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Trendwende der Trendwende?

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Der Kampflärm aus der politischen Arena in der Bundesrepublik ist noch kaum verhallt. Die Serie der Landtagswahlen dieses Jahres ist mit Ausnahme von Bremen zwar vorüber; doch die Nachhutgefechte um Regierungsbildungen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland nach den Wahlen vom 4. Mai nehmen sich schon wie Vorgeplänkel der großen Schlacht um die Bonner Bundestagsmehrheit ab 1976 aus.

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Der Kampflärm aus der politischen Arena in der Bundesrepublik ist noch kaum verhallt. Die Serie der Landtagswahlen dieses Jahres ist mit Ausnahme von Bremen zwar vorüber; doch die Nachhutgefechte um Regierungsbildungen in Nordrhein-Westfalen und im Saarland nach den Wahlen vom 4. Mai nehmen sich schon wie Vorgeplänkel der großen Schlacht um die Bonner Bundestagsmehrheit ab 1976 aus.

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Die Wahlergebnisse vom 4. Mai in Nordrhein-Westfalen und im Saarland zeigen die CDU — trotz ihrer Höchstgewinne in beiden Ländern — in der Rolle des Verlierers. Im größten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, konnten die Christdemokraten die Hürde zur absoluten Mehrheit nicht nehmen: Die SPD/ FDP-Koalition wird in Düsseldorf weiter regieren. Doch auch die ISo-zialdemokraten sind nicht glücklich: Für die Bundestagswahl können sie sich nur damit Mut machen, daß sich ihre bisherigen Landtagswahlverluste jetzt etwas bremsen ließen. Im kleinsten Land außer den Stadtstaaten, im Saarland, hat die CDU ihre absolute Mehrheit — wenn auch nur um ganze 79 Stimmen! — eingebüßt.

Die erste Bestandsaufnahme in den einzelnen Lagern nach den fünf Landtagswahlen dieses Jahres offenbart ein geändertes Verhältnis zueinander: Die FDP hat ihren Einfluß innerhalb des Parteiengefüges gewaltig verstärkt. Die Freien Demokraten sind wieder in allen Landtagen vertreten. Und sie haben dort, wo sie eine absolute CDU-Mehrheit verhindern konnten, die wirkliche Entscheidungsmacht in den Händen. Denn die SPD mußte nahezu überall einen Aderlaß hinnehmen. Sie behielt ihre Bastionen nur als Koalitionspartner der FDP. Dies bedeutet, daß die Sozialdemokraten nicht in der Lage wären, allein zu regieren. Der „kleine Bruder“ FDP, oft herablassend behandelt, könnte die SPD fast auf der ganzen Linie ausbooten. Das Wort des CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl, die Freien Demokraten hätten sich in eine Art „babylonische Gefangenschaft“ durch die SPD begeben, scheint ins Wanken zu geraten. Man könnte jetzt einen gegenteiligen Eindruck gewinnen: Daß die Sozialdemokraten unentrinnbar unter dem Diktat des liberalen Trittbrettfahrers von einst stehen. Und die CDU ihrerseits wird der FDP bis 1976 wohl immer eindringlicher und mit lockenden Angeboten die Frage stellen, ob sie die Christdemokraten als stimmenstärkste Partei in der Bundesrepublik denn weiterhin übergehen und SPD propagandagemäß als „regierungsunfähig“ abstempeln will. Die beiden großen Blöcke in der Bundesrepublik befinden sich heute in politisch entschei-

dender Abhängigkeit von einer Gruppe, die keine zehn Prozent der Wählerschaft auf sich vereinigen kann.

Was Nordrhein-Westfalens Signale für Bonn betrifft, waren Wahlausgänge im volkreichsten Bundesland seit jeher naturgetreue Abbilder der politischen Großwetterlage. Gewiß

zementiert das Fortbestehen der SPD/FDP-Koalition in Nordrhein-Westfalen die Startlöcher des sozialliberalen Bündnisses für den nächsten Bundestag. Doch das Schicksal der Regierung Schmidt/Genscher wird noch entscheidender davon abhängen, wie weit sie die wirtschaftlichen Schwierigkeiten wieder in den Griff bekommt.

Waefasende Mobilität

Bei fast allen bisherigen Urnengängen in der Bundesrepublik zeigte sich ein ähnliches Wähler-Verhalten: Die Länder-Regierungschefs von SPD sowie von CDU und CSU konnten ihren Besitzstand wahren; doch die Neuorientierung der Wählerschaft, die nach 1957 begonnen hatte und bei der Bundestagswahl von 1972 ihren bisherigen Schlußpunkt fand, wurde abermals umgepolt.

1953 gelang es der Allianz von CDU und CSU als erster bundes-

deutscher Nachkriegspartei, zu einer Mehrheitspartei zu werden. Damit begann eine Entwicklung, die von einem ursprünglichen Vier-Parteien-System, repräsentiert von den Christlichen Demokraten, der Christlich-Sozialen Union Bayerns, daneben von den Sozialdemokraten und den Freien Demokraten, faktisch zu einem. Zwei-Blöcke-System geführt hat, das nahezu angelsächsische Verhältnisse nachvollzieht: CDU/CSU und SPD/FDP stehen einander kontrapolar gegenüber.

Der kontinuierliche Zuwachs der SPD von den fünfziger bis in die siebziger Jahre ging auf Kosten von CDU/CSU. Diese konnte aber ihre Mehrheitsposition bis dahin halten.

Während des Umschichtungsprozesses, besonders in den letzten beiden Legislaturperioden, lief die SPD der Union weite städtische Mittelschichten ab, darunter besonders jüngere Wähler. Bei der letzten Bundestagswahl 1972 stieß die SPD erstmals mit größerem Erfolg in katholisch-ländliche Bereiche vor, die bis dahin als uneinnehmbare Domäne von CDU/CSU galten. Die Unionsparteien dagegen konnten sich bei protestantisch-städtischen Wählerschichten durchsetzen. Der Wechsel von SPD zur CDU/CSU durchlief alle Gruppen. Das Umrüsten vollzog sich dort am vehementesten, wo die SPD in den Jahren zuvor der CDU/ CSU besonders tiefe Schrammen zugefügt hatte: bei Arbeitnehmern, Mittelschichten, Jungwählern.

Das jetzige Abschneiden der SPD in Nordrhein-Westfalen verlief wiederum gegen diesen Trend. Die SPD konnte sich, entgegen dem bisheri-

gen Schrumpfungsprozeß, in Ballungszentren und vor allem in den Arbeitergebieten stabilisieren. Im Saarland verzeichnete die SPD just in ländlichen Gegenden beträchtliche Gewinne. Zugleich mußten die Christdemokraten in ihren bisherigen Hochburgen Schlappen hinnehmen. Besonderen Profit auf Kosten der CDU konnte die SPD in stark katholisch geprägten Arbeitergebieten erzielen: Die FDP verbuchte ihren stärksten Zuwachs in mittelgroßen Städten.

Ist denn aber der Stop eines Trends, wie er die Sozialdemokraten bisher in Hamburg, in Niedersachsen, in Berlin und zuvor schon in Hessen und in Bayern traf, schon so etwas wie eine Tendenzwende? Demoskopen melden erhebliche Zweifel an. Laut jüngsten Repräsentativ-Umfra-gen nach der Wahlabsicht für den Fall, daß bereits jetzt eine Bundestagswahl ins Haus stünde, zeigte sich, daß die SPD knapp über 40 Prozent der Stimmen erzielen würde. Die CDU/CSU könnte etwas über 51 Prozent verbuchen, und hätte damit die absolute Mehrheit. Die FDP käme auf knapp 8,5 Prozent.

Wie sich die Meinungsbildung der Wähler bis 1976 fortsetzen wird, gilt heute allerdings als völlig offen. Denn zunehmend macht sich eine neue Bewußtseins-Komponente breit, die in dieser Intensität bisher völlig unbekannt war: die ungeheuer wachsende politische Mobilität der deutschen Wählerschaft.

War Sonthofen schuld?

Auf der Suche nach den Schuldigen der relativen CDU/CSU-Wahlniederlage stellt man in Bonn die Frage nach der Wirkung der berühmt gewordenen Rede des CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß in Sonthofen, in der dieser den totalen Konfrontationskurs gepredigt haben soll. Wenngleich die CDU-Führung dazu diplomatisch schweigt, läßt sich an Kohls beharrlichem Ausweichen vor bohrenden Journalisten-Fragen ablesen, daß der CDU-Chef über die Sonthofener Episode keineswegs glücklich ist. Sie mochte für Kohl allerdings einen gewaltigen Feldvorsprung im Wettlauf um die Unions-Kanzlerkandidatur gebracht haben. Die Kohl-Anhänger sehen den gemäßigten Kurs des CDU-Vorsitzenden vom Wähler bestätigt. Was Strauß in Sonthofen auch immer wirklich gesagt haben mag: die Bürger lehnen Radikalkuren ab, denen die Union wie ein Phönix aus der Asche entsteigen könnte.

Hoffnungen der SPD auf einen kometenhaften Empörungs-Knüller und auf ein schweres Eigentor der Union erfüllte sich durch den künstlich angefachten Sonthofen-Wirbel allerdings auch nicht. Denn die ursprüngliche „Spiegel-Veröffentlichung der angeblichen Strauß-Rede hatte die Koalition dazu verleitet, ihre Feldpropaganda so zu überdrehen, daß sie letztlich an Glaubhaftigkeit verlor.

Das Patt an der Saar wird handfeste politische Folgen haben. Wenngleich noch unklar ist, wie es zu einer Regierungsbildung kommt, steht schon fest, daß sich die FDP hier, ebenso wie in Nordrhein-Westfalen, an ihr Koalitionsversprechen mit der SPD halten wird. SPD und FDP haben im Saarland eine All-parteienr.egierung bis zur Bundestagswahl 1976. vorgeschlagen. Dies

hat die CDU allerdings kategorisch abgelehnt und beiden Parteien gesonderte Koalitionsverhandlungen angeboten.

Jedoch haben die Verfassungsrechtler herausgefunden, daß die in der Wahlnacht bejubelte Erwartung der Koalition, im Bundesrat nun freie Bahn vorzufinden, verfrüht war: Gesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, kommen, wie gesagt, nur mit absoluter Mehrheit von 21 Stimmen zustande. Eine Stimmenthaltung des Saarlandes würde in solchen Fällen nichts helfen. Die saarländische Regierung müßte schon ausdrücklich mit den SPD-regierten Ländern im Bundesrat stimmen, sollten sich die Hoffnungen der Sozialliberalen erfüllen. Dies wäre wohl eine arge Zumutung für einen CDU-Ministerpräsideriten, selbst wenn er Chef einer Allparteienregierung wäre.

Gerangel um Unions-Kanzlerkandidaten

Über die Frage des Kanzlerkandidaten für die Union schweigt sich das CDU-Präsidium auch nach den Landtagswahlen offiziell aus. Dabei hatte CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf schon vor 14 Tagen angekündigt, er werde nach der Wahl-schlacht seinem Parteivorstand empfehlen, den Bundesvorsitzenden Helmut Kohl als Schmidt-Alternative zu nominieren. Sein Vorpreschen begründete Biedenkopf damit, die CSU habe die Abmachung durchbrochen, bis zu den Landtagswahlen über einen Unions-Kanzlerkandidaten nicht zu sprechen. Damit spielte der CDU-Manager auf die Äußerungen des CSU-Generalsekretärs Gerold Tandler an, bei den bayerischen Christlich-Sozialen mache sich eine Mehrheit für Franz-Josef Strauß als Kanzlerkandidat breit. Biedenkopf, am Tag nach der Wahlenttäuschung auf die Frage, ob er sein angekündigtes Votum für Kohl denn jetzt revidiere: „Ich bin noch genauso sicher, wie ich war, als ich meinen Vorschlag gemacht habe.“

Die CSU hat unterdessen verlauten lassen, die Präsidien der beiden Parteien sollten über den Unions-Kanzlerkandidaten in einer gemeinsamen Sitzung am 9. und 10. Juni entscheiden. Bis zum CDU-Bundesparteitag, der Ende Juni in Mannheim stattfindet, müssen sich die beiden Unions-Schwestern über ihren Kandidaten geeinigt haben.

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