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Skandinavien zwischen West und Ost

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Schwedens Sozialdemokratie bleibt im neugewählten Parlament die stärkste Partei des Landes. Auch jedes andere Resultat hätte jedoch an der Außenpolitik dieses skandinavischen Königreiches kaum wesentliches verändert.

Wer in Stockholm mit führenden Persönlichkeiten der drei großen Parteien — Sozialdemokraten, Liberale und Konservative — spricht, der weiß, daß sie allesamt ausnahmslos vorsichtige Taktiker sind und bei Bejahung enger nordischer Zusammenarbeit ein Minimum sonstiger Bindungen, also konsequenterweise ein Höchstmaß an wenn auch gut bewaffneter — Neutralität sehen möchten. Ein kurzer Rückblick ist notwendig, um diese Stimmung zu erklären. Zwischen beiden Weltkriegen war Schweden dasjenige nordische Land, das am eifrigsten so etwas wie eine skandinavische Union befürwortete und dessen Verhandlungen mit Finnland über einen Zusammenschluß bis zum gemeinsamen Außenministerium schon sehr weit gediehen waren. Rußlands Einspruch zerstörte dann diesen Plan. Als Hitler Norwegen und Dänemark angriff, wurde Schwedens Nichteinmischung gern damit entschuldigt, daß es eben die anderen waren, die eine Allianz abgelehnt hätten. Per Albin Hansson, der langjährige sozialdemokratische Ministerpräsident, steuerte das Staatsschiff sehr geschickt an allen Kriegsklippen vorbei. Dabei kam er um peinliche Zugeständnisse, wie Durchlaß sogenannter deutscher Urlauberzüge von und nach Norwegen, nicht herum. Auf humanitärem Gebiet machte Schweden vieles wieder gut. Flüchtlinge aus Finnland und Norwegen sowie später Gerettete aus verschiedenen Konzentrationslagern wurden buchstäblich mit offenen Armen aufgenommen, hungernde Länder mit Lebensmitteln beliefert und so weiter. Auch war Stockholm diplomatischer Kanal der norwegischen Regierung im Exil. Schließlich sind auf schwedischem Boden norwegische und dänische Truppen unter der Schutzmarke Polizei — ausgebildet worden, die bei der Machtübernahme ihrer legitimen Regierungen große Bedeutung hatten, die Ordnung rasch wieder herttellten und Blutvergießen vermieden.

Als der Krieg bereits entschieden war, hielt die schwedische Regierung charaktervoll an ihrer Neutralitätslinie fest und verzichtete im Gegensatz zu vielen anderen auf platonisches Säbelgcrassel. Nach Deutschlands Kapitulation aber beobachtete man in Schweden so etwas wie eineft psychologischen Defekt. Niemand freute sich recht an der Erhaltung eines unzerstörten Paradieses, einer vorbildlich intakten Wirtschaft und eines Schlaraffenlandes. An allem haftete vielmehr ein seltsamer schaler Geschmack. Der Schwede — vor allem die junge Generation — hatte das Gefühl schwer analysierbarer Schuld. Man empfand eine gewisse Scham darüber, nicht direkt dabei gewesen zu sein, gewissermaßen ein Versäumnis vor der Geschichte.

Nur langsam veränderten sich solche Gefühle. Ala man die Hoffnungen auf die UNO, in der viele Schweden das internationale Allerheilmittel erwarteten, und auf eine Synthese West-Ost aufgeben mußte, schien die Neutralitätspolitik der Kriegsjahre nachträglich immer gerechtfertigter. Viele kämpfenden Länder waren als Siegesfrüchte mit volksfremden Regimen belohnt worden. Menschenrechte und Gedankenfreiheit wurden in einem großen Teil der Welt zu Propagandabegriffen mit entgegengesetzter Wirklichkeit. So verschwand auch die Zwangsidee des historischen Versäumnisses. Das Sattsein ließ gleichfalls nach. Schwedische Dollarnote nivellierten, so daß der wirtschaftliche Vorsprung gegenüber den sich rasch erholenden Nachbarn kein so meilenweiter mehr ist.

Per Albin Hanssons plötzlicher Tod erweckte in sozialdemokratischen Kreisen eine Art Hanssonkult. Auch dadurch wuchs der neue Hang zur Neutralität. Es gibt schwedische Zeitungen, wie „Dagens Nyheter”, „Göteborgs Handels och Sjöfarts Tidning” und „Stockholms Tidningen” (alle drei liberal), die aggressiv antirussisch sind. Aber auch die Führung der erfolgreichen Liberalen (Volkspartei) ist vorsichtig und abwägend. Ihr Vorsitzender, Professor Bertil Ohlin, vertrat als erster die Idee eines Millionenkredits an die Sowjetunion, um ihn später — zu bekämpfen, als andere ungünstigere Voraussetzungen vorlagen. Solche Erwägungen hindern ihn nicht daran, grundsätzlich eine freundliche Zusammenarbeit zwischen Stockholm und Moskau zu befürworten und, genau wie die Regierungspartei, Provokationen ängstlich zu vermeiden. Auf gleicher Linie, wenn auch noch betonter ariglophil, äußerte sich Andersen, ein prominenter konservativer Abgeordneter und Chefredakteur des angesehenen „Svenska Dagbladet s”. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Schweden, ein Land, in dem die sozialen Differenzen nahezu ausgeglichen sind, fühlt bewußt westlich. Rußland ist unbeliebt und man mißtraut ihm nicht erst seit gestern, vielmehr abgründig seit 1809, der Eroberung Finnlands. Bestimmte Moskauer Schritte führen auch in Stockholm zu Nervenkrisen. Besonders deutlich bemerkbar waren sie bei den kürzlichen Hilfspaktverhandlungen der Russen mit Finnland. Aber man will sich nach keiner Seite endgültig binden, auch nicht nach Dänemark hin, dessen militärische Wehrlosigkeit offenkundig ist.

Schweden erlebte den Überfall auf seine drei Nachbarn, es sah von Lappland aus das andere, finnische Ufer des Kemiflusses brennen, und — blieb verschont. Man ist überzeugt davon, daß diese Tatsache, mindestens in der letzten Kriegsphase, nicht allein dem Glück und Zufall zuzuschreiben war, vielmehr einer beachtlichen Verteidigung. Daher legt die schwedische Regierung — und das Volk — trotz allen Lasten Wert darauf, gerüstet und gut vorbereitet zu sein, noch bevor sie, wie etwa die Türkei, durch direkte Drohungen dazu gezwungen wird.

Eine engere skandinavische Zusammenarbeit im militärischen Sinn begegnet in Schweden noch sorgenvollen Einwänden. Wenn diese Bedenken aber einmal gefallen sein werden und enge Anlehnung an den Westen als einzige mögliche Alternative übrigbleiben wird, dann ist es ein beachtlicher, industriell und verteidigungsmäßig hochwertiger Partner, der sich dazu entschlossen hat.

Norwegen, in seiner Grundhaltung traditionellerweise viel eindeutiger englandfreundlich als Schweden, stellte eine Hochburg des Pazifismus dar. Ganz unvorbereitet wurde das Land vom 9. April 1940 betroffen, aber desto heroischer war seine sofortige Abwehr von der Heimatfront unterirdisch und im Exil offen fortgesetzt worden. Der 9. April führte zu einer fundamentalen inneren Umstellung. Kein Norweger hegt mehr Wunschträume wie sein schwedischer Nachbar. Vielmehr rechnet er damit, schon durch die geographische Lage, in einen künftigen Konflikt miteinbezogen zu werden.

Nach dem Kriege wollte sich Norwegen sehr lange den Glauben an e i n e Welt nicht rauben lassen. Es begeisterte sich für die UNO-Idee, arbeitete in den verschiedensten Komitees aktiv mit und stellte seinen besten Mann, Trygve Lie — bis dahin Außenminister — als Generalsekretär oder ersten Weltbürger zur Verfügung. Russophobie war unbekannt. In Finnmark hatte sich die einrückende Rote Armee korrekt benommen. Sowjetische Zwangsarbeiter und Gefangene, die die Deutschen in elendem Zustand zurückließen, wurden von den Norwegern gefeiert und als Ehrengäste behandelt. Im Gegensatz zu Schweden entzündete der Begriff Finnland in Norwegen nicht die Herzen. Man nahm den Finnen sogar ihren zweiten Krieg gegen Rußland, also an der Seite Hitlers, Norwegens Todfeind, übel. Norwegisch-russische Grenzstreitigkeiten hatten nie existiert. Auch die neue Grenzfestlegung in Lappland erfolgte reibungslos und mit abschließenden Festgelagen. Moskau umwarb die Norweger lange Zeit. Trygve Lies Wahl wurde von den russischen UNO-Vertretern eifrig unterstützt, und bei norwegischen Gewerkschaftskongressen waren wohlwollende russische Nachbarn fast immer zugegen. Nicht zuletzt hat Norwegens Arbeiterpartei eine revolutionärere Vorgeschichte als die der anderen skandinavischen Länder. Bis zum Anfang der zwanziger Jahre gehörte sie zur Dritten Internationale. Wenn auch nicht mehr orthodox marxistisch, so führte die Arbeiterpartei doch ernstzunehmende Verhandlungen mit den Kommunisten über eine Verschmelzung. Diese Tatsache ist erwähnenswert, weil heute Einar Gerhardsen, der Arbeiter-Ministerpräsident, und viele seiner politischen Freunde, oft vor der kommunistischen Gefahr warnen. Für sie sind Kommunisten zur Fünften Kolonne geworden.

Wer die Norweger kennt, der konnte nie daran zweifeln, daß sie im Ernstfall mit dem Westen gehen würden. Die Osloer Politik aber war auf Brückenbau abgestimmt. Man vermied nach außen jederlei einseitige Festlegung. Kremlbeschlüsse wurden in Oslo ohne Nervosität gehört und kommentiert. Norwegens Armee entspricht dem englischen Modell. Selbst Militärblätter hüteten sich jedoch vor Parteinahme für den einen oder anderen Mächteblock. Als mir der junge Verteidigungsminister Jens Hauge, einst Führer der militanten Abwehr, erklärte, daß er Ausrüstung und Munition hauptsächlich aus England und Amerika beziehe, folgte sofort ein zweiter Hinweis: „Rußland kann uns diese Dinge ja auch nicht liefern.”

Erst als man den Einblick gewann, daß die Sowjetunion die internationale Zusammenarbeit störe, sank Norwegens Stimmungsbarometer. Das Veto wurde zur Zwangsvorstellung. Mit der Gleichschaltung der Tschechoslowakei, der Björnson im norwegischen Volk Sympathien verschafft hat, wurden auch letzte Illusionen zerstört.

Aus den Erkenntnissen zog der Norweger Konsequenzen: Vertiefung der skandinavischen Zusammenarbeit, auch auf militärischem Gebiet, hieß die eine und engster Anschluß dieser Länder an Westeuropa die andere.

International dürfte Norwegen diese Linie nunmehr strikt verfolgen, während früher bei UNO-Kampfabstimmungen das Ja und Nein fast turnusmäßig wechselte, oft selbst in der Griechenlandfrage — zum Mißvergnügen größerer Bevölkerungsteile. Eine weitgehendere endgültige Festlegung — falls nicht gesamt-skandinavisch, dann eben isoliert — kann mit ziemlicher Sicherheit vorausgesagt werden. Schließlich ist Norwegens Regierung, die hauptsächlich aus Widerstandskämpfern besteht, die generationsmäßig jüngste und darum vielleicht auch aktivste in der Geschichte dieses Landes.

Man will sich jedoch nicht nur auf kommende Bündnisse verlassen, vielmehr an erster Stelle auf die eigene Verteidigung. Jens Hauges Lieblingskind ist eine große, gut vorbereitete und im Moment mobilisierungsfähige Heimwehr, die die reguläre Armee ergänzen soll. Teils besteht sie aus Dienstpflichtigen, teils aus Freiwilligen. Mit Genugtuung stellt er fest, daß die Zahl der Freiwilligenmeldungen auch kühnste Erwartungen bei weitem übertrifft. Nach Schweizer Muster nimmt der Heimwehrmann seine Waffen mit nach Hause. Man erwartet daraus eine erhöhte Einsatzbereitschaft bei Überraschungen.

Die Stellungnahme Dänemarks liegt zwischen der schwedischen und norwegischen. Man möchte nicht ganz so stark gebunden sein, wie es Norwegen beabsichtigt, und auch nicht sowenig wie Schweden. Im Kriege empfand das dänische Volk neben seiner alten Liebe für England auch starke neue Sympathien für Rußland. Die überraschende Besetzung Bornholms wurde aber als Schock empfunden, von dem man sich auch nach dem Abzug nicht erholte.

Hans Hedtoft, der neue sozialdemokratische Ministerpräsident, ist ein leidenschaftlicher Kommunistengegner, der mir gegenüber jeden Kommunisten als potentiellen Quisling bezeichnete. Mit dem Westen wünscht er Freundschaft, mit Rußland ein korrektes Verhältnis. Für Dänemark ist die gesamte Wehrfrage eine mehr moralische. Vor dem Kriege betrachtete man dort jede Verteidigung des Landes als hoffnungslos. Wahrscheinlich war der dänische Verteidigungsminister der einzige in der Welt, der eine Kürzung seines eigenen Etats beantragte. Später, nach den tragischen Aprilereignissen, überzeugte man sich davon, daß auch ein kleines Volk Abwehrmöglichkeiten besitzt und durch militante Sabotage selbst einem übermächtigen Gegner Schaden zufügen kann.

Scavenius, der dänische Anpassungsministerpräsident der Hitlerzeit, beruft sich darauf, daß es seiner Politik ohne Preisgabe wirklicher ideologischer Werte gelungen sei, Dänemark vor der Verwüstung zu bewahren, so daß es den Krieg praktisch unversehrt überdauerte. Nur wenige Dänen sind ihm jedoch dafür dankbar. Die sehr erfolgreiche Widerstandsbewegung war eine wahrhaft nationale Angelegenheit und gebar auch einen neuen Geist. So vertritt vor allem Dänemarks junge Generation den Standpunkt, sie hätte eine noch so hoffnungslose Verteidigung am 9. April der Kapitulation unter Protest vorgezogen. Die moralische Kraft solcher Haltung bedeutet ihr mehr als die sichtbaren Vorteile der leistungsfähig gebliebenen Industrie und Landwirtschaft.

Niemand in Dänemark zweifelt daran, daß der Roten Armee im Ernstfälle eine rasche Invasion dieses kleinen Landes, das durch keine Berge und natürlichen Grenzen geschützt ist, glücken würde. Dennoch ist man weit von Resignation entfernt. Die dänische Verteidigung hat aufgehört, das Stiefkind des Staatshaushaltes zu sein. Auch hier ist ein zweiter 9. April kaum denkbar.

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