. Barzel versprach sich anscheinend eine gewaltige Wirkung davon, daß Brandt durch seinen Rücktritt das „Versagen“ seiner Regierung zugestehen würde. Schließlich bot Brandt noch über sein Propagandaministerium der Union eine Vereinbarung darüber an, daß er im Wahlkampf keine Finanzmittel des Staates verwenden werde. Vielleicht hätte Brandt sogar noch mehr zugestanden, etwa seinen Rücktritt und die Bildung eines überparteilichen Übergangskabinetts. Aber die Union verhandelte einfach nicht, sie versuchte gar nicht, etwas herauszuschlagen. Sie spekulierte, wie die Äußerungen einiger ihrer Parlamentarier verrieten, immer noch auf eine Spaltung der FDP, die ein neues konstruktives Mißtrauensvotum und die Wahl Barzels zum Kanzler ermöglichen würde. Prompt überreichte die also aufgewertete FDP der CDU/CSU einen Korb. Sie erhielt dafür von Herbert Wehner die Zusage, daß man sie in der Linkskoalition auch weiter brauche, und nunmehr von Brandt die Erklärung, beide Parteien würden den Wahlkampf gemeinsam mit dem Ziel der Fortsetzung ihrer Koalition führen. Das schließt vermutlich die Zusicherung ein, daß die SPD den gefährdeten Partner im sogenannten „Huckepack-Verfahren“ über die Fünf-Prozent-Hürde schleppen werde, indem sie ihm drei Direktmandate zuschanzt. In der CDU/CSU opponieren dagegen gewisse Gruppen schon jetzt gegen die Absicht von Franz Josef Strauß, auf ähnliche Weise der Deutschen Union — einer Splittergruppe von nationalen Liberalen — in den Bundestag zu verhelfen. Es gibt in der CDU, wie sich gerade in jüngster Zeit wieder gezeigt hat, ausgesprochene Narren, die sich schon jetzt Sorgen machen, gegen wen sie denn überhaupt den Wahlkampf führen sollen, da man doch weder die SPD noch die FDP bekämpfen dürfe, ohne in den Verdacht „reaktionärer“ Gesinnung zu geraten.

Man müßte in der Geschichte der parlamentarischen Regierungen lange suchen, um ein Beispiel dafür zu finden, daß eine Oppositionspartei, nachdem sie sich mutwillig in eine Ecke manövriert hat, aus der sie nicht wieder heraus kann, mit gleich jämmerlichen Aussichten zum Wahlkampf antritt. Die Parole konservativer Publizisten, man müsse trotz allem die Union wählen, weil es keine Alternative zu ihr gibt, mag richtig sein, es ist aber fraglich, ob die Wähler sie befolgen. Und die das bezweifeln, sind noch nicht einmal die Pessimisten.

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