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Idyll mit Fragezeichen

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Die kleinen Länder Nordeuropas liegen, nach Auffassung mancher Beobachter, weitab von den Brennpunkten des politischen Geschehens und führen dort ein beschauliches, von großen Problemen verschontes Dasein. Junge Menschen aus anderen Ländern suchen im Norden Abenteuer und ein hohes Einkommen oder auch nur Romantik und das verlorengegangene Idyll. Sie finden weder das eine noch das andere! Auch durch die Länder des Nordens pulsiert die Unruhe und die Angst dieser fiebergeschüttelten Zeit; der menschenarme Norden ist längst zu einem Idyll mit Fragezeichen geworden!

Das Geschehen von Dallas erschütterte zutiefst die Öffentlichkeit in den skandinavischen Ländern und die Nachricht von Kennedys Tod griff wie mit eiskalten Fingern nach dem einzelnen Menschen. Alles war plötzlich wieder fragwürdig geworden, viele Hoffnungen waren gestorben. Das politische Leben erschien tagelang wie gelähmt. Die Zeitungen brachten Tag für Tag viele Seiten Berichte aus den USA. Der Norden trauerte um diesen amerikanischen Präsidenten, als wäre es einer seiner Söhne.

Diese riesige äußere Anstrengung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß man dabei auf merkwürdige Weise an der Oberfläche haften blieb: Die brennende Frage nach den Hintergründen des Geschehens blieb unausgesprochen. Niemand im Norden liebt die Beschäftigung mit explosivem Material. Das ist auch einer der Gründe dafür, daß man in dem so freiheitsliebenden Norden die großen Volksvertreibungen zu Ende des zweiten Weltkrieges niemals zur Kenntnis genommen, geschweige denn klar verurteilt hat. So wurden auch in den Tagen nach Dallas die scharfen Zungen plötzlich stumm und die spitzen Federn schienen stumpf geworden: Sachte, sachte schlürfte man in Filzpantoffeln durch die ersten Tage des Jahres eins nach Kennedy!

Der Grund dafür liegt natürlich darin, daß man in einem möglicherweise kommenden Kampf um erste Führungspositionen in der Welt nicht Partei ergreifen wollte. Man versicherte Johnson sein Vertrauen, doch noch in Washington kamen die Staatsminister der nordischen Länder überein, daß man sich nun ernstlich auf den Besuch Chruschtschows einstellen müsse. Konnte es dabei zu einem Gipfeltreffen auf skandinavischem Boden kommen, dann um so besser! Man war bemüht, seine Position zwischen den beiden Machtblöcken so deutlich als möglich zu unterstreichen.

Auch die NATO ist nach dem 22. November nicht mehr dieselbe, die sie vorher war. Es ist kein Geheimnis, daß in Norwegen und Dänemark die Gegner des Atlantischen Bündnisses an Boden gewinnen. In Oslo wurde die Regierung Gerhardsen von den entschiedensten Gegnern der NATO vorübergehend ausgeschaltet. Es gibt jedoch Feinde dieses Militärbündnisses In allen norwegischen Parteien,“ auch in der Arbeiterpartei. In Dänemark lehnen zwei Parteien mit zusammen 22 Mandaten im Parlament und etwa 300.000 Wählern die Beteiligung an der NATO ab. Eine dieser Parteien ist in der Regierung; auf die zweite, die Sozialistische Volkspartei, wird sich eine Regierung Krag nach den nächsten Wahlen möglicherweise stützen müssen.

Dazu kommt die verhängnisvolle Wirkung der EWG-Politik, die — in ihrer jetzigen Form — eine schwere Bedrohung des dänischen, schwedischen und norwegischen Handels bedeutet. In Kopenhagen sagt man immer deutlicher, daß eine politische und militärische Zusammenarbeit in Europa unmöglich wird, wenn die Länder des Gemeinsamen Marktes gegenüber den kleinen Verbündeten im Norden eine rücksichtslose Wirtschaftspolitik führen. Ende Oktober betrug das Außenhandelsdefizit Schwedens bereits 962 Millionen Kronen (im Vorjahr 738 Millionen Kronen). Der Warenaustausch mit der EWG brachte bis zu diesem Zeitpunkt einen Unterschuß von 1057 Millionen Kronen. Dänemarks Unterschuß lag Ende Oktober bei 1500 Millionen dKr. Finnland steht mitten in einer Regierungskrise, die ihre Hauptursache in einer zu geringen Ausfuhr und im Kapitalmangel hat. Norwegens Schiffahrt hat Schiffsbestellungen im Werte von 6,2 Milliarden Kronen an das Ausland gegeben und steht noch vor anderen hohen Investitionen, die von den Erträgnissen des Außenhandels bezahlt werden sollen. Ist es ein Wunder, daß man in diesen Ländern mit zunehmender Nervosität auf eine Europapolitik blickt, die das Wirtschaftsleben und schließlich auch die politische Stabilität in diesen Ländern gefährden muß?

In den letzten Monaten konnten Länder des Ostblocks bei ihren Bemühungen um engere wirtschaftliche und kulturelle Kontakte zu den nordischen Ländern beachtenswerte Erfolge erzielen. Niemand im Norden sehnt sich darnach, in der Umarmung des großen Bären aus dem Osten zu ersticken, doch eine Politik, die eine solche Umarmung erleichtert, bereitet auch im Lande Idyllien große Sorgen!

Die starke Intensivierung des Osthandels der skandinavischen Länder wird sonderbarerweise außerhalb des Nordens kaum beachtet, möglicherweise deshalb nieht, weil man fühlt, daß man an dieser Entwicklung selbst einen Teil Schuld trägt. Dänemark hat kürzlich in Moskau ein Abkommen unterzeichnet, das eine Erhöhung des dänischen Exportes in die Sowjetunion um 35 bis 40 Prozent vorsieht. Der Export von kompletten Industrieanlagen und Produktionsmaschinen überhaupt nimmt dabei einen wichtigen Platz ein. Haekkorup bezeichnete nach seiner Rückkehr aus Moskau dieses Abkommen als das beste Kommunique einer Konferenz, das man Bich vorstellen könne. Inzwischen wurde bekannt, daß Dänemark beim Aufbau der sowjetischen Hochseefischerei und der Fischereiindustrie wichtigste Aufgaben übernommen hat. Dänemark wird auf eigenen Werften fünf große schwimmende Fischereifabriken, die zugleich als Versorgungsschiffe für eine Flotte kleinerer Schiffe dienen können, bauen und den Bau von weiteren sechs Schiffen auf polnischen Werften durch den Verkauf der Lizenzen und die Lieferung der sechszylindri-gen Dieselmotoren von je 6540 PS möglich machen. Jedes der Schiffe nthält komplette Verarbeitungsund Kühlanlagen, Bibliotheken, einen Kinosaal und ein Lazarett für die Besatzungen der Fischereiflotte.

Auch der Handel Dänemarks mit Ostdeutschland soll im Jahre 1964 um 25 Prozent gegenüber 1963 erhöht werden. Für Dänemark ist dabei besonders wichtig, daß Ostdeutschland für 60 Millionen Kronen Fleischprodukte und für 40 Millionen Kronen Produkte der übrigen Lebensmittelindustrie abnehmen will. Weitere Verhandlungen finden zur Zeit mit Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und Rumänien statt. Es ist auch bezeichnend, daß nun auf der berühmten dänischen Atomforschungsstation Risö zum erstenmal Forscher aus China zu einem längeren Studienbesuch entgegengenommen werden sollen. Die Entwicklung in Dänemark ist natürlich deshalb so interessant, weil die Entwicklung auf dem Europamarkt gerade dieses Land mit umfassenden Verlusten bedroht. Die Bedrohung Schwedens liegt dagegen in der Hauptsache in | der Auswanderung seiner außenhandelsempfindlichen Industrie, die bedrohliche Ausmaße anzunehmen beginnt. Allein in Holland haben nun schon 55 schwedische Großunternehmen Filialen oder Tochtergesellschaften gegründet. Sie erzeugen dort u. a. Auto-karosserien, Lastwagen, elektrische Apparate, Produktionsmaschinen,Radiatoren, pharmazeutische Produkte, Kugellager, Molkereimaschinen, Textilien und Streichhölzer. Alle diese Dinge brauchen nun von Schweden nicht mehr exportiert werden. Schweden exportierte nach Holland im Jahre 1962 für 825 Millionen Kronen, im ersten Halbjahr 1963 waren es nur noch 342 Millionen! Dazu kommen Investitionen in Belgien, Deutschland und Italien. In immer rascheren Tempo gerät Schwedens Außenhandel in eine kritische Situation!

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