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Der heimliche Sieger

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Willy Brandt hat das große Pokerspiel um die Macht überlegen gewonnen. Ähnlich wie sein österreichischer Kollege Dr. Kreisky ein Jahr vorher. Die Wahl in Deutschland selbst glich eher einer Volksabstimmung als einer Parlamentswahl. Es war eine Volksabstimmung für oder gegen Willy Brandt und eine Volksabstimmung für oder gegen seine Politik. Das Ergebnis ist eindeutig. Und wie kam es zu diesem Ergebnis?

Zunächst darf der zeitgemäße Hintergrund nicht übersehen werden. Der Trend ist gegen die sogenannten christlich-demokratischen Parteien. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges herrschten diese durch 15 Jahre in Europa. Durch die schrecklichen Erlebnisse des zweiten Weltkrieges waren die Menschen geschockt. Sie wandten sich in erster Linie Parteien zu, die eine christlich-demokratische Linie vertraten. Die damalige Zeit war für die sozialistischen Parteien nicht günstig. Man verdächtigte sie, mit dem Kommunismus zu kollaborieren. Inzwischen hat sich Europa entchristlicht, und die sozialistischen Parteien haben sich liberalisiert. Die Anhängerschaft der christlich-demokratischen Parteien bröckelte ab, bis sie schließlich ins Hintertreffen gerieten und in die Opposition gehen mußten. Hier zeigte sich eine neue Tragödie; die christlich-demokratischen Parteien, jahrzehntelang „Reichsparteien“, waren nur sehr mangelhaft darauf vorbereitet, die Oppositionsrolle zu spielen.

Die deutsche Opposition, mit Bar-zel und Strauß an der Spitze, stützte ihren Wahlkampf auf zwei Argumente: Willy Brandt bedeute eine ständig steigende Inflation, und: Willy Brandt bedeute eine schlechte Ostpolitik. Die Opposition versprach das Abstoppen der Inflation und eine viel bessere Ostolitik für den Fall, daß sie an die Macht käme. Ihre Argumente überzeugten den deutschen Wähler nicht. Der deutsche Wähler gab mit großer Mehrheit Willy Brandt und seiner Partei, und sogar Außenminister Scheel und seiner kleinen FDP seine Stimme.

Wieso verfingen die sehr handfesten Argumente der CDU/CSU nicht? Dies hat zunächst einen persönlichen Grund. Es zeigt sich immer wieder, besonders in der Politik, daß Menschen einem Mann fast blindings folgen, wenn sie von ihm fasziniert sind. Alle noch so guten und noch so logischen Argumente können eine solche Faszination nicht beseitigen. Die Geschichte liefert genug Beispiele für die Richtigkeit dieser These: die Deutschen waren fasziniert von Bismarck, und erst nach Jahrzehnten wurde ihnen klar, daß seine Politik falsch gewesen war. Die Deutschen waren fasziniert von Hitler, obwohl sehr bald zu erkennen war, daß seine Politik Deutschland in den Abgrund führen mußte.

Eine Persönlichkeit, die die Menschen fasziniert, muß freilich deswegen noch lange keine schlechte Politik betreiben. Auch von Figl und Raab waren die Österreicher fasziniert und folgten ihnen. Von Klaus waren sie es nicht mehr. Wohl aber sind sie es derzeit von Kreisky. Auch von Pius XII. war die Welt, zumindest so lange er lebte, fasziniert. Von Paul VI. ist sie es nicht. Es ist nun eine unleugbare Tatsache, daß weder Rainer Barzel noch Franz Josef Strauß die Deutschen faszinieren. Willy Brandt dagegen besitzt eben diese Faszination, deren Grundlagen zu finden wahrscheinlich langer psy-cho-analytischer Untersuchungen bedürfte. Barzel wirkte neben ihm farblos, und Franz Josef Strauß, der sicher einer der besten politischen Köpfe des heutigen Deutschland ist, erscheint den Deutschen, dank der „Spiegel“-Propaganda, die Strauß „fertigzumachen“ wußte, als eine Schießbudenfigur.

Interessant ist, daß der ständige Hinweis auf die Inflation seitens der CDU beim deutschen Wähler nicht mehr verfing. Die Inflation ist — wenn auch nicht so stark wie in Österreich — eine unleugbare Tatsache in Deutschland, aber sie scheint den Wählern kein Kopfzerbrechen zu verursachen. Die Erinnerung an die Inflation nach dem ersten Weltkrieg, die einen ungeheuren Schock bewirkte, dürfte verblaßt sein. Damals zerrannen die Vermögen, große und kleine. Aber Vermögen im Sinne der Zeit vor dem ersten Weltkrieg gibt es in Deutschland nicht mehr und die Deutschen sind zufrieden damit, daß Vollbeschäftigung herrscht.

Und der Hinweis, die CDU werde eine bessere Ostpolitik machen als Brandt, verfing auch nicht. Der Sperling in der Hand war den Deutschen Heber als die Taube auf dem Dach. Die vom Ausland machtvoll unterstützte Parole Brandts, seine Nicht-wahl werde seine ganze Ostpolitik in Frage stellen, hat Früchte getragen. Die Deutschen sind es zufrieden, daß erträgliche Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten eintreten werden.

Willy Brandt hat seine Position nun für lange Zeit zementiert. Mit dem Sieg Brandts erstreckt sich der Herrschaftsbereich der drei „Skandinavier“ Palme, Brandt und Kreisky vom hohen Norden fast bis zur Adria. Wie ein breiter Gürtel liegt dieser Streifen vor dem russischen Föstungsvorfeld, den Staaten des Warschauer Paktes, und sichert diese gleichsam ab. Rußland kann mit dieser Wahl zufrieden sein. Moskaus konsequente Strategie, seine Westflanke nicht nur zu schützen, sondern auch deren Schutz immer mehr auszubauen, hat einen neuen Triumph gefeiert.

Der russische Zar, ob weiß oder rot, war nie sehr skrupelhaft in der Wahl seiner Verbündeten. Nikolaus IL verbündete sich seelenruhig mit der Dritten Französischen Republik, Stalin mit Hitler. Der Kreml unterstützte vor einigen Jahren im • französischen Wahlkampf eindeutig de Gaulle und verheizte die französischen Kommunisten. Im deutschen Wahlkampf unterstützte er eindeutig Willy Brandt. Beileibe nicht, um ihn ins kommunistische Fahrwasser zu ziehen oder gar aus NATO und EWG herauszulösen. Aber Willy Brandt als Kanzler ist für Rußland eine Garantie dafür, daß der neutrale Streifen am Fuße seiner Bastionen intakt bleibt. Und daß die Bundesrepublik Wert darauf legen wird, mit der DDR in guten Beziehungen zu stehen. Dadurch werden ihre Beziehungen zur NATO, auch wenn sie formalrechtlich bestehen bleiben, automatisch schwächer. Das heißt, Deutschland begeht dank dieser russischen Politik den gleichen Fehler, den sowohl Bismarck wie Hitler begangen haben: sich weder eindeutig für den Osten, noch eindeutig für den Westen zu erklären. Wodurch Deutschland isoliert dasteht, seinen Schrecken verliert und keine Gefahr mehr für Moskau ist. Deshalb ist der heimliche Sieger vom 19. November 1972 der Kreml.

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