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Das Ende einer Ära?

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Ein Inserat, aufgegeben von einer „Arbeitsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, München“, machte dieser Tage in der Bundesrepublik Deutschland Furore. Die Auftraggeber hatten sich dabei eines Motivs bedient, das schon einmal, vor 82 Jahren, Weltberühmtheit erlangt hat: der 1890 im Londoner „Punch“ zum Rücktritt Bismarcks erschienenen Karikatur „Der Lotse geht von Bord“. Diesmal war freilich ein vergleichsweise kleinerer Lotse gemeint, nämlich Superminister Karl Schiller, der soeben als bisher letzter einer langen Reihe von Ministern und Staatssekretären dem sozial-liberalen Kabinett des Willy Brandt den Rücken gekehrt hatte.

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Ein Inserat, aufgegeben von einer „Arbeitsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, München“, machte dieser Tage in der Bundesrepublik Deutschland Furore. Die Auftraggeber hatten sich dabei eines Motivs bedient, das schon einmal, vor 82 Jahren, Weltberühmtheit erlangt hat: der 1890 im Londoner „Punch“ zum Rücktritt Bismarcks erschienenen Karikatur „Der Lotse geht von Bord“. Diesmal war freilich ein vergleichsweise kleinerer Lotse gemeint, nämlich Superminister Karl Schiller, der soeben als bisher letzter einer langen Reihe von Ministern und Staatssekretären dem sozial-liberalen Kabinett des Willy Brandt den Rücken gekehrt hatte.

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Daß dem Kabinett Brandt bereits einige Minister und Staatssekretäre abhanden gekommen waren und warum das geschehen ist, wurde bislang durch jene Haupt- und Staatsfrage verdeckt, welche sich mit der „neuen Ostpolitik“ und den „Ostverträgen“ stellte. Da zuletzt Aus- und Ubertritte, nicht alle ganz fein, nicht alle ganz korrekt, aus eben den sich mit der Haupt- und Staatsfrage verquickenden .Gewissenskonflikten erfolgten, schien nach Brandts knappem, aber unbestreitbarem Erfolg der Abfallprozeß bereits historisch geworden zu sein; die SPD glaubte sogar selbst, wenn auch nicht sehr zuversichtlich, nun einer neuer Glanzzeit entgegenzugehen. Indes trat ein, was einige gewiegte Taktiker der Oppositionsunion vorhergesagt hatten. Nun erst zeigten sich, vielleicht sogar für die SPD-Führung überraschend, ganz andere Dimensionen des inneren Konfliktes, in welchen die SPD längst geraten war.

Die Spannweite dieses Konfliktes kann heute nur andeutungsweise skizziert werden. Sie ist unheimlich groß. Während sich die SPD-Führung auf Regierung und Parlament konzentrieren mußte, bauten sich unter ihr, in den Kadern, völlig neue Strukturen auf. Nicht alle sind Jusos, die der SPD nun das Leben, vielleicht sogar auf längere Sicht das Uberleben schwer machen. Es gibt auch andere Gruppen und Zellen, die mit „Opas SPD“ Schluß machen wollen.

„Opas SPD“ ist sozial, aber demokratisch. „Opas SPD“ ist zwar progressiv, aber in Maßen. Und sie ist vor allem nie darauf versessen gewesen, die Gesellschaft zu verändern, sie wollte sie nur verbessern. Sicher sieht „Opas SPD“ Markt und Wirtschaft, ja, sogar den „Kapitalismus“ heute mit anderen, realistischeren Augen als zur Zeit des „Kommunistischen Manifestes“, daher verfuhr sie in diesen Dingen vorsichtig pragmatisch. Das alles, so scheint es, ist so gewesen. Von nun an geht's bergab.

Rund ein Viertel der Kader, so hört man aus der Bonner „Baracke“, dem Hauptquartier der SPD, besteht heute aus Jusos. Ein Viertel steht diesen, sei es aus Überzeugung, sei es aus Opportunismus, nahe oder vermutet in dem Wirken jungrevolutionärer Löwen eine Produktion nützlicher Gärstoffe. Ein weiteres Viertel sieht gar nichts, es macht brav seine Arbeit, technokratisch, bürokratisch, zum Teil sogar sozialaristokratisch (ein Begriff, den seinerzeit, in den frühen zwanziger Jahren, Arno Holz prägte!). Das letzte Viertel macht sich Sorgen. Aber, so scheint es, eingeklemmt zwischen allen anderen Vierteln und deren Spezifitäten, furchtsam, an irgendeiner Stelle etwas zu verlieren, was anderswo nicht mehr zurückzuerhalten wäre, macht es sich eben nur Sorgen, sonst aber macht es nichts. Es regiert.

Und es verschleißt sich dabei. Schillers Abgang und alles, was diesem Abgang noch folgen wird, macht die Verschleißstellen überdeutlich. Gewiß, Karl Schiller ist ein schwieriger Mann. Er ist kein „Teamworker“ und er ist ebenso sensibel wie frustriert. Aber er vor allem war eine jener Lokomotiven, die bei der letzten Wahl bis tief in die angestammten Randschichten der Liberalen und der Unionsparteien fuhren und von dort reichlich Fracht zurückbrachten. So wurde er zum Aushängeschild der SPD, welches diese stets dann — und sogar mit gutem Gewissen! — vorzeigen konnte, wenn sie einer insgeheimen Radikalität, eines zunehmenden orthodoxen Marxismus oder gar des aufkeimenden radikalrevolutionären Anarchismus geziehen wurde. Schiller war unter jenen, auf welche er vor allem wirken sollte, den Deutschen also, die — Unternehmer, Intellektuelle, Facharbeiter und Werkmänner — auch weiterhin an das Marktwirtschaftswunder glaubten und glauben wollten, durch etliche eigensinnige Ungereimtheiten ein wenig suspekt geworden, gewiß. Man begann an seiner Standhaftig-keit zu zweifeln, als er damit begann, einst feierlich deklamierte marktwirtschaftliche Grundsätze einzuschränken oder aufzugeben. Dennoch blieb die Meinung bestehen: solange der Schiller da ist, wird nichts wirklich Ungereimtes geschehen. Ganz allmählich, aber mit zunehmender Effizienz, trat er vor die in der Erinnerung bereits verblassenden Standbilder etwa eines Erhard oder Mül-ler-Armack. Jetzt war er, Schiller, der Inbegriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ — und das Kabinett Brandt profitierte davon reichlich.

Daß es so war, machte die ganze Macht Schillers aus, der in der SPD selbst, der er seit langem angehört, eigentlich keine besaß. Ein „Mann des Kaders“ war er nie, auch nicht einer irgendwelcher anders organisierter „Hausmächte“. Und weil es so gekommen war, nötigte er Kanzler und Kabinett so manches ab, was diese freiwillig einem weniger populären Mann (siehe etwa Möller) nie zugestanden hätten. So schien bald jedermann überzeugt zu sein, es tatsächlich mit einer ganz neuen Sozialdemokratie zu tun haben: einer, in der Männer wie der Münchner Oberbürgermeister Vogel oder Schiller das Sagen haben; einer Art sozialer Volkspartei — ohne die den Unionsparteien CDU und CSU nachgesagten „Fettansätze der Macht“.

Und nun dies! Denn Schiller ist ja nicht still und nicht bloß wegen einiger Differenzen in der Finanz-und Währungspolitik gegangen, obwohl hier der offizielle Anlaß lag. Ja, ob er überhaupt „gegangen“ ist oder nicht eher „gegangen wurde“, ist die Frage. Denn bei der entscheidenden Abstimmung im Kabinett, wo der feinnervige Einsame immer noch hoffte, ja, erwartete, die FDP-Kollegen und einige SPD-Minister würden sich hinter ihn oder zumindest ausgleichend ihm zur Seite stellen, erhob sich wie auf Verabredung keine Hand für Karl Schiller. Er hätte deshalb nicht zurücktreten müssen — es gibt zähklebriges Material, das so etwas im Handumdrehen überlebt —, aber er tat es. Weil er zu der Auffassung gekommen ist, dies sei nicht mehr die SPD, in die er einst eingetreten sei und schon gar nicht mehr jene, der er beim Regieren geholfen hatte. „Ihr dürft die Marktwirtschaft nicht verfrühstük-ken“, rief er aus und zielte damit auf jene gesellschafts- und wirt-schaftsverändernden Tendenzen, die jetzt viel in der BRD davon, daß Schiller zur CDU, zur CSU oder zur FDP wandern werde, bei letzterer könnte auch Ahlers landen und sich dort mit seinem Ex-Boß Augstein umarmen, dem eine Kandidatur für die FDP nachgesagt wird (was mit Sicherheit das Ende der Augstein-„Spiegel“-Ära bedeuten würde).

Ebensoviel aber hört man von den Ängsten der Scheels, der Genschers und Ertls, die nicht ganz zu Unrecht fürchten, soviel neuer Glanz in ihrer alten Hütte könnte ihr eigenes Licht unter den Scheffel manövrieren. Lieber hätte man den vermutlich freischwebenden Wähleranhang dieser Männer als die Männer selbst. Und auch die christdemokratischen Unionsparteien geraten in Gewissensqualen: wie einen Schiller verdauen? Auch noch etwas glaubt man zu wissen: Allzuweit gespannte Ubertritte, selbst aus gewichtigen Gründen, honoriert der deutsche Wähler (noch) nicht.

Ja, wenn der Schiller als „Parteiloser“ ginge, was sowohl seinem politischen Interieur als auch seinem populären Exterieur besser anstünde! Oder, am besten, er bildet mit jenen, die ihm folgen mögen, eine eigene Partei! Ein Gedanke, der auch die SPD quält. Nicht, weil diese heute in der SPD gewaltig in Umlauf kommen: vom „jugoslawischen Modell“ übers „kubanische“ bis hin zum „klassisch-marxistischen“. Sehr bald kam auch sein Briefwechsel mit Willy Brandt zutage und dem, was immer davon sonst noch zu halten wäre, ist vor allem eines zu entnehmen: die Kluft ist tief und breit. Und sie trennt Schiller nicht bloß von einem Kabinett, in welchem er sich unverstanden fühlte, sondern von der SPD selbst. Mit „Opas SPD“ hätte er noch lange können, wenn auch sicher unter mannigfaltigen Differenzen. Jene SPD, deren Konturen er jetzt langsam zu erkennen glaubt, erfüllt ihn mit Schrecken. „Das ist nicht mehr meine Partei.“

Der Konflikt kulminiert nicht nur in dem „Fall Karl Schiller“. Der „Fall Vogel“ ging diesem voraus. Der Fall Ahlers folgt auf dem Fuße und auch den „Fall Wehner“ gibt es schon.

Ahlers, liberal-sozialer Wanderer zwischen Augstein und Brandt, soll die SPD demnächst als Bundestagsabgeordneter repräsentieren. Der „erste Regierungssprecher“ hätte gewiß Aussicht, gewählt zu werden. Allein — die Jusos haben ihm den Kampf angesagt. So sehr, daß er in dem ihm zugedachten Wahlkreis bereits so gut wie kaputtgemacht ist. Es bedürfte einer Riesenanstrengung Brandts, um das noch zu leimen. Diesen neuen Sozialdemokraten, für die wohl auch „der alte Willy“ nur noch eine Art tabuisiertes Aushängeschild ist, sehen in Ahlers einen „heimatlosen Wanderer“, einen Mann „mit perversen Ideen“, keinen, den die neue SPD brauchen könnte. Und weder nützt es Ahlers, daß Wehner ihm nicht grün ist, noch scheint das Wehner selbst sehr viel zu nützen: beide sind nicht mehr aus jenem revolutionären Holz, das die aus den Universitäten, roten Zellen und Seminaren hervorgequollenen neuen Sozialisten brauchen könnten.

Die Mohren, so scheint es, haben ihre Schuldigkeit getan. Einige können bereits gehen. Die anderen sollen folgen.

Doch wohin gehen? Man spricht neue Partei allzu erfolgreich sein würde. Aber es könnte genügen, der SPD-FDP-Koalition genau jene Bruchteile abzunehmen, die ihr dann zur regierungsfähigen Mehrheit fehlen!

Von Scheel, diesem nimmermüden und erfolgreichsten Verlierer der deutschen Nachkriegsinnenpolitik, heißt es, er habe sich in Träumen gewiegt: „Schiller, das wird bald nur noch ein Dichter gewesen sein“, soll er sich — und andere — beruhigt haben. Auch das kann die mögliche Wahrheit sein (Österreicher könnten da Vergleiche mit der rasch entschwundenen Popularität einiger heimischer Einzelgänger anstellen). Was aber dennoch bleibt, ist die schwere Krise der SPD, für die ja der „Fall Schiller“ nicht die Ursache, sondern nur ein Symptom ist. Selbst wenn SPD und FDP zusammen auch die nächsten Wahlen gewinnen (falls die FDP, was bei ihr allemalen „drin ist“, nicht noch rasch zuvor die Richtung „korrigiert“), wird diese Krise nicht ausbleiben. Sie ist nämlich nicht nur deutsch, sie ist europäisch. Man mag das an Mansholts jüngsten Äußerungen erkennen. Da erwärmte er sich für ein „modifiziertes jugoslawisches Modell“, zu welchem die EWG werden könne, und sagte den „alten, überholten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen“ ein nur noch kurzes Leben voraus. Solche Einfälle kommen selten „von oben“. Sie gedeihen auf einem Untergrund, der jetzt eben in der BRD sichtbar wird. Oder auch in Frankreich, wo Mitterrands Bündnis mit der KPF und die Schaffung einer „Vereinigten Linken“ auch nicht ein bloß taktisches Ereignis bleiben wird. Auch darin kündigt sich eine Veränderung in der Sozialdemokratie an, die bis vor kurzem noch nicht zu sehen war. Eine Veränderung vielleicht, in der ihre eigenen Uberlebenschancen von allen die geringsten sind. Die aber, so oder so, das Ende einer Ära bezeichnen. Was danach kommt, kann man kaum erst vermuten. Es sich auszumalen, bedarf der Phantasie.

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